Bundesgerichtshof, Beschluss vom 15.12.2020, Az. XIII ZB 3/19

13. Zivilsenat | REWIS RS 2020, 1228

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Gegenstand

Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger: Vollziehung der Rückführungshaft an einem ausländischen Gefährder bedeutender Rechtsgüter der inneren Sicherheit in einer allgemeinen Haftanstalt


Leitsatz

Die Abschiebungshaft kann bei einem Ausländer, von dem eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht, in einer allgemeinen Haftanstalt vollzogen werden, wenn er getrennt von Strafgefangenen untergebracht wird und diese Art des Haftvollzugs im konkreten Einzelfall verhältnismäßig ist (Anschluss an EuGH, Urteil vom 2. Juli 2020 - C-18/19, juris).

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 29. Zivilkammer des [X.] vom 24. August 2017 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 5.000 €.

Gründe

1

I. Der Betroffene, ein [X.] Staatsangehöriger, reiste im Jahr 2003 in das [X.] ein und erhielt in der Folge mehrere befristete [X.]. Aufgrund seiner Hinwendung zu radikal-salafistischen Kreisen und seiner Unterstützung des "[X.]" ([X.]) ordnete das [X.] und für Sport wegen der vom Betroffenen ausgehenden Gefahr eines terroristischen Anschlags in Deutschland mit Verfügung vom 1. August 2017 nach § 58a Abs. 1 [X.] seine Abschiebung nach [X.] an. Hiergegen erhob der Betroffene Klage beim [X.], die er mit einem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes verband.

2

Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 18. August 2017 gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung seiner Abschiebung nach [X.] bis zum 23. Oktober 2017 angeordnet. Diese Haft wurde - wie im Antrag der Behörde angekündigt - in der allgemeinen [X.] in einem von Strafgefangenen getrennten Bereich vollzogen. Die gegen den Beschluss des Amtsgerichts gerichtete Beschwerde hat das [X.] mit der angefochtenen Entscheidung zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Betroffene, der nach Ablauf der angeordneten Haftzeit mit der Rechtsbeschwerde die Feststellung begehrt, dass ihn die Haftanordnung in seinen Rechten verletzt habe.

3

II. Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache keinen Erfolg.

4

1. Das Beschwerdegericht meint, die Haft sei zu Recht angeordnet worden. Ein Haftgrund liege vor, da die Voraussetzungen des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1a [X.] in der hier noch maßgeblichen, bis zum 20. August 2019 geltenden Fassung (fortan: aF) erfüllt seien, indem die Abschiebungsanordnung nach § 58a [X.] aufgrund des vom Betroffenen beim [X.] eingelegten Rechtsbehelfs nicht unmittelbar vollzogen werden könne. Die - von Strafgefangenen getrennte - Unterbringung des Betroffenen in einer allgemeinen Justizvollzugsanstalt sei nach § 62a Abs. 1 Satz 2 [X.] aF erlaubt, da von ihm, wie von dieser Vorschrift gefordert, eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgehe.

5

2. Das hält rechtlicher Nachprüfung stand. Die Haftanordnung musste im Streitfall nicht im Hinblick auf das Gebot einer möglichst wirksamen Anwendung des Rechts der [X.] wegen einer absehbar rechtswidrigen Unterbringung des Betroffenen (vgl. dazu [X.], Beschlüsse vom 11. Juli 2013 - [X.], juris Rn. 20 [insoweit in NVwZ 2014, 166 nicht abgedruckt]; vom 25. Juli 2014 - [X.], [X.] 2014, 441 Rn. 5, und vom 25. August 2020 - [X.]/19, juris Rn. 12, jeweils mwN) unterbleiben.

6

a) Die Unterbringung des Betroffenen in der allgemeinen [X.] erfolgte auf der Grundlage des § 62a Abs. 1 Satz 2 [X.] aF. Diese Vorschrift steht mit dem Recht der [X.], insbesondere mit Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ([X.]. EG Nr. L 348, [X.] - "Rückführungsrichtlinie"), in Einklang.

7

aa) Der Gerichtshof der [X.] hat in dieser Sache auf Vorlage des [X.] (Beschluss vom 22. November 2018 - [X.]/17, juris) mit Urteil vom 2. Juli 2020 ([X.]/19, juris) entschieden, dass Art. 16 Abs. 1 der Rückführungslinie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der ein Drittstaatsangehöriger zur Sicherung der Abschiebung getrennt von Strafgefangenen in einer gewöhnlichen Haftanstalt untergebracht werden darf, weil von ihm eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft oder für die innere oder äußere Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats ausgeht.

8

bb) Um eine solche nationale Regelung handelt es sich bei § 62a Abs. 1 [X.] aF. Zwar wird nach Satz 1 dieser Vorschrift Abschiebungshaft grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen vollzogen. Satz 2 der Norm erlaubt jedoch die Vollziehung der Haft in sonstigen Haftanstalten - getrennt von Strafgefangenen -, wenn von dem Ausländer eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht.

