Bundesgerichtshof, Urteil vom 16.10.2023, Az. VIa ZR 374/22

6a. Zivilsenat | REWIS RS 2023, 7588

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Gegenstand

Deliktische Haftung des Fahrzeugherstellers in einem sog. Dieselfall: Anspruch des Käufers eines vor Geltung der Neufassung der EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung in Verkehr gebrachten Kraftfahrzeugs auf Ersatz des Differenzschadens


Leitsatz

Unter den Voraussetzungen des § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 der EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung vom 21. April 2009 steht auch dem Käufer eines vor Geltung der EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung vom 3. Februar 2011 aufgrund einer unrichtigen Übereinstimmungsbescheinigung in Verkehr gebrachten Kraftfahrzeugs ein Anspruch gegen den Fahrzeughersteller auf Ersatz des Differenzschadens zu.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 5. Zivilsenats des [X.] vom 8. Februar 2022 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als das Berufungsgericht den Berufungsantrag zu I hinsichtlich einer Hauptforderung in Höhe von 20.649,79 € nebst Zinsen Zug um Zug gegen Übereignung und Übergabe des im Antrag näher bezeichneten Fahrzeugs sowie die [X.] und zu [X.] insgesamt zurückgewiesen hat.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.

2

Die Klägerin erwarb am 22. März 2013 von einem Händler einen von der Beklagten hergestellten gebrauchten [X.], der mit einem Motor der [X.] (Schadstoffklasse Euro 5) ausgerüstet ist. Das Fahrzeug verfügt über eine temperaturabhängige Steuerung des [X.] (Thermofenster).

3

Die Klägerin hat zuletzt beantragt, die Beklagte zur Zahlung von 21.312,96 € nebst Zinsen Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs (Berufungsantrag zu [X.]) und zur Zahlung ausgerechneter [X.] (Berufungsantrag zu [X.][X.]) zu verurteilen. Ferner hat sie die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten (Berufungsantrag zu [X.][X.][X.]) und die Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten (Berufungsantrag zu [X.]V) begehrt. Das [X.] hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist erfolglos geblieben. Mit der vom Senat insoweit zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Schlussanträge aus der Berufungsinstanz zu [X.], zu [X.][X.][X.] und zu [X.]V mit der Maßgabe weiter, dass sie mit dem Berufungsantrag zu [X.] nur noch eine Hauptforderung in Höhe von 20.649,79 € nebst Zinsen geltend macht.

Entscheidungsgründe

4

Die Revision der Klägerin hat Erfolg.

I.

5

Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:

6

Die Tatbestandsvoraussetzungen eines Anspruchs nach § 826 BGB seien nicht gegeben. Ein [X.] Verhalten der Beklagten liege nicht deshalb vor, weil sie den Fahrzeugtyp mit dem [X.] ausgestattet habe. Eine möglicherweise nur fahrlässige Verkennung der Rechtslage bei der Beurteilung der Zulässigkeit des [X.]s genüge nicht für die Feststellung einer besonderen Verwerflichkeit des Verhaltens. Vorstehendes gelte sinngemäß für die weiteren behaupteten Abschalteinrichtungen, für deren Vorhandensein es im Übrigen an greifbaren Anhaltspunkten fehle. Der Klägerin stehe auch kein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 [X.] zu, weil diese Vorschriften keine Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB seien.

II.

7

Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.

8

1. Es begegnet keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB verneint hat. Die Revision erhebt insoweit auch keine Einwände.

9

2. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 [X.] wegen der Verwendung des [X.]s aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Wie der [X.] nach Erlass der Berufungsentscheidung entschieden hat, sind die bei Eintritt des Schadens durch Abschluss des [X.] geltenden Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 der [X.] ([X.]) vom 3. Februar 2011 ([X.]; künftig: [X.] n.[X.]) Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des [X.] gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der [X.] zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung ([X.]) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. [X.], Urteil vom 26. Juni 2023 - [X.], NJW 2023, 2259 Rn. 9; 29 bis 32, zur [X.] bestimmt in [X.]Z). Dasselbe gilt für die im Zeitpunkt der Verletzungshandlung durch das Inverkehrbringen des [X.] maßgeblichen § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 der [X.] vom 21. April 2009 ([X.], 873; künftig: [X.] a.[X.]), die als Artikel 1 der Verordnung über die Neuordnung des Rechts der Erteilung von [X.]-Genehmigungen für [X.]fahrzeuge und ihre Anhänger sowie für Systeme, Bauteile und selbständige technische Einheiten für diese Fahrzeuge vom 21. April 2009 ([X.]; künftig: Mantelverordnung) erlassen wurden.

a) Beide Fassungen der [X.] dienten der Umsetzung unter anderem der Richtlinie 2007/46/[X.], die nach ihrem Artikel 50 bereits am 29. Oktober 2007 in [X.] getreten war. Die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 [X.] in ihrer alten und neuen Fassung sind zudem wortgleich. Nach der gebotenen unionsrechtlichen Lesart (vgl. [X.], Urteil vom 26. Juni 2023 - [X.], NJW 2023, 2259 Rn. 32) bezweckten und bezwecken beide Fassungen den Schutz von Käufern mit unzulässigen Abschalteinrichtungen versehener [X.]fahrzeuge vor einer Vermögenseinbuße in Gestalt eines [X.]s.

