Bundesfinanzhof, Urteil vom 24.02.2010, Az. III R 100/07

3. Senat | REWIS RS 2010, 9003

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Gegenstand

(Kindergeld: Voraussetzungen für die Korrektur einer bestandskräftigen Prognoseentscheidung nach § 70 Abs. 4 EStG)


Leitsatz

1. NV: Hat die Familienkasse einen Kindergeldantrag bestandskräftig abgelehnt, weil die voraussichtlichen Einkünfte und Bezüge des Kindes den maßgeblichen Grenzbetrag überschritten, kann diese sog. Prognoseentscheidung nach § 70 Abs. 4 EStG nur korrigiert werden, wenn nachträglich bekannt wird, dass die tatsächlichen Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag unterschreiten. Eine Prognoseentscheidung, die allein deshalb rechtswidrig ist, weil die Familienkasse aufgrund fehlerhafter Auslegung der Begriffe "Einkünfte und Bezüge" die Sozialversicherungsbeiträge des Kindes nicht von den Einkünften abgezogen hat, ist nicht nach § 70 Abs. 4 EStG änderbar.

2. NV: Sind die tatsächlichen Einkünfte und Bezüge niedriger als in der Prognoseentscheidung angenommen, kommt eine Korrektur der Prognoseentscheidung nach § 70 Abs. 4 EStG nur in Betracht, wenn die Einkünfte und Bezüge allein aufgrund der geänderten tatsächlichen Beträge -z.B. wegen geringerer Einnahmen oder höherer Werbungskosten als in der Prognoseentscheidung angenommen- unter dem Jahresgrenzbetrag liegen.

3. NV: Nur wenn die ablehnende Prognoseentscheidung rechtmäßig war, weil der Jahresgrenzbetrag auch bei Abzug der Sozialversicherungsbeiträge überschritten gewesen wäre, kann die Prognoseentscheidung auch dann korrigiert werden, wenn die geänderten tatsächlichen Einkünfte und Bezüge nur im Zusammenwirken mit einer rechtmäßigen Auslegung der Begriffe "Einkünfte und Bezüge" (Abzug der Sozialversicherungsbeiträge) den Jahresgrenzbetrag unterschreiten.

Tatbestand

1

I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) hat einen im Jahr 1985 geborenen [X.] ([X.]), der im [X.]treitzeitraum (Januar 2004 bis [X.]eptember 2004) eine Ausbildung absolvierte.

2

Mit Bescheid vom 17. [X.]eptember 2004 lehnte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) den Antrag des [X.] auf Kindergeld für das [X.] ab, da die Einkünfte und Bezüge des [X.] in diesem Jahr voraussichtlich den maßgeblichen Grenzbetrag von 7.680 € (§ 32 Abs. 4 [X.]atz 2 des Einkommensteuergesetzes --E[X.]tG--) überstiegen. Die Familienkasse ging dabei von Einkünften in Höhe von 7.881,85 € aus ([X.] in Höhe von 9.144,85 € abzüglich Werbungskosten in Höhe von 1.263 €). Dieser Bescheid wurde nicht angefochten.

3

Als der Kläger im Januar 2005 erneut Kindergeld für das Kalenderjahr 2004 beantragte, gab er die Einnahmen des [X.] mit insgesamt 9.586,75 € und die Werbungskosten mit insgesamt 2.436,29 € an. Mit Bescheid vom 30. [X.]eptember 2005 lehnte die Familienkasse eine Änderung des Bescheids vom 17. [X.]eptember 2004 --mit Ausnahme der Monate von Oktober 2004 bis einschließlich Dezember 2004-- unter Hinweis auf dessen Bestandskraft ab. Den hiergegen eingelegten Einspruch wies die Familienkasse in ihrer Einspruchsentscheidung vom 1. Februar 2006 zurück mit der Begründung, der maßgebliche Grenzbetrag sei überschritten. Dabei ging die Familienkasse von Einkünften in Höhe von 7.999,81 € aus (Einnahmen des [X.] in Höhe von 9.655,31 € abzüglich Werbungskosten in Höhe von 1.655,50 €). Die Arbeitnehmerbeiträge zur [X.]ozialversicherung in Höhe von 2.002,59 € ließ sie bei dieser Berechnung außer Ansatz.

