Bundesgerichtshof, Beschluss vom 25.07.2014, Az. V ZB 137/14

5. Zivilsenat | REWIS RS 2014, 3755

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BUNDESGERICHTSHOF (BGH) EUROPA- UND VÖLKERRECHT HAFT EUGH SOZIALRECHT ASYL- UND AUSLÄNDERRECHT ABSCHIEBUNG STRAFVOLLZUG VERFAHRENSGRUNDSÄTZE

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Gegenstand

Ab- und Zurückschiebungshaftanordnung: Rechtswidrigkeit wegen Verstoßes gegen die EG-Richtlinie über die Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger bei Unterbringung des Betroffenen auf dem Gelände einer Justizvollzugsanstalt


Leitsatz

1. Im Hinblick auf das Gebot einer möglichst wirksamen Anwendung des Rechts der Union (effet utile) muss der Haftrichter die Anordnung von Sicherungshaft ablehnen, wenn absehbar ist, dass der Betroffene entgegen den Vorgaben des Unionsrechts untergebracht werden wird (Umsetzung von EuGH, Urteil vom 17. Juli 2014, C-473/13 und C-514/13 - Bero und  Bouzalmate, ECLI:EU:C:2014:2095 Rn. 30 f.).

2. In Deutschland darf Ab- und Zurückschiebungshaft nach Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG nur in speziellen Hafteinrichtungen vollzogen werden (Umsetzung von EuGH, Urteil vom 17. Juli 2014, C-473/13 und C-514/13 - Bero und  Bouzalmate, ECLI:EU:C:2014:2095 Rn. 30 f.).

3. Die Unterbringung der von Ab- oder Zurückschiebung Betroffenen in einem besonderen Gebäude auf dem Gelände einer gewöhnlichen Haftanstalt ist keine Unterbringung in einer speziellen Hafteinrichtung im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115/EG (Umsetzung von EuGH, Urteil vom 17. Juli 2014, C-473/13 und C-514/13 - Bero und Bouzalmate, ECLI:EU:C:2014:2095 Rn. 30 f.).

Tenor

Die Vollziehung der mit Beschluss des [X.] vom 8. Mai 2014 gegen den Betroffenen angeordneten und durch Beschluss der 39. Zivilkammer des [X.] vom 27. Juni 2014 aufrecht erhaltenen Sicherungshaft wird einstweilen ausgesetzt.

Gründe

I.

1

Der [X.]etroffene ist [X.] Staatsbürger und reiste am 27. April 2014 ohne Ausweis- oder [X.] mit Hilfe eines Schleppers nach [X.] ein. Am 7. Mai 2014 wurde er in [X.] bei dem Versuch festgenommen, sich unter Vorlage einer gefälschten [X.] Identitätskarte anzumelden. Mit Verfügung vom gleichen Tag drohte ihm die beteiligte [X.]ehörde die Abschiebung an. Auf ihren Antrag hat das Amtsgericht am 8. Mai 2014 gegen den [X.]etroffenen Haft bis zum 6. August 2014 angeordnet. Die Haft wird in einem gesonderten Gebäude auf dem Gelände der [X.] vollzogen. Am 6. Juni 2014 hat der [X.]etroffene aus der Haft heraus einen Asylantrag gestellt. Auf die gegen die Haftanordnung gerichtete [X.]eschwerde hat das [X.] mit [X.]eschluss vom 27. Juni 2014 die Rechtswidrigkeit der Haft für den Zeitraum vom 8. Mai 2014 bis zum 27. Juni 2014 festgestellt und die weitergehende [X.]eschwerde zurückgewiesen. Hiergegen hat der [X.]etroffene Rechtsbeschwerde eingelegt.

2

Einen ersten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der angeordneten Haft hat der Senat mit [X.]eschluss vom 3. Juli 2014 zurückgewiesen. Mit dem vorliegenden zweiten Aussetzungsantrag macht der [X.]etroffene geltend, der Vollzug der Haft in der [X.] widerspreche dem Urteil des Gerichtshofs der [X.] vom 17. Juli 2014 ([X.]. 473/13 und 514/13 - [X.]ero und [X.]ouzalmate, [X.]:[X.]:[X.]:2014:2095).

II.

3

Der Aussetzungsantrag hat Erfolg.

4

1. Er ist in entsprechender Anwendung von § 64 Abs. 3 FamFG statthaft (Senat, [X.]eschluss vom 21. Januar 2010 - [X.], [X.] 2010, 97 Rn. 3). Seiner Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass der Senat den ersten Aussetzungsantrag des [X.]etroffenen abgelehnt hat. Der Zurückweisungsbeschluss erwächst nicht in Rechtskraft. Deshalb kann eine Aussetzung bei Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen auch angeordnet werden, wenn ein vorausgegangener Aussetzungsantrag zurückgewiesen worden ist (vgl. auch [X.], [X.]eschluss vom 4. März 2009 - [X.] ([X.]) 78/08, juris Rn. 3). Ein Rechtsschutzbedürfnis für den erneuten Antrag besteht jedenfalls deshalb, weil der [X.]etroffene unter Hinweis auf das zwischenzeitlich ergangene Urteil des Gerichtshofs der [X.] nunmehr erstmals die rechtswidrige Unterbringung in der [X.] rügt.

