Bundessozialgericht, Beschluss vom 12.10.2022, Az. B 1 KR 46/22 BH

1. Senat | REWIS RS 2022, 10118

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Prozesskostenhilfe (PKH) - Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse - Eingang nach Ablauf der Beschwerdefrist - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - Fürsorgepflicht des Gerichts


Tenor

Der Antrag des [X.], ihm für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des [X.] vom 11. August 2022 Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wird abgelehnt.

Die Beschwerde des [X.] gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des [X.] vom 11. August 2022 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe

1

I. Der Kläger hat selbst mit Schreiben vom 15.9.2022 Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des [X.] vom 11.8.2022, ihm zugestellt am 19.8.2022, eingelegt sowie die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) beantragt. Mit Schreiben vom [X.] hat der Kläger mitgeteilt, dass er die [X.] wegen eines ab 22.9.2022 anstehenden Klinikaufenthalts erst Anfang Oktober "auf den Weg bringen wird". Am 10.10.2022 ist das ausgefüllte und unterzeichnete PKH-Formular eingegangen.

2

II. 1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte PKH unter Beiordnung eines anwaltlichen Bevollmächtigten. Die Bewilligung von PKH für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision setzt nach der Rechtsprechung des BSG und der anderen obersten Gerichtshöfe des [X.] voraus, dass der Antragsteller sowohl den Antrag auf PKH als auch die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (Erklärung) in der für diese gesetzlich vorgeschriebenen Form (§ 73a Abs 1 [X.], § 117 Abs 2 und 4 ZPO), dh auf dem durch die Prozesskostenhilfeformularverordnung ([X.]) vom [X.] ([X.]) eingeführten Formular, bis zum Ablauf der Beschwerdefrist einreicht (vgl [X.] vom 20.2.2018 - [X.] KR 12/18 B - juris Rd[X.] 3; BSG vom 15.11.2017 - [X.] KR 4/17 BH - juris Rd[X.] 5) und alle nötigen Belege beifügt. Der Kläger hat erst nach Ablauf der Beschwerdefrist, die am [X.] endete (§ 160a Abs 2 Satz 1 und 2, § 64 Abs 2, § 63 Abs 2 Satz 1 [X.], § 175 ZPO) die erforderliche Erklärung nebst Belegen vorgelegt. Auf die Frist für die Einlegung der Beschwerde und die Erforderlichkeit der rechtzeitigen Antragstellung und Einreichung des PKH-Formulars nebst Anlagen ist der Kläger in der zutreffenden Rechtsmittelbelehrung des [X.] hingewiesen worden. Mit Schreiben der Berichterstatterin vom [X.] wurde der Kläger auf die Frage, ob sein [X.] vor dem [X.] ausreiche, unter Bezugnahme auf diese Rechtsmittelbelehrung erneut um Übersendung des PKH-Formulars gebeten.

3

Die Abgabe einer Erklärung nach § 117 Abs 2 ZPO war vorliegend auch nicht ausnahmsweise entbehrlich. Aus dem Erfordernis, dass sich der Inhalt der Erklärung auf den Zeitpunkt der Antragstellung beziehen soll, ist abzuleiten, dass grundsätzlich für jede Instanz die Erklärung auf einem gesonderten aktuellen Formular abgegeben werden muss. Von der Vorlage der Erklärung kann zwar abgesehen werden, wenn der Antragsteller auf eine bereits im vorausgegangenen Rechtszug abgegebene Erklärung Bezug nimmt und glaubhaft dartut, dass in seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen gegenüber den früheren Angaben eine Veränderung nicht eingetreten ist (vgl [X.] vom 16.3.1983 - [X.] - NJW 1983, 2145 ff; BSG vom 3.4.2001 - B 7 [X.] 14/01 B - juris Rd[X.] 7). Der Kläger hat seine [X.] aber innerhalb der Beschwerdefrist nicht durch eine hinreichende Bezugnahme ersetzt. In seinem Schreiben vom 15.9.2022 hat er lediglich auf die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vor dem [X.] und den dort offenbar eingereichten Rentenbescheid einer Rente wegen voller Erwerbsminderung Bezug genommen, ist jedoch nicht darauf eingegangen, ob gegenüber der früher abgegebenen Erklärung Veränderungen eingetreten sind.