4

Das Finanzgericht ([X.]) gab der auf Festsetzung von Kindergeld für den Zeitraum ab Januar 2004 bis [X.]eptember 2004 gerichteten Verpflichtungsklage mit Urteil vom 3. [X.]eptember 2007  1 K 1007/06 (Entscheidungen der Finanzgerichte 2008, 797) statt. Es entschied, der Anwendungsbereich des § 70 Abs. 4 E[X.]tG sei eröffnet, weil sich tatsächliche Änderungen hinsichtlich der Einnahmen und der Werbungskosten des [X.] im Vergleich zu den prognostizierten Beträgen ergeben hätten. Die von der Familienkasse im Rahmen der Einspruchsentscheidung ermittelten Einkünfte und Bezüge des [X.] seien um die Arbeitnehmeranteile zur [X.]ozialversicherung zu mindern mit der Folge, dass der Jahresgrenzbetrag von 7.680 € unterschritten sei.

5

Mit ihrer Revision rügt die Familienkasse eine Verletzung des § 70 Abs. 4 E[X.]tG.

6

[X.]ie beantragt, das Urteil des [X.] aufzuheben und die Klage abzuweisen.

7

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

8

II. Die Revision ist begründet. [X.]ie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der [X.]ache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 [X.]atz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--).

9

1. Das [X.] ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Bescheid vom 17. [X.]eptember 2004, mit dem die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für die Monate Januar 2004 bis [X.]eptember 2004 ablehnte, bestandskräftig geworden ist.

Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 [X.]atz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 [X.]atz 2 E[X.]tG besteht für ein volljähriges Kind kein Anspruch auf Kindergeld, wenn das Kind Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von mehr als 7.680 € im Kalenderjahr (2004) hat.

Die Familienkasse hat mit dem Bescheid vom 17. [X.]eptember 2004 die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2004 abgelehnt, weil nach ihrer Berechnung die Einkünfte und Bezüge des Kindes im Kalenderjahr 2004 den [X.] voraussichtlich übersteigen würden. Dieser Bescheid ist bestandskräftig geworden. Die darin getroffene Regelung über den Kindergeldanspruch ist bindend bis zum Ende des Monats der Bekanntgabe dieses Bescheids, also bis Ende [X.]eptember 2004 (vgl. Urteil des [X.] vom 25. Juli 2001 [X.], [X.], 253, [X.], 88).

Die Bestandskraft des Bescheids vom 17. [X.]eptember 2004 wird durch den Beschluss des [X.] ([X.]) vom 11. Januar 2005  2 BvR 167/02 ([X.]E 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) nicht berührt. Das [X.] hatte entschieden, die Einbeziehung von [X.]ozialversicherungsbeiträgen des Kindes in die Bemessungsgröße für den [X.] gemäß § 32 Abs. 4 [X.]atz 2 E[X.]tG verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes ([X.]). Nach § 79 Abs. 2 [X.]atz 1 des Gesetzes über das [X.] ([X.]G) bleiben nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 [X.]G für nichtig erklärten Norm beruhen, grundsätzlich unberührt. Dies gilt analog, wenn das [X.] --wie im [X.] lediglich die Auslegung einer Norm für unvereinbar mit dem [X.] erklärt hat ([X.]enatsurteil vom 28. Juni 2006 [X.]/06, [X.], 287, [X.], 714, m.w.N.).

2. Ob der Ablehnungsbescheid nach § 70 Abs. 4 E[X.]tG geändert werden kann --wie das [X.] meint--, kann der [X.]enat auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen des [X.] nicht abschließend entscheiden.

Nach § 70 Abs. 4 E[X.]tG ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den [X.] nach § 32 Abs. 4 [X.]atz 2 E[X.]tG über- oder unterschreiten. Unter dem Begriff Kindergeldfestsetzung ist dabei auch ein Bescheid zu verstehen, mit dem ein Antrag auf Kindergeld abgelehnt wird ([X.]enatsurteil vom 10. Mai 2007 III R 103/06, [X.], 147, [X.], 549, m.w.N.).