5

2. Der Antrag ist auch begründet, weil die Rechtsbeschwerde des [X.]etroffenen nach der gebotenen summarischen Prüfung erfolgreich sein wird. Im Hinblick auf das Gebot einer möglichst wirksamen Anwendung des Rechts der Union (effet utile) muss der Haftrichter die Anordnung von [X.] ablehnen, wenn absehbar ist, dass der [X.]etroffene entgegen den Vorgaben des Unionsrechts untergebracht werden wird (Senat, Vorlagebeschluss vom 11. Juli 2013 - V Z[X.] 40/11, NVwZ 2014, 166, Rn. 20). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

6

a) Die Unterbringung des [X.]etroffenen in der [X.] widerspricht den unionsrechtlichen Vorgaben.

7

aa) Nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115/[X.] erfolgt die Inhaftierung von [X.]etroffenen zur Sicherung der Ab- oder Zurückschiebung grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen. Zwar dürfen [X.]etroffene nach Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie in „gewöhnlichen Haftanstalten“ untergebracht werden, wenn in einem Mitgliedstaat solche speziellen Hafteinrichtungen nicht vorhanden sind. Diese Ausnahme trifft aber nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der [X.] für [X.] nicht zu, weil in mehreren [X.] [X.]undesländern spezielle Einrichtungen vorhanden sind ([X.], Urteil vom 17. Juli 2014 - [X.] 473/13 und [X.] 514/13 - [X.]ero und [X.]ouzalmate, [X.]:[X.]:[X.]:2014: 2095 Rn. 30 f.).

8

§ 62a Abs. 1 Satz 2 [X.] ist in diesem Sinne richtlinienkonform einschränkend auszulegen. Dem steht nicht entgegen, dass die Vorschrift nach ihrem Wortlaut auf die Verhältnisse in dem betroffenen [X.]undesland und nicht auf die Verhältnisse in [X.] insgesamt abstellt. Der Gesetzgeber hat mit der Vorschrift ausweislich der Entwurfsbegründung Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie ohne Abstriche umsetzen wollen ([X.]T-Drucks. 17/5470 S. 25). Er hat dabei ein - wie sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergibt - fehlerhaftes Verständnis der Richtlinie zugrunde gelegt, was aber an dem Willen zur richtlinienkonformen Anpassung des nationalen [X.] Rechts nichts ändert. Einem solchen Versehen ist mit einer richtlinienkonformen - hier einschränkenden - Auslegung Rechnung zu tragen (vgl. [X.], Urteil vom 21. Dezember 2011 - [X.], [X.]Z 192, 148 Rn. 26; Senat, [X.]eschluss vom 8. Januar 2014 - V Z[X.] 137/12, [X.] 2014, 148 Rn. 9-11).

9

bb) Nach dem erwähnten Urteil des Gerichtshofs kann die Unterbringung eines [X.]etroffenen in einem gesonderten Gebäude auf dem Gelände einer Justizvollzugsanstalt, anders als die beteiligte [X.]ehörde meint, auch nicht als Unterbringung in einer speziellen Hafteinrichtung angesehen werden, wie sie von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie verlangt wird. Wenn [X.]etroffene in einem Mitgliedstaat überhaupt in gewöhnlichen Haftanstalten untergebracht werden dürfen, dürfte dies nach Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115/[X.] nur „gesondert von den gewöhnlichen Strafgefangenen“ geschehen. In einem weiteren Urteil vom 17. Juli 2014 hat der Gerichtshof der [X.] ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich aus dem Wortlaut dieser Norm die unbedingte Verpflichtung ergibt, die illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen von den gewöhnlichen Strafgefangenen zu trennen, wenn ein Mitgliedstaat sie nicht in speziellen Hafteinrichtungen unterbringen kann ([X.]. [X.]-474/13 - [X.], [X.]:[X.]:[X.]:2014:2096 Rn. 17, 21). Daraus folgt, dass eine solche gesonderte Unterbringung von [X.]etroffenen auf dem Gelände einer gewöhnlichen Haftanstalt keine Unterbringung in einer speziellen Hafteinrichtung sein kann. Sie ist - unabhängig von ihrer Ausgestaltung im Einzelnen - eine Unterbringung in einer gewöhnlichen Haftanstalt, die in [X.], wie ausgeführt, generell nicht zulässig ist.

cc) Die [X.] dient nach Teil 4 des geltenden [X.] für das [X.] (Allgemeinverfügung des [X.] vom 16. September 2003 - 4431 - IV [X.]. 28) dem Vollzug der Abschiebungshaft, der Freiheitsstrafe von bis zu drei Monaten und der Ersatzfreiheitsstrafe. Es handelt sich deshalb um eine gewöhnliche Haftanstalt, in der auch von einer Ab- oder Zurückschiebung [X.]etroffene untergebracht sind. Diese Art der Unterbringung widerspricht dem Unionsrecht.

b) Daran gemessen ist jedenfalls der weitere Vollzug der Haft rechtswidrig, weil der [X.]etroffene derzeit unter Verstoß gegen die Vorgaben des Unionsrechts untergebracht ist und die [X.]ehörde eine Änderung der Unterbringung abgelehnt hat.

Schmidt-Räntsch                      Roth                    [X.]rückner

                          Weinland                 Kazele

Meta

V ZB 137/14

25.07.2014

Bundesgerichtshof 5. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Köln, 27. Juni 2014, Az: 39 T 119/14

§ 62a AufenthG, Art 16 Abs 1 S 1 EGRL 115/2008

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 25.07.2014, Az. V ZB 137/14 (REWIS RS 2014, 3755)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 3755

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