Bundesfinanzhof, Urteil vom 19.01.2017, Az. III R 31/15

3. Senat | REWIS RS 2017, 17115

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Gegenstand

Zuständigkeit der Familienkassen für Auslandsfälle


Leitsatz

1. Die Familienkassen der Bundesagentur für Arbeit sind --außer in den Fällen des § 72 EStG-- für den Familienleistungsausgleich sachlich zuständig. Die Familienkasse Sachsen ist örtlich zuständig, wenn ein "Anspruchsberechtigter oder anderer Elternteil bzw. ein anspruchsbegründendes Kind ... ihren Wohnsitz ... in Polen" haben.

2. Hat eine örtlich unzuständige Familienkasse den Antrag auf Kindergeld abgelehnt, kann sie auf den Einspruch hin entweder ihren Ablehnungsbescheid aufheben und den Antrag an die örtlich zuständige Familienkasse weiterleiten oder die Entscheidung über den Einspruch der zuständigen Familienkasse überlassen.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 23. April 2015  3 K 3006/15 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Tatbestand

I.

1

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) wohnt ausschließlich in [X.] und ist dort seit Oktober 2013 versicherungspflichtig beschäftigt; ihren früheren Wohnsitz in [X.] hat sie aufgegeben. Von ihrem Ehemann, der in [X.] wohnt, wurde sie mit Urteil eines [X.] Bezirksgerichts vom 16. Januar 2013 rechtskräftig geschieden. Die im Jahr 1991 geborene gemeinsame Tochter lebt bei dem geschiedenen Ehemann und studierte im Studienjahr 2013/2014 an der [X.] ([X.]). Die Klägerin bezieht in [X.] keine Familienleistungen.

2

Der von der Klägerin am 9. Januar 2014 bei der Familienkasse [X.]-Brandenburg gestellte "Antrag auf [X.] Kindergeld – Ausland" für ihre Tochter wurde von dieser durch Bescheid vom 1. Juli 2014 mit Wirkung ab Oktober 2013 abgelehnt, weil das Kindergeld dem Vater zustehe; der Kindesvater könne Kindergeld bei der Beklagten und Revisionsklägerin ([X.]) beantragen.

3

Ihren Einspruch begründete die Klägerin u.a. mit Bedenken gegen die Zuständigkeit der Familienkasse [X.]-Brandenburg. Die beklagte [X.] zog den Kindesvater zum Verfahren hinzu und wies den Einspruch gegen den Ablehnungsbescheid sodann als unbegründet zurück.

4

Die Bearbeitung des Einspruchs durch die [X.] beruhte darauf, dass eine Mitarbeiterin der [X.] der Familienkasse [X.]-Brandenburg von August 2014 bis Dezember 2014 zusätzlich für die [X.] tätig war. Nach damaliger Weisungslage hatten die "ursprünglichen" Familienkassen den Sachverhalt im Rechtsbehelfsverfahren aufzuklären und die Rechtsbehelfsverfahren danach mit einem Entscheidungsvorschlag an die [X.] abzugeben. Die Familienkasse [X.]-Brandenburg stellte dementsprechend fest, dass dem Einspruch nicht abgeholfen werden könne und die dazu erforderliche Einspruchsentscheidung durch die [X.] zu erfolgen habe. Am 17. September 2014 wurde das Verfahren unter der Zuständigkeit der [X.] neu erfasst und für die [X.] weiter bearbeitet.

5

Am 5. Januar 2015 erhob die Klägerin Klage gegen die [X.], zunächst mit dem Antrag, diese zu verpflichten, Kindergeld für die Tochter ab Oktober 2013 zu gewähren.

6

Nach einem rechtlichen Hinweis des Berichterstatters des Finanzgerichts ([X.]) beantragte die Klägerin stattdessen die Aufhebung der Einspruchsentscheidung.

7

Das [X.] gab der Klage statt (Entscheidungen der Finanzgerichte --E[X.]-- 2015, 1412). Es entschied, die Klägerin habe ein Rechtsschutzinteresse an der isolierten Aufhebung der Einspruchsentscheidung. Der Ablehnungsbescheid der Familienkasse [X.]-Brandenburg regele lediglich, dass die Klägerin gegen diese keinen Anspruch auf Kindergeld habe; über Ansprüche gegen andere Kindergeldkassen treffe der Bescheid keine Aussage. Die Einspruchsentscheidung bestätige lediglich diese Ausgangsentscheidung. Die Klägerin müsse daher bei der [X.] einen neuen [X.] stellen. Insoweit gehe aber von der Einspruchsentscheidung der Rechtsschein aus, dass kein Kindergeldanspruch gegen die [X.] bestehe.