b) Die § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 [X.] a.[X.] waren im Zeitpunkt der Verletzungshandlung im Jahr 2010 gültig. Zwar begründete der Verordnungsgeber den Neuerlass der [X.] im Jahr 2011 damit, es seien Zweifel aufgetreten, ob formale Rechtsfehler der Vergangenheit (gemeint: mögliche Verstöße gegen das Zitiergebot) Auswirkungen auf die Geltung von Bestandteilen "auch dieser Verordnung" (gemeint: der [X.] a.[X.]) hätten (vgl. [X.]. 725/10, [X.]). Diese Zweifel waren aber tatsächlich unbegründet. Die Angabe der Ermächtigungsgrundlagen als "Sammelzitat" ausschließlich im Vorspruch der Mantelverordnung genügte entgegen in der Literatur geäußerter Bedenken (Füßer/Stöckel, NVwZ 2010, 414, 416 f.) den Vorgaben des Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG.

aa) Der Verordnungsgeber wird durch die Pflicht zur Angabe der Ermächtigungsgrundlage angehalten, sich der Reichweite seiner Rechtsetzungsbefugnis zu vergewissern. Normadressaten und Gerichten wird ermöglicht zu prüfen, ob der Verordnungsgeber bei Erlass der Norm von einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage Gebrauch machen wollte und ob die getroffene Regelung sich im Rahmen der Ermächtigung hält ([X.] 24, 184, 196; 101, 1, 42; 136, 69 Rn. 99). [X.] der Verordnungsgeber Mantelverordnungen, fasst er mehrere Normen zu einer Rechtsverordnung als rechtstechnische Einheit zusammen. Um dem Zitiergebot Rechnung zu tragen, kann er die den Inhalt der gesamten Mantelverordnung tragenden Ermächtigungsgrundlagen auch im Vorspruch dieser Verordnung nennen (vgl. [X.], Urteil vom 1. März 2021 - 18/20, juris Rn. 537; [X.], Beschluss vom 11. August 2017 - 13 A 311/15, juris Rn. 9; [X.], Beschluss vom 18. Februar 2021 - 3 EN 67/21, juris Rn. 35; vgl. auch [X.], Beschluss vom 31. Mai 2007 - 3 M 53/07, juris Rn. 32 zu Art. 57 Abs. 1 Satz 3 LV MV).

bb) So ist der Verordnungsgeber bei Erlass der Mantelverordnung verfahren. Im Vorspruch der Mantelverordnung hat er im Einzelnen angegeben, von welchen Ermächtigungsgrundlagen er Gebrauch machen wollte. Damit war sichergestellt, dass die Normadressaten und Gerichte prüfen konnten, ob die getroffenen Regelungen von den in Anspruch genommenen Ermächtigungsgrundlagen gedeckt waren.

Zugleich war erkennbar, auf welche maßgeblichen und vollständig zitierten Ermächtigungsgrundlagen sich der Erlass der [X.] a.[X.] stützte. Denn die [X.] a.[X.] wurde in Artikel 1 der Mantelverordnung erlassen. Artikel 2 bis 4 der Mantelverordnung beschränkten sich auf wenige Änderungen anderer Verordnungen, so auf [X.] wegen des Erlasses der [X.]-Fahrzeuggenehmigungs-verordnung a.[X.], und auf Anpassungen wegen der Ersetzung der [X.]/[X.] und 92/53/[X.] durch die Richtlinie 2007/46/[X.] (vgl. [X.]. 190/09, [X.]), deren Umsetzung der Erlass der [X.] a.[X.] diente. Artikel 5 der Mantelverordnung regelte schlicht die Aufhebung der Vorgängervorschriften, Artikel 6 der Mantelverordnung das Inkrafttreten. Aufgrund des untergeordneten [X.] der Artikel 2 bis 6 der Mantelverordnung war das Auffinden der Ermächtigungsgrundlagen für die in der [X.] a.[X.] getroffenen Regelungen nicht in einer Weise erschwert, die zu einer Nichtigkeit wegen eines Verstoßes gegen Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG hätte führen können (vgl. [X.], Beschluss vom 11. August 2017 - 13 A 311/15, juris Rn. 9 ff.; [X.], Beschluss vom 18. Februar 2021 - 3 EN 67/21, juris).

cc) Unerheblich ist, ob die in den Artikeln 2 bis 4 getroffenen Regelungen in den im Vorspruch der Mantelverordnung angeführten Bestimmungen eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage fanden (vgl. [X.]. 723/10, S. 39; [X.]. 724/10, [X.]; [X.]. 861/11, S. 447 zur Neufassung der insoweit geänderten Verordnungen). Sollte dies nicht der Fall gewesen sein, hätte dies jedenfalls nicht die Nichtigkeit der [X.] a.[X.] zur Folge gehabt, weil sie eine selbständige Bedeutung hatte und ihre Rechtfertigung nicht verloren hätte, wenn die in den Artikeln 2 bis 4 getroffenen Regelungen nichtig gewesen wären (vgl. [X.] 8, 274, 301; 102, 26, 40; 128, 282, 321; [X.], NJW 2023, 2405 Rn. 238; Wienbracke, NJW 2020, 3351 Rn. 10; [X.], [X.], 601, 606).

c) Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf die Gewährung sogenannten "großen" Schadensersatzes verