Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 11.09.2002, Az. 1 StR 171/02

1. Strafsenat | REWIS RS 2002, 1633

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[X.]in der Strafsachegegenwegensexuellen Mißbrauchs eines Kindes- 2 -Der 1. Strafsenat des [X.] hat am 11. September 2002 gemäߧ 349 Abs. 4 StPO beschlossen:Auf die Revision des Angeklagten wird das [X.]eil des [X.] vom 19. Dezember 2001 mit den zugehörigenFeststellungen aufgehoben.Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auchüber die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkam-mer des [X.] zurückverwiesen.Gründe:Das [X.] hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs ei-nes Kindes in 37 Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verur-teilt. Die Revision des Angeklagten erhebt Verfahrensrügen sowie die [X.]. Das Rechtsmittel ist begründet.[X.] Revision beanstandet die Ablehnung eines [X.], der aufdie Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Glaubhaftigkeit der Aus-sage der Zeugin [X.]gerichtet war und dem die [X.] mitdem Hinweis auf ihre eigene Sachkunde begegnet ist (§ 244 Abs. 4 Satz 1StPO). Die Rüge greift [X.] 3 -Die Verteidigung hatte die Einholung eines "[X.]" zum Beweis dessen beantragt, daß die [X.], das Tatopfer, "generell und speziell unglaubwürdig" und ihrenbelastenden Angaben "kein Glauben zu schenken" sei. Die Zeugin hatte [X.] einer "aussagepsychologischen Begutachtung" einverstanden erklärt. [X.] hat den Antrag abgelehnt, weil sie selbst über die [X.] verfüge und sich dabei namentlich auf die [X.] einer Psychotherapeutin, zweier Ärzte in der Facharztausbildungzum Psychiater sowie einer Psychologin bezogen, die M. [X.]behandelthatten. Auffälligkeiten in der Person der Zeugin hätten danach keinen Einflußauf ihre [X.]. Weitere im [X.] erwähnte [X.] stellten keine solchen Besonderheiten dar, daß die Kammer mit der Be-urteilung der Glaubhaftigkeit der belastenden Aussage überfordert und die Zu-ziehung eines Sachverständigen geboten sei.Die Ablehnung des [X.] erweist sich unter den hier gegebe-nen besonderen Umständen als rechtsfehlerhaft. In der Regel ist die Einholungeines derartigen Glaubhaftigkeitsgutachtens (vgl. dazu [X.]St 45, 164, 167)zwar nicht erforderlich; denn die Beurteilung der [X.] nicht nurvon Erwachsenen, sondern auch von kindlichen und jugendlichen Zeugen so-wie der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben ist Sache des Tatrichters. Die Hinzuzie-hung eines Sachverständigen ist aber dann geboten, wenn Besonderheitenvorliegen, die Zweifel an der Sachkunde des Gerichts hinsichtlich der Beurtei-lung der Aussagetüchtigkeit des Zeugen und der Glaubhaftigkeit seiner Aussa-ge aufkommen lassen können (vgl. [X.]R StPO § 244 Abs. 4 Satz 1 Glaub-würdigkeitsgutachten 2, Sachkunde 6; § 244 Abs. 2 Glaubwürdigkeitsgutach-ten 1). So jedoch liegt es hier. Die Persönlichkeit und der Werdegang der Zeu-gin [X.]wie auch ihr [X.] im Zusammenhang mit [X.] 4 -anderweitigen bewußten Falschbelastung weisen Besonderheiten auf, die dieWürdigung ihrer Bekundungen mitzubestimmen haben. Art und Maß dieserBesonderheiten ergeben zumal vor dem Hintergrund der nur eher allgemeinenFeststellungen zu den einzelnen Taten, daß die eigene Sachkunde der Ju-gendkammer hier zur Beurteilung der den Angeklagten belastenden Aussageder Zeugin nicht in jeder Hinsicht ausreichte.Nach den [X.]eilsfeststellungen mißbrauchte