8

Die Einspruchsentscheidung sei wegen sachlicher --nicht örtlicher-- Unzuständigkeit der [X.] rechtswidrig, da diese den Ausgangsbescheid nicht erlassen habe (§ 367 Abs. 1 der Abgabenordnung --AO--). Nach dem Erlass des [X.] sei auch kein Zuständigkeitswechsel eingetreten (§ 367 Abs. 1 Satz 2 AO). Die Zuständigkeit der [X.] ergebe sich auch nicht daraus, dass sie für die Ausgangsentscheidung zuständig gewesen wäre.

9

Die [X.] rügt die Verletzung materiellen Rechts. Sie beantragt,
das [X.]-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung des [X.] und zur Abweisung der auf Aufhebung der Einspruchsentscheidung gerichteten Klage. Die beklagte [X.] war für die Entscheidung über den Einspruch der Klägerin zuständig und hat auch zu Recht entschieden, dass das Kindergeld für die Tochter nicht der Klägerin, sondern vorrangig dem Vater zusteht.

1. Die [X.] war für die Entscheidung über den Kindergeldanspruch der Klägerin sachlich und örtlich zuständig.

a) Die sachliche Zuständigkeit der Finanzbehörden richtet sich, soweit nichts anderes bestimmt ist, gemäß § 16 [X.] nach dem Gesetz über die Finanzverwaltung ([X.]). Nach § 5 Abs. 1 Nr. 11 [X.] hat das [X.] die Aufgabe, den [X.] nach Maßgabe der §§ 31, 62 bis 78 des Einkommensteuergesetzes (EStG) durchzuführen. Dazu stellt die [X.] ([X.]) ihre Dienststellen als Familienkasse zur Verfügung. Diese Dienststellen sind somit sachlich zuständig, soweit nicht ausnahmsweise gemäß § 72 EStG eine Körperschaft, Anstalt oder [X.] oder die [X.], [X.] oder [X.] als Familienkasse das Kindergeld an Angehörige des öffentlichen Dienstes festzusetzen und zu zahlen haben (vgl. Senatsbeschluss vom 28. Dezember 2006 III B 91/05, [X.] 2007, 864). Davon geht auch die Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz ([X.]) 2014 aus (unter V 1.1.).

b) Der Vorstand der [X.] kann aufgrund der [X.] des § 5 Abs. 1 Nr. 11 Satz 4 [X.] (dazu Schmieszek in [X.]/[X.]/[X.] --[X.]--, § 5 [X.] Rz 122) "innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs abweichend von den Vorschriften der Abgabenordnung über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte ... Gruppen von Berechtigten einer anderen Familienkasse übertragen". Daraus ergibt sich, dass es sich bei der Zuständigkeit der [X.] für Fälle, in denen ein "Anspruchsberechtigter oder anderer Elternteil bzw. ein anspruchsbegründendes Kind ... ihren Wohnsitz ... in [X.]" haben (Beschluss des Vorstands der [X.] Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 [X.], Amtliche Nachrichten der [X.], Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2 der Anlage 2; dazu Senatsurteil vom 16. Mai 2013 III R 8/11, [X.], 511, [X.], 1040), um eine örtliche Zuständigkeit handelt (ebenso [X.] 2014, unter V 2 Örtliche Zuständigkeit).

Sachlich zuständig waren somit die Familienkassen der [X.], d.h. sowohl die Familienkasse [X.] als auch die [X.], örtlich zuständig indessen nur die [X.].

2. Die Einspruchsentscheidung der [X.] ist nicht allein deshalb aufzuheben, weil der Ablehnungsbescheid von der örtlich unzuständigen Familienkasse [X.] erlassen worden war.

a) Dem Einspruch musste nicht wegen der örtlichen Unzuständigkeit der Familienkasse [X.] stattgegeben werden. Denn die Entscheidung über die Kindergeldfestsetzung (§ 70 EStG) ist ein gebundener Verwaltungsakt und unterliegt daher der Vorschrift des § 127 [X.] (Senatsurteil vom 19. April 2012 III R 85/11, [X.] 2012, 1411, Rz 11). Die Aufhebung des Bescheides des [X.] konnte daher nicht wegen der Verletzung der sich aus dem Beschluss des Vorstands der [X.] Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 [X.] ergebenden Regelung über die örtliche Zuständigkeit beansprucht werden, wenn keine anderen Rechtsfehler vorlagen (vgl. Senatsurteil vom 25. November 1988 III R 264/83, [X.] 1989, 690, Rz 18; [X.] in Tipke/[X.], Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 127 [X.] Rz 10; [X.] in [X.], § 127 [X.] Rz 30).

