Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 02.09.2009, Az. 1 StR 260/09

1. Strafsenat | REWIS RS 2009, 1898

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BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 1 StR 260/09 vom 2. September 2009 in der Strafsache gegen 1. 2. wegen Betruges hier: Anfrage gemäß § 132 Abs. 3 [X.] - 2 - Der 1. Strafsenat des [X.] hat am 2. September 2009 beschlos-sen: 1. Der Senat beabsichtigt zu entscheiden: Liegen einem Angeklagten zahlreiche Vermögensdelikte zur Last, die einem einheitlichen modus operandi folgen, genügt der konkrete [X.] den Anforderungen des § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO und des § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO, wenn dort - neben der Schilderung der gleichartigen Tatausführung, die die Merkmale des jeweiligen Straftatbestandes erfüllt - die [X.]e, die Gesamtzahl der Taten, der Tatzeitraum und der Gesamtschaden bezeichnet werden und im wesentlichen Er-gebnis der Ermittlungen der Anklage oder einer Anlage zur Anklage die Einzelheiten der Taten, d.h. die konkreten [X.], die Tatopfer und die jeweiligen [X.], de-tailliert beschrieben sind. 2. Der Senat fragt bei den übrigen Strafsenaten an, ob an [X.] entgegenstehender Rechtsprechung festgehalten wird. Gründe: 1. Das [X.] hat den Angeklagten [X.]wegen Betruges in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und den Angeklagten [X.]wegen Betruges in 369 Fällen 1 - 3 - zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wenden sich die Angeklagten mit ihren Revisionen, mit denen sie die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügen. 2. Der Senat möchte die Revisionen - dem Beschlussantrag des [X.] folgend - verwerfen. Während er die Sachrüge und die sons-tigen Verfahrensrügen für unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO erach-tet, kann er über die auf Verletzung des § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO gestützten Verfahrensrügen, die er ebenfalls für unbegründet hält, nicht ohne Anfrage ge-mäß § 132 Abs. 2 und 3 [X.] entscheiden. 2 Mit den im Wesentlichen inhaltsgleichen [X.] beanstanden die Revisi-onen, dass der in der Hauptverhandlung verlesene [X.] keine ausrei-chende Konkretisierung der einzelnen Tatvorwürfe und Tatumstände enthalte und daher nicht den Anforderungen des § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO genüge. In-soweit sei zwar kein die Umgrenzungsfunktion berührender Mangel der [X.] gegeben, indes genüge die Anklage nicht der Informationsfunktion. 3 Der Rüge liegt folgender Sachverhalt zu Grunde: 4 Den Angeklagten [X.]und [X.][X.] wurde mit Anklage der Staatsanwaltschaft [X.] vom 22. Juli 2008 in einem als —Komplex Ifi bezeichneten Unterabschnitt gemeinschaftlich begangener ge-werbsmäßiger Betrug zur Last gelegt; dem Angeklagten [X.]hierbei in 1.398 Fällen, davon in 1.335 Fällen vollendet und in 63 Fällen versucht, und dem Angeklagten [X.]in 376 Fällen, davon in 372 Fällen vollendet und in vier Fällen versucht. 5 - 4 - Im konkreten [X.] wird hinsichtlich des Angeklagten [X.] unter der Überschrift —[X.] zunächst geschildert, wie der Angeklagte im Tatzeitraum ein Firmenkonglomerat geschaffen habe, dessen alleiniger Zweck darin bestand, nach der sog. —[X.] Maschefi in betrügerischer Weise Anzei-geaufträge einzuwerben. Daran schließt sich die Schilderung der generellen Vorgehensweise des Angeklagten bei den - einem einheitlichen [X.] und -system folgenden - Taten an. Zuletzt wird im konkreten [X.] die Zahl der [X.] und die Gesamtschadenssumme differenziert danach, ob es sich um vollendete oder versuchte Taten handelte, angegeben. Die Konkretisie-rung der [X.] nach [X.], [X.], [X.], Tatzeit und [X.] erfolgt in mehreren Tabellen, die als Anlagen 1.1 bis 1.3 zum [X.] Ergebnis der Ermittlungen genommen wurden und insgesamt 102 Seiten umfassen. 6 Hinsichtlich des Angeklagten A.