der zum Zeitpunkt [X.] 55jährige, nicht vorbestrafte Angeklagte seine am 13. [X.] geborene Nichte M. [X.]regelmäßig sexuell zwischen derensechstem und 16. Lebensjahr. Im Alter der M. zwischen neun und15 Jahren kam es wenigstens einmal wöchentlich zum Geschlechtsverkehr.Gegenstand des Schuldspruchs sind 35 Einzelfälle des [X.] weitere zwei Fälle des [X.], die sich zwischen dem 17. [X.], als M. elf Jahre alt war, und dem 12. April 1993, dem Tag vorM. s 14. Geburtstag, zutrugen. Das [X.] stützt seine Beweisfüh-rung gegen den bestreitenden Angeklagten im [X.] allein auf die Angaben derZeugin [X.]. Diese sieht es durch Aussagen weiterer Zeugen bestä-tigt, welche allerdings ihrerseits im wesentlichen wieder auf [X.] zurückgehen.Den [X.]eilsgründen ist zum Konkretisierungsgrad der Darstellungen zuentnehmen, [X.]habe zwei Einzelfälle, die sich vor dem [X.] hätten, in dem die abgeurteilten Taten begangen wurden, sehr detail-liert beschrieben. Die [X.] weist zudem auf originelle Einzelheiten inzwei weiteren Fällen (Zerbröseln eines Kondoms auf einer Lampe, Hinweis aufdie Sterilisation des Angeklagten) sowie auf Hautpigmentstörungen des [X.] hin, die dieser aber auch an den Händen aufweist. Im übri-- 5 -gen sind die Feststellungen zu den Taten und den verschiedenen Tatorteneher allgemein und pauschal gehalten.Die [X.]eilsgründe ergeben indessen weiter, daß in der Person M. G. s "psychische Auffälligkeiten" vorlagen, die dazu führten, daß sie [X.] 1986 bis Mai 1991 mit einer halbjährigen Unterbrechung und nochmals imJahr 1994 psychotherapeutisch betreut wurde. Als Grund hierfür ist lediglicherwähnt, daß sie ein "aggressives Verhalten" gezeigt und ein "[X.]" vorgelegen habe. Sie selbst habe den Bekundungen ihrer damaligenPsychotherapeutin zufolge angegeben, "große Probleme" zu haben und habe"Phantasien" erzählt, die aber sogleich als solche erkennbar gewesen seien.Ihrer Therapeutin berichtete [X.]auch von einer Vergewaltigungdurch einen nahezu gleichaltrigen Jungen. Diese zweifelte nicht an der Glaub-haftigkeit der Angaben M. s.Zur Erstattung der Strafanzeige in der vorliegenden Sache, die [X.] März 2000 erfolgte, kam es im Anschluß an einen Streit mit der Mutter, dieder Zeugin vorwarf, in einer lesbischen Beziehung zu leben. Darauf entgegnetediese, sie solle den Angeklagten fragen, warum das so sei und berichtete [X.] "bruchstückhaft vom sexuellen Mißbrauch" ([X.]). Die [X.] darauf für die Zeugin einen Termin bei der Kriminalpolizei. Im [X.] beging [X.] einen Suizidversuch und befand sichzweimal in stationärer Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus. [X.] bei ihr eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung des [X.] diagnostiziert.Weitere Einzelheiten zu den psychischen Auffälligkeiten der Zeugin,namentlich zu den von ihr früher berichteten Phantasien, aber auch zu [X.] und Ursachen des Suizidversuches sowie zu der [X.] -teilen weder die [X.]eilsgründe noch der den Beweisantrag ablehnende Be-schluß der Kammer mit. Auch eine nähere Auseinandersetzung mit der Be-deutung dieser Befunde für die Frage der Wahrhaftigkeit der Aussage ist [X.] dem gebotenen Maße erfolgt.Hinzu kommt, daß die Zeugin im November 1993 den damals 13jährigenK. [X.]wahrheitswidrig der Vergewaltigung bezichtigt hat. Bei einer kri-minalpolizeilichen Vernehmung in jener Sache beschrieb sie detailliert einesolche Tat unter Einschluß der Bedrohung mit einem Messer, eines vorgeblicherfolglosen Fluchtversuchs und dazu passenden Äußerungen sowie [X.]