Entgegen der Auffassung des [X.] ist der Anwendungsbereich des § 70 Abs. 4 E[X.]tG nicht schon dann eröffnet, wenn sich die tatsächlichen Einkünfte und Bezüge --z.B. wegen geringerer Einnahmen oder höherer Werbungskosten als in der Prognoseentscheidung angenommen-- geändert haben. War die Prognoseentscheidung --wie im [X.] rechtswidrig, weil die Einkünfte und Bezüge bei Berücksichtigung der [X.]ozialversicherungsbeiträge den [X.] unterschritten hätten, kann ein Ablehnungsbescheid nach § 70 Abs. 4 E[X.]tG nur geändert werden, wenn die Einkünfte und Bezüge allein aufgrund der geänderten tatsächlichen Beträge unter dem [X.] liegen. Andernfalls würde ein materieller Fehler der Familienkasse (Nichtberücksichtigung der [X.]ozialversicherungsbeiträge) rückwirkend berichtigt. Das widerspräche jedoch dem Zweck des § 70 Abs. 4 E[X.]tG und der gesetzgeberischen Wertung in § 70 Abs. 3 [X.]atz 2 E[X.]tG ([X.]enatsurteil vom 28. November 2006 [X.], [X.], 138, [X.], 717; [X.]enatsbeschluss vom 30. [X.]eptember 2008 [X.]/07, [X.], 20, jeweils m.w.N.).

Bei einer unzutreffenden Prognose über die Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes sind für die Anwendung des § 70 Abs. 4 E[X.]tG folgende Alternativen zu unterscheiden:

-      Beruht das Überschreiten des [X.]es allein auf einer rechtsfehlerhaften Auslegung der Begriffe "Einkünfte und Bezüge", ist eine bestandskräftige Prognoseentscheidung nicht nach § 70 Abs. 4 E[X.]tG änderbar.

-      Unterschreiten die tatsächlichen Einkünfte und Bezüge auch ohne Abzug der [X.]ozialversicherungsbeiträge den [X.], kann eine ablehnende Prognoseentscheidung in jedem Fall nach § 70 Abs. 4 E[X.]tG geändert werden.

-      War die ablehnende Prognoseentscheidung rechtmäßig, weil der [X.] auch bei Berücksichtigung der [X.]ozialversicherungsbeiträge überschritten gewesen wäre, kann die Prognoseentscheidung dagegen auch dann korrigiert werden, wenn die geänderten tatsächlichen Einkünfte und Bezüge nur im Zusammenwirken mit einer rechtmäßigen Auslegung des § 32 Abs. 4 [X.]atz 2 E[X.]tG (Abzug der [X.]ozialversicherungsbeiträge) den [X.] unterschreiten ([X.]enatsurteil in [X.], 147, [X.], 549).

3. Die von der Familienkasse im Bescheid vom 17. [X.]eptember 2004 prognostizierten Einkünfte und Bezüge des [X.] in Höhe von 7.881,85 € überschritten den maßgeblichen [X.] von 7.680 € allein deshalb, weil die Familienkasse die [X.]ozialversicherungsbeiträge in Höhe von 2.002,59 € nicht abgezogen hatte. Der Ablehnungsbescheid könnte daher nur dann nach § 70 Abs. 4 E[X.]tG geändert werden, wenn die tatsächlichen Einkünfte und Bezüge --ohne Berücksichtigung der [X.]ozialversicherungsbeiträge-- den [X.] unterschreiten würden (Alternative 2).

Das [X.] hat --aus seiner [X.]icht zu [X.] bisher keine ausreichenden Feststellungen zur genauen Höhe der nachträglich bekannt gewordenen Einkünfte und Bezüge des [X.] getroffen. Auf der Grundlage der überschlägigen Berechnung im [X.]-Urteil würden sie sich --ohne Abzug der [X.]ozialversicherungsbeiträge-- auf 7.999,81 € belaufen und damit den [X.] um 319,18 € übersteigen. Bei den hierbei abgezogenen Werbungskosten in Höhe von 1.655,50 € handelt es sich nach den Feststellungen im finanzgerichtlichen Urteil jedoch nur um einen Mindestbetrag. Der Kläger hatte bereits im Verfahren vor dem [X.] weitere Werbungskosten in einer 319,18 € übersteigenden Höhe geltend gemacht.

Für die Entscheidung, ob § 70 Abs. 4 E[X.]tG anwendbar ist, kommt es daher auf die genaue Höhe der dem [X.] entstandenen Werbungskosten an. Diese Feststellungen wird das [X.] nachholen. Ergänzend weist der [X.]enat darauf hin, dass der Kläger im zweiten Rechtsgang beim [X.] --anders als im [X.] neue Tatsachen auch hinsichtlich bisher im Klageverfahren nicht geltend gemachter Werbungskosten vorbringen kann.

Meta

III R 100/07

24.02.2010

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend FG Köln, 3. September 2007, Az: 1 K 1007/06, Urteil

§ 32 Abs 4 S 2 EStG 2002, § 70 Abs 4 EStG 2002

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 24.02.2010, Az. III R 100/07 (REWIS RS 2010, 9003)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 9003

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2 BvR 167/02

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