9

b) Die in § 62a Abs. 1 Satz 2 [X.] aF angeführten Voraussetzungen für eine Unterbringung in einer allgemeinen Justizvollzugsanstalt waren im Streitfall erfüllt. Vom Betroffenen ging eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit aus und er konnte in der [X.] getrennt von Strafgefangenen untergebracht werden.

c) Die Unterbringung des Betroffenen in einer allgemeinen Haftanstalt statt in einer Abschiebungshafteinrichtung ist auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

aa) Allerdings ist eine solche Unterbringung wegen des mit ihr verbundenen Eingriffs in das Grundrecht auf Freiheit der Person, der dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen muss (st. Rspr., vgl. nur [X.], Beschluss vom 12. April 2018 - [X.], [X.] 2018, 335 Rn. 16 mwN), nur dann gerechtfertigt, wenn sie trotz der Schwere des mit einer solchen Maßnahme verbundenen Eingriffs im Hinblick auf die konkrete, von dem Betroffenen ausgehende Gefahr erforderlich und angemessen ist (vgl. dazu auch Schlussanträge des Generalanwalts vom 27. Februar 2020 - [X.]/19, [X.]:[X.]:[X.] Rn. 96 ff.). Das war hier der Fall.

(1) In [X.] genießen Gefangene deutlich mehr Freiheiten als in Einrichtungen für Untersuchungs- oder Strafgefangene. Die Gefangenen können sich dort in größerem Umfang frei bewegen, haben umfangreiche Kommunikationsmöglichkeiten einschließlich fremdsprachiger nationaler und internationaler Telefonate. Das hat zur Folge, dass sie im Einzelfall schwer zu kontrollieren sind. Eine Absicherung der Einrichtung gegen Übergriffe von außen ist zudem nur bis zu einem gewissen Grad gewährleistet (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des [X.] zu dem Entwurf eines Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, BT-Drucks. 18/12415, S. 15; [X.] zu dem Entwurf eines Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, BR-Drucks. 179/1/17, S. 15; Schlussanträge des Generalanwalts vom 27. Februar 2020 - [X.]/19, [X.]:[X.]:[X.] Rn. 103 f.).

(2) In einer solchen Einrichtung konnte den besonderen Sicherheitsbedürfnissen, wie sie für den Betroffenen auch während seiner Inhaftierung erforderlich waren, nicht in hinreichendem Maß Rechnung getragen werden. Nach den Feststellungen des [X.] hatte der Betroffene während eines Syrienaufenthaltes im Jahr 2014 in den Reihen des [X.] gekämpft und plante nach seiner Rückkehr die Begehung eines [X.]. Der mit Mitgliedern der radikal-salafistischen Szene eng vernetzte und rechtskräftig unter anderem wegen Körperverletzung verurteilte Betroffene galt als - insbesondere zur Durchsetzung seiner Wertvorstellungen - gewaltbereit, weshalb etwa für die Flugabschiebung eine herkömmliche Sicherheitsbegleitung für unzureichend angesehen wurde und auf besonders geschultes Personal zurückgegriffen werden musste. Der Betroffene hätte somit in einer Abschiebungshafteinrichtung eine Gefahr für andere Gefangene und das Aufsichtspersonal bedeutet. Zudem hätte nicht jede Fluchtmöglichkeit ausgeschlossen werden können.

bb) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt nicht, dass zugunsten der in den Anwendungsbereich des § 58a [X.] fallenden Personen - zumindest einzelne - [X.] derart umstrukturiert werden, dass sie bei ansonsten unveränderter Funktionsweise die spezifischen Sicherheitsanforderungen für die Unterbringung dieser Personen erfüllen. Dem stehen die gegenläufigen Freiheitsrechte der übrigen Insassen der betreffenden [X.] entgegen. Denn eine solche Umstrukturierung würde zwangsläufig zu einer allgemeinen Verschärfung der [X.] zum Nachteil der Bewegungsfreiheit der übrigen - nicht gefährlichen - Inhaftierten führen, die gezwungen wären, sich in einer Gefängnisumgebung aufzuhalten.

cc) Ebenso wenig sind aus Gründen der Verhältnismäßigkeit innerhalb der [X.] Sondereinheiten für die Unterbringung besonders gefährlicher Personen zu schaffen. Dies würde angesichts der Zahl dieser Personen, die im Vergleich zur Gesamtzahl der im Rahmen eines Rückkehrverfahrens inhaftierten Betroffenen sehr gering und zudem temporär schwankend ist, zu einem unverhältnismäßig hohen organisatorischen und finanziellen Aufwand führen (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts vom 27. Februar 2020 - [X.]/19, [X.]:[X.]:[X.] Rn. 104, und [X.] [X.]/[X.] [1.10.2020], § 62a [X.] Rn. 11a).

3. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.

[X.]     

      

Schmidt-Räntsch     

      

Kirchhoff

      

Picker     

      

Rombach     

      

Meta

XIII ZB 3/19

15.12.2020

Bundesgerichtshof 13. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Frankfurt, 24. August 2017, Az: 2-29 T 210/17

Art 16 Abs 1 EGRL 115/2008, § 58a Abs 1 AufenthG, § 62a Abs 1 S 2 AufenthG vom 20.07.2017

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 15.12.2020, Az. XIII ZB 3/19 (REWIS RS 2020, 1228)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 1228

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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