. Sie wiederholte diesen Vorwurf auch noch bei einer richterli-chen Vernehmung, die ersichtlich - wie der Zusammenhang der [X.] erkennen läßt - erst im gegenständlichen Verfahren erfolgte. Das [X.] gegen den seinerzeitigen Beschuldigten war eingestellt worden, weil [X.] erst 13 Jahre alt und mithin [X.] war. Erst in der [X.] gegen den Angeklagten hat die Zeugin eingeräumt, K. [X.] zuUnrecht beschuldigt zu haben. Sie habe mit ihm [X.] gehabt, befürchtet schwanger zu sein und Angst vor der [X.] gehabt. Bei K. [X.] habe es sich um einen sehr gutenFreund gehandelt; sie habe ihm - so die [X.]eilsgründe - "eine Vergewaltigungvorgeworfen ... da sie sich nicht getraut habe, die Vorfälle mit ihrem Onkel zuberichten" ([X.] diesen Umständen, im Blick auf die vor dem Tatzeitraum begin-nende, in diesen hineinreichende und sich später wieder fortsetzende psycho-therapeutische Behandlung der Hauptbelastungszeugin bei nicht näher [X.] Befunden, auf den Suizidversuch wenige Monate nach der [X.], insbesondere aber auf die bewußte Falschbelastung eines Jungen- 7 -mit einem bis in Einzelheiten angereicherten, von den damals [X.] er-sichtlich als glaubhaft erachteten Vergewaltigungsvorwurf in strafverfahrensbe-zogenen, nach Belehrung und unter Wahrheitspflicht (§§ 153, 164 StGB) er-folgten Aussagen war es hier der Kammer verwehrt, sich bei der [X.] Glaubhaftigkeit der Aussage der Zeugin letztlich allein auf ihre eigeneSachkunde zu stützen. Dies gilt eingedenk dessen, daß die Kammer auch nochdie Aussagen von Zeugen ins Feld führt, denen gegenüber [X.]sexuelle Mißbrauchshandlungen in allgemein gehaltener Weise oder [X.] berichtet hatte. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, daß die [X.] auch im Tatzeitraum noch betreuende Psychotherapeutin für Kinderund [X.]nichts von entsprechenden Mißbrauchsberichten der Zeugin bekundethat (vgl. [X.] f.), die Zeugin bei dieser jedoch den (falschen) [X.] gegen einen anderen erwähnte und dafür in der Hauptverhand-lung die Erklärung gab, sie habe sich nicht getraut, die Vorfälle mit ihrem Onkelzu berichten, damit aber einen Zusammenhang herstellte, der sich in seinerBedeutung nicht ohne weiteres aus sich selbst erhellt. Auch diese Umständemußten es nahelegen, eine alle Gesichtspunkte einbeziehende [X.] unter gezielter sachverständiger Beratung vorzunehmen.Eine andere verfahrensrechtliche Bewertung ergibt sich nicht daraus,daß die [X.] die [X.]psychiatrisch und psychologischbehandelnden Ärzte und eine Psychologin als Zeugen vernommen hat. [X.] ist aus zahlreichen anderen Verfahren bekannt, daß behandelndePsychiater und Psychologen im Rahmen der Therapie ihres Patienten im [X.] ihrer Aufgabe nicht die Frage des Wahrheitsgehalts der [X.] Patienten, also die Überprüfung der "Validität" der Angaben sehen. [X.] es in aller Regel vornehmlich um die Behandlung etwa einer Persönlich-- 8 -keitsstörung, um die Minderung subjektiv empfundenen Leidensdrucks und [X.] (vgl. dazu nur [X.], [X.]. vom 16. Mai 2002 - 1 [X.]