4

Gründe für eine Wiedereinsetzung in die Frist gemäß § 67 [X.] sind nicht ersichtlich. Der Kläger war nicht iS des § 67 Abs 1 [X.] "ohne Verschulden" gehindert, innerhalb der Monatsfrist einen den gesetzlichen Anforderungen entsprechenden [X.] zu stellen. Insbesondere war er hieran nicht wegen Krankheit gehindert. Dies wäre nur dann der Fall gewesen, wenn er krankheitsbedingt weder in der Lage gewesen wäre, selbst zu handeln noch einen [X.] hiermit zu beauftragen (BSG vom [X.] - 9a [X.]/91 - juris, unter Hinweis auf [X.] vom 19.7.1962 - VIII [X.]86.60 - [X.] 1962, 931 und [X.] vom 28.3.1990 - [X.]/90 - [X.]/NV 1991, 247; [X.] vom 17.7.2007 - 2 BvR 1164/07 - juris Rd[X.] 2). Hierfür ergeben sich jedoch keine Anhaltspunkte. Der Kläger hat mit Schreiben vom [X.] mitgeteilt, er müsse "morgen ins [X.] (pharmakoresistentes Anfallsleiden)". Zu diesem Zeitpunkt war die Monatsfrist für die Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde jedoch bereits abgelaufen. Im Übrigen ist aufgrund dieses Vortrages nicht ersichtlich, dass der Kläger so schwer erkrankt war, dass dies jegliches eigenständige Handeln ausschloss.

5

Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Verletzung der prozessualen Fürsorgepflicht durch das Gericht in Betracht. Allerdings darf ein Gericht unter Berücksichtigung des Anspruchs auf ein faires Verfahren aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten (vgl zB [X.] vom 14.4.1987 - 1 BvR 162/84 - [X.]E 75, 183) und ist zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (vgl [X.] vom 19.10.1977 - 2 BvR 462/77 - [X.]E 46, 202, 210; [X.] vom 26.4.1988 - 1 BvR 669/87, 1 BvR 686/87, 1 [X.] - [X.]E 78, 123, 126). Dementsprechend ist Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn das Fristversäumnis auch auf Fehlern beruht, die im Verantwortungsbereich des Gerichts bei Wahrnehmung seiner Fürsorgepflicht liegen (vgl [X.] vom 20.6.1995 - 1 BvR 166/93 - [X.]E 93, 99, 114 f, dort zur Weiterleitung einer beim [X.] eingegangenen Berufung an das O[X.]; BSG vom [X.] - B 5 RJ 10/01 R - [X.] 3-1500 § 67 [X.] mwN).

6

Welche Prüfungs- und Fürsorgepflichten das angegangene Gericht hat, hängt weitgehend von den Verhältnissen des Einzelfalls ab. Einerseits ist der [X.] zur Rücksichtnahme auf die Beteiligten verpflichtet. Andererseits muss auch die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlicher Belastung geschützt werden. Die Gerichte sind daher nicht verpflichtet, außerordentliche Maßnahmen zu ergreifen, um den rechtzeitigen Eingang eines fristwahrenden Schriftsatzes bei dem zuständigen Gericht zu gewährleisten (so schon BSG vom 10.12.1974 - [X.] 2/73 - [X.], 248 = [X.] 1500 § 67 [X.] 1; BSG vom 14.12.2010 - [X.]0 EG 4/10 R - juris).