[X.] , bei dem es sich um einen Mitarbeiter der Firmen des Angeklagten [X.] handelte, der als Vermittler der Anzeigenaufträge tätig war, wird im konkreten [X.] unter der Überschrift —[X.] die betrügerische Anwerbung von Kunden [X.], die einem vom Angeklagten [X.] vorgegebenen, einheitli-chen [X.] folgt. Auch hier wird daran anschließend die Zahl der [X.] und die Gesamtschadenssumme differenziert danach, ob es sich um vollendete oder versuchte Taten handelte, angegeben. Die weitergehende Konkretisierung der [X.] erfolgt in einer Tabelle, die als Anlage 3 zum wesentlichen Er-gebnis der Ermittlungen genommen wurde und ihrerseits auf die Anlage 1.1 bis 1.3 verweist. 7 Sowohl im Original der Anklage als auch in den Anlagen, die den Schöf-fen ausgehändigt wurden, fehlten einzelne Seiten der Tabellen. Soweit auf-8 - 5 - grund dieses Versehens einzelne Taten nicht in der zugelassenen Anklage an-geführt waren, beabsichtigt der Senat, das Verfahren teilweise einzustellen bzw. die Verfolgung nach § 154a Abs. 2 StPO zu beschränken. Am ersten Verhandlungstag der Hauptverhandlung wurde die unverän-dert zugelassene Anklage verlesen. Eine Verlesung der Anlagen zum wesentli-chen Ergebnis der Ermittlungen, in denen die Einzelheiten der Taten in der o.g. Weise näher konkretisiert wurden, erfolgte demgegenüber nicht. Die Schöffen erhielten im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung zunächst am [X.] eine Kopie der Anlagen 1.1 und 1.3, die den Angeklagten [X.] betrafen, und am dritten Verhandlungstag eine Kopie der Anlage 3, die die [X.] des Angeklagten A.