Der Ablehnungsbescheid war schließlich auch nicht allein dadurch nichtig, dass er durch die örtlich unzuständige Familienkasse [X.] erlassen wurde (§ 125 Abs. 3 Nr. 1 [X.]).

b) Die Einspruchsentscheidung ist auch nicht deshalb aufzuheben, weil sie nicht von der Ausgangsbehörde getroffen wurde.

aa) Über den Einspruch hat die Finanzbehörde zu entscheiden, die ihn erlassen hat, soweit nicht nachträglich eine andere Behörde zuständig geworden ist (§ 367 Abs. 1 [X.]). Da die [X.] von Anfang an örtlich zuständig war und die Zuständigkeit somit nicht nachträglich gewechselt hat (vgl. [X.] in Tipke/[X.], a.a.[X.], § 367 [X.] Rz 4), hätte nach dem Wortlaut des § 367 Abs. 1 Satz 1 [X.] die Familienkasse [X.] den Einspruch bescheiden müssen. Im Einspruchsverfahren ist die Sache indessen gemäß § 367 Abs. 2 Satz 1 [X.] nochmals vollen Umfangs zu prüfen (Senatsurteil in [X.] 1989, 690, Rz 17). Diese Prüfung bezieht sich auch auf die sachliche und örtliche Zuständigkeit ([X.] in [X.], § 367 [X.] Rz 60). Im Rahmen dieser umfassenden Überprüfung hätte die Familienkasse [X.] angesichts ihrer fehlerhaften Beurteilung der örtlichen Zuständigkeit dem Einspruch abhelfen, den Ablehnungsbescheid aufheben und den Antrag der Klägerin zur Entscheidung an die [X.] weiterleiten können. Denn der Ablehnungsbescheid blieb rechtswidrig, da § 127 [X.] keine Heilungsvorschrift ist, sondern dem Adressaten lediglich den Anspruch auf Aufhebung des Verwaltungsaktes nimmt ([X.] in [X.], § 127 [X.] Rz 6, m.w.N.). Sie konnte stattdessen aber auch --wie geschehen-- die Entscheidung über den Einspruch der tatsächlich zuständigen [X.] überlassen (vgl. [X.] in [X.], § 367 [X.] Rz 61 f.).

bb) Die Auffassung des [X.], die Familienkasse [X.] habe nur einen gegen sie bestehenden Anspruch auf Kindergeld abgelehnt, trifft nicht zu. Die Ablehnung der Festsetzung von Kindergeld zu Gunsten der Klägerin regelt den Anspruch der Klägerin auf ([X.]) Kindergeld für ihre Tochter und stünde im Rahmen der sachlichen Zuständigkeit der [X.] der Festsetzung von Kindergeld durch eine andere Familienkasse (für den maßgeblichen Zeitraum) entgegen. Eine nur das Einspruchsverfahren gegen den von ihr erlassenen Ablehnungsbescheid betreffende Zuständigkeit der Familienkasse [X.] --anstelle der für den Kindergeldanspruch zuständigen [X.]-- kommt daher nicht in Betracht.

3. Die Einspruchsentscheidung ist auch nicht wegen materieller Rechtswidrigkeit aufzuheben. Die Klägerin kann kein Kindergeld für ihre beim geschiedenen Ehemann lebende Tochter beanspruchen, weil der geschiedene Ehemann vorrangig berechtigt ist. Zur Begründung verweist der Senat auf seine Urteile vom 4. Februar 2016 III R 17/13 ([X.], 134, [X.], 612) und vom 10. März 2016 III R 8/13 ([X.] 2016, 1164).

Im Streitfall gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass der geschiedene Ehemann nicht [X.] Staatsangehöriger, sondern nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer ist und daher für eine vorrangige Anspruchsberechtigung die Voraussetzungen i.S. des § 62 Abs. 2 EStG erfüllen müsste (Senatsurteil vom 7. Juli 2016 III R 11/13, [X.], 558, Rz 23). Nach den Feststellungen des [X.] besteht auch weder in [X.] --wo die Klägerin wohnt-- noch in [X.], wo ihr geschiedener Ehemann mit der Tochter zusammen lebt, ein gemeinsamer Haushalt der beiden Elternteile, in den das gemeinsame Kind aufgenommen ist. Die vorrangige Anspruchsberechtigung der Klägerin kann sich daher auch nicht nach § 64 Abs. 2 Sätze 2 bis 4 EStG richten (vgl. Senatsurteil vom 4. August 2016 III R 10/13, [X.], 46, [X.], 126, Rz 24). Unerheblich ist, ob der Kindesvater selbst einen Antrag auf ([X.]) Kindergeld gestellt hat (z.B. Senatsurteil vom 13. April 2016 III R 14/13, [X.] 2016, 1464).

4. [X.] beruht auf § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 1 [X.]O.

Meta

III R 31/15

19.01.2017

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 23. April 2015, Az: 3 K 3006/15, Urteil

§ 16 AO, § 125 Abs 3 Nr 1 AO, § 127 AO, § 367 Abs 1 AO, § 5 Abs 1 Nr 11 FVG, § 62 Abs 2 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 2 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 3 EStG 2009, § 64 Abs 2 S 4 EStG 2009, § 72 EStG 2009, EStG VZ 2013, EStG VZ 2014

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 19.01.2017, Az. III R 31/15 (REWIS RS 2017, 17115)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 17115

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