7

Aus der verfassungsrechtlichen Fürsorgepflicht der staatlichen Gerichte und dem Anspruch auf ein faires Verfahren folgt keine generelle Verpflichtung der Gerichte dazu, die Formalien eingereichter Schriftstücke sofort zu prüfen, um erforderlichenfalls sofort durch entsprechende Hinweise auf die Behebung formeller Mängel hinzuwirken (vgl [X.] vom 18.11.2020 - [X.] KR 1/20 B - [X.] 4-1500 § 65a [X.] 6 Rd[X.] 21; [X.] vom 14.9.2020 - 5 [X.] - juris Rd[X.] 27; [X.] vom 21.3.2017 - [X.]/15 - Rd[X.] 13). Dies nähme den Verfahrensbeteiligten ihre eigene Verantwortung dafür, die Formalien einzuhalten und überspannte die Anforderungen an die Grundsätze des fairen Verfahrens ([X.] vom 17.1.2006 - 1 BvR 2558/05 - [X.]K 7, 198 ff, Rd[X.] 10; [X.] vom 5.6.2020 - 10 [X.] 53/20 - juris Rd[X.] 39; [X.] vom 18.10.2017 - LwZ[X.]/17 - juris Rd[X.] 11). Ein [X.] kann aber erwarten, dass offenkundige Versehen wie zB die Einlegung eines Rechtsmittels bei einem unzuständigen Gericht in angemessener Zeit bemerkt werden und dass die notwendigen Maßnahmen innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs getroffen werden, um ein drohendes Fristversäumnis zu vermeiden (vgl BSG vom 17.11.2015 - [X.] KR 130/14 B - juris Rd[X.] 5 mwN; [X.] - [X.]2 KR 26/18 B - [X.] 4-1500 § 65a [X.] 4 Rd[X.] 11).

8

Danach ist ein Verschulden des Senats dafür, dass innerhalb der Beschwerdefrist keine ordnungsgemäße Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorgelegt wurde, nicht gegeben. Es entspricht vielmehr grundsätzlich dem üblichen Geschäftsgang, wenn die richterliche Erstbearbeitung eines Dokuments wegen der regelmäßig erforderlichen verwaltungstechnischen Vorarbeiten (Zuordnung des Dokuments zu einer Akte oder Anlegen der Akte; Zuständigkeitsbestimmung; Zutrag) nicht sofort oder unmittelbar am ersten Tag erfolgt (BSG vom 12.10.2016 - B 4 [X.]/16 R - [X.], 71 = [X.] 4-1500 § 65a [X.] 3). Es entspricht ebenso dem üblichen Geschäftsgang, dass vom [X.] verfügte Schreiben nicht am selben, sondern - wie hier - am nächsten Werktag zur Post gegeben werden. Eine anderweitige Kommunikationsmöglichkeit (etwa per Telefax oder Telefon) hatte der Kläger nicht eröffnet, da er im Adressfeld seiner an das Gericht gerichteten Schreiben lediglich seine postalische Anschrift angegeben hatte. Dass die gerichtliche Aufforderung zur Einreichung einer ordnungsgemäßen [X.] (über deren Erfordernis der Kläger ohnehin bereits durch das [X.] belehrt worden war) bei ihm erst nach Fristablauf einging, ist folglich nicht auf ein Verschulden des Senats zurückzuführen.

9

2. Die von dem Kläger selbst eingelegte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision ist unzulässig, da sie nicht von einem vor dem BSG zugelassenen Prozessbevollmächtigten eingelegt worden ist (§ 73 Abs 4 [X.]).

Die Verwerfung des Rechtsmittels des Klägers erfolgt entsprechend § 169 Satz 3 [X.] ohne Zuziehung der ehrenamtlichen [X.] (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 [X.]).

3. [X.] beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 [X.].

[X.]                Geiger

Meta

B 1 KR 46/22 BH

12.10.2022

Bundessozialgericht 1. Senat

Beschluss

Sachgebiet: KR

vorgehend SG Neubrandenburg, 24. März 2020, Az: S 12 KR 101/18

§ 67 Abs 1 SGG, § 73a Abs 1 S 1 SGG, § 160a Abs 2 S 1 SGG, § 117 Abs 2 ZPO, § 117 Abs 4 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 12.10.2022, Az. B 1 KR 46/22 BH (REWIS RS 2022, 10118)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 10118

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5 AZB 23/20

10 AZN 53/20

X ZB 7/15

1 BvR 166/93

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