[X.] zum [X.] hatten. 9 Hinsichtlich der Anlagen 1.1 bis 1.3 wurde durch den Vorsitzenden am ersten Verhandlungstag bekannt gegeben, dass diese gemäß § 249 Abs. 2 StPO in die Hauptverhandlung eingeführt werden sollen. Nach dem Vortrag der Revision erfolgte eine Kenntnisnahme der Anlagen durch das Gericht aber zu keiner Zeit; entsprechende Feststellungen finden sich auch nicht im Protokoll. Hinsichtlich der Anlage 3 zum wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen wurde am fünften Verhandlungstag festgestellt, dass die [X.] und die Schöffen vom Wortlaut der Anlage im Selbstleseverfahren, das insoweit am dritten [X.] angeordnet worden war, Kenntnis genommen haben. 10 3. Der Senat ist der Auffassung, dass die vorstehend geschilderte [X.] des konkreten [X.]es und dessen Verlesung den Vorgaben der § 200 Abs. 1 Satz 1, § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO genügt. 11 - 6 - Der nach § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO zu verlesende [X.] muss nach § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO die Tat, die dem Angeschuldigten zur Last ge-legt wird, Zeit und Ort ihrer Begehung, die gesetzlichen Merkmale der Straftat und die anzuwendenden Strafvorschriften bezeichnen. 12 Die Anklage hat danach die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat sowie Zeit und Ort ihrer Begehung so genau zu bezeichnen, dass die Identität des geschichtlichen Vorgangs klargestellt und erkennbar wird, welche bestimmte Tat gemeint ist; sie muss sich von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen desselben [X.] unterscheiden lassen. Es darf nicht unklar bleiben, über wel-chen Sachverhalt das Gericht nach dem Willen der Staatsanwaltschaft urteilen soll (Umgrenzungsfunktion, vgl. BGHSt 40, 390, 392). Übertriebene [X.] dürfen an die Konkretisierung der Tat aber nicht gestellt werden. Zur Verdeutlichung und ergänzenden Erläuterung des [X.]es darf deshalb auf das wesentliche Ermittlungsergebnis zurückgegriffen werden (BGHSt 46, 130, 134; [X.], 656, 657). Darüber hinaus hat die Anklage auch die Aufgabe, den Angeklagten und die übrigen Verfahrensbeteiligten über weitere Einzelheiten des Vorwurfs zu unterrichten, um ihnen Gelegenheit zu geben, ihr Prozessverhalten auf den mit der Anklage erhobenen Vorwurf einzustellen (In-formationsfunktion, vgl. BGHSt 40, 44, 47 f.). 13 In Fallgestaltungen der vorliegenden Art - Vielzahl gleichartiger Wirt-schaftsstraftaten, namentlich Betrugstaten - genügt der [X.] nach [X.] des Senats (vgl. NJW 2008, 2131) regelmäßig dann sowohl der [X.] als auch der Informationsfunktion, wenn über die Angabe der Zahl der Taten, des Gesamtschadens und des gesamten Tatzeitraums hinaus die gleichartigen Taten gruppiert bezeichnet werden und wenn die Einzelheiten 14 - 7 - im wesentlichen Ermittlungsergebnis detailliert (etwa tabellarisch) aufgelistet werden. Die Gruppierung kann die den jeweiligen Angeklagten betreffenden Ta-ten nach dem gruppenspezifischen modus operandi, Zeitraum, [X.] (in Form des räumlichen Bereichs) und den [X.] (höchster und geringster Einzelschaden sowie durchschnittlicher Tatschaden) zusammenfassen. Die An-gabe der Zahl der Tatopfer reicht aus, wenn sich deren Individualisierung und die sie und den jeweiligen Angeklagten betreffenden Taten aus dem wesentli-chen Ermittlungsergebnis unverwechselbar ergeben. 15 Eine solchermaßen gruppierte Darstellung genügt nicht nur der [X.] und Informationsfunktion des [X.]es, sie wird beiden Funktionen bei der Verlesung in der Hauptverhandlung eher gerecht als das stunden- (und manchmal) tagelange Vorlesen hunderter, zuweilen tausender von [X.], bei dem die Aufmerksamkeit der Verfahrensbeteiligten und der [X.] regelmäßig rasch erlahmt. Die monoton wirkende Verlesung eines Ankla-gesatzes, der alle individualisierenden Daten der [X.] umfasst, bewirkt allenfalls dessen akustische Wahrnehmung, nicht aber seine Aufnahme oder ein intellektuelles Verarbeiten durch die Zuhörer. Der Zweck, der mit der Verle-sung des [X.]es nach § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO verbunden wird, gebie-tet aber, den konkreten [X.] so zu fassen, dass er bei Verlesung in der Hauptverhandlung für alle Verfahrensbeteiligte sowie die Öffentlichkeit ver-ständlich und erfassbar ist (vgl. auch Nr. 110 Abs. 1 [X.], im Ansatz ebenso [X.] in [X.], 2008, [X.], 111 f.). Der Informationsgehalt einer gruppierten Darstellung ist in Fällen der vorliegenden Art indes weitaus höher als der einer ungeordneten, allenfalls chronologischen Auflistung der Einzelta-16 - 8 - ten. Die für die Beurteilung der Sachverhalte maßgeblichen Gesichtspunkte können schneller erfasst und bewertet werden. Der Senat beabsichtigt daher tragend zu entscheiden, dass dann, wenn einem Angeklagten mehrere Vermögensdelikte zur Last liegen, die einem ein-heitlichen modus operandi folgen, der konkrete [X.] sowohl der [X.] als auch der Informationsfunktion und somit § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO, § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO genügt, wenn dort - neben der Schilderung der gleichartigen Tatausführung, die die Merkmale des jeweiligen Straftatbestandes erfüllt - die [X.]e, die Gesamtzahl der Taten, der Tatzeitraum und der [X.] bezeichnet werden und im wesentlichen Ergebnis der Ermittlun-gen der Anklage oder einer Anlage zur Anklage die Einzelheiten der einzelnen Taten, d.h. die konkreten Tatzeitpunkte, die Tatopfer und die jeweiligen Einzel-schäden, detailliert beschrieben sind. 17 4. Einer solchen Entscheidung könnte das Urteil des 2. Strafsenats vom 28. April 2006 in dem Verfahren 2 StR 174/05 entgegenstehen. Der [X.] hat dort entschieden, dass der in der Hauptverhandlung verlesene [X.] keine ausreichende Konkretisierung der einzelnen Tatvorwürfe und Tatum-stände enthalte, wenn er allgemein den [X.] und die Tatausführung [X.], die weiteren Einzelheiten der Taten aber erst im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen enthalten seien, das nach § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO nicht verlesen wurde. Die Anklageschrift weise dann sachliche Lücken auf. Diese würden zwar kein Verfahrenshindernis begründen, da die Anklage die Umgrenzungsfunktion noch hinreichend erfülle, weil der Angeklagte die einzelnen Tatvorwürfe dem wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen entnehmen kann. Indes würde eine so gefasste Anklageschrift der Informationsfunktion der Anklage nicht gerecht, da bei einer Serie von Straftaten erforderlich ist, die dem Angeklagten im [X.] - 9 - nen vorgeworfenen Tathandlungen nach Tatzeit, [X.], Tatausführung und an-deren individualisierenden Merkmalen ausreichend zu beschreiben und darzu-legen. Nur so könne dem Zweck der Verlesung des [X.]es (§ 243 Abs. 3 Satz 1 StPO) entsprochen werden, diejenigen [X.], denen der Inhalt der Anklage noch nicht bekannt ist, sowie die Öffentlichkeit darüber zu unterrichten, auf welchen geschichtlichen Vorgang sich das Verfahren bezieht. Dadurch solle ermöglicht werden während der ganzen Verhandlung das Augenmerk auf die Umstände zu richten, auf die es in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht an-kommt. Lediglich in Ausnahmefällen könne es der Verhandlungsverlauf trotz mangelhaftem oder überhaupt nicht verlesenem [X.] allen [X.] gestatten, den Tatvorwurf im erforderlichen Umfang zu erfassen und ihre Prozessführung entsprechend einzurichten. Dies sei dann der Fall, wenn die Sach- und Rechtslage einfach und überschaubar ist oder wenn die [X.] auf andere Weise über den [X.] des Verfahrens unter-richtet worden sind. Ein solcher Ausnahmefall läge aber gerade bei umfangrei-chen Verfahren, die eine Vielzahl von [X.] zum Gegenstand haben, nicht vor. Vergleichbare Entscheidungen anderer Strafsenate sind dem Senat nicht bekannt. Es erscheint ihm gleichwohl nicht gesichert, dass solche nicht ergan-gen sind. 19 - 10 - Der Senat fragt daher vorsorglich bei sämtlichen Strafsenaten an, ob an möglicherweise entgegenstehender Rechtsprechung festgehalten wird. 20 [X.]Wahl Kolz [X.] [X.]

Meta

1 StR 260/09

02.09.2009

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 02.09.2009, Az. 1 StR 260/09 (REWIS RS 2009, 1898)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2009, 1898

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