/02), im vorliegenden Fall naheliegender Weise um die Therapie der Per-sönlichkeitsstörung und der psychischen Auffälligkeiten. Überdies steht [X.] Zeugen vernommenen, früher behandelnden Therapeuten regelmäßig nichtdiejenige umfassende Erkenntnisgrundlage zur Verfügung, die einem das [X.] beratenden Sachverständigen zugänglich ist. Diesem liegen regelmäßigauch die Strafakten mit allen bis dahin angefallenen Ermittlungsergebnissenoffen; er wird zumeist an der Beweisaufnahme teilnehmen und den Zeugen [X.] von dessen Einverständnis auch explorieren, vor allem aber seine Be-wertung gezielt und allein im Blick auf den Wahrheitsgehalt der Aussage vor-nehmen.Die Zeugin [X.]hatte sich mit einer aussagepsychologischenBegutachtung einverstanden erklärt. Selbst ohne ein solches Einverständniswäre eine Begutachtung aufgrund der verbleibenden Erkenntnisquellen nichtvon vornherein aussichtslos gewesen (vgl. [X.], [X.]. vom 16. Mai 2002 - 1 [X.]/02). Ob hier in erster Linie die Zuziehung jugendpsychiatrischen oder aberaussagepsychologischen Sachverstandes in Betracht gekommen wäre, hätteder Tatrichter zu entscheiden gehabt (vgl. dazu [X.]St 23, 8, 12; [X.] NStZ2002, 490; [X.] in [X.]. § 73 Rdn. 5). Nach allem war die Ablehnungdes [X.] rechtsfehlerhaft. Das angegriffene [X.]eil kann darauf be-ruhen. Es ist deshalb mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben.[X.] kommt es auf die weiteren erhobenen Beanstandungen, na-mentlich die Rüge aus § 136a StPO nicht mehr an. Der [X.] kann deshalbauch dahinstellen, ob dem Angeklagten vor Beginn der Hauptverhandlung bei- 9 -den Bemühungen um eine Absprache ein gesetzlich nicht vorgesehener Vorteilin Gestalt einer schuldunangemessen niedrigen Strafe für den Fall eines Ge-ständnisses versprochen oder in Aussicht gestellt und dadurch seine Freiheitder Willensentschließung in einer auch den Grundsätzen fairen Verfahrenszuwiderlaufenden Weise beeinträchtigt worden ist. Da der Angeklagte das An-erbieten einer zur Bewährung auszusetzenden Freiheitsstrafe von zwei Jahren- bei damals noch in Rede stehenden 156 Einzelfällen des sexuellen Miß-brauchs - abgelehnt und die Taten weiter bestritten hat, würde der Schuld-spruch auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel hier nicht beruhen. Dierechtliche Bedenklichkeit dieses Vorgehens erhellt sich allerdings daraus, daßdas Strafmaß für die verbleibenden nur 37 Einzelfälle sich auf sieben [X.] beläuft, ohne daß außer dem "fehlenden Geständnis" und derdeshalb erforderlichen Vernehmung der betroffenen Zeugin sonst eine wesent-liche Änderung der Sach- und Verfahrenslage erkennbar wäre.[X.] neue Tatrichter wird zu beachten haben, daß das aufzuhebende[X.]eil aus sich heraus nicht erkennen läßt, aus welchem Grunde die [X.] 37 Einzelfälle abgeurteilt hat und wie sie diese individualisiert. Dadem Revisionsvortrag der Verteidigung zu entnehmen ist, daß im übrigen nach§ 154 StPO verfahren wurde, ist der Hinweis veranlaßt, daß ein Erörterungs-mangel vorliegen kann, wenn der Grund für die teilweise Einstellung im [X.]eilnicht mitgeteilt und - wenn nicht ausschließlich prozeßökonomische Erwägun-gen ausschlaggebend waren - eine etwaige Beweisbedeutung nicht wenigstens- 10 -angesprochen wird (vgl. [X.] StV 1998, 580, 582; [X.], 552). [X.] es das Erfordernis erschöpfender Beweiswürdigung bei der hier gegebe-nen Lage gebieten, auch das Einlassungsverhalten des Angeklagten einer ge-naueren Bewertung zu unterziehen.[X.] Wahl Schluckebier Kolz

Meta

1 StR 171/02

11.09.2002

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 11.09.2002, Az. 1 StR 171/02 (REWIS RS 2002, 1633)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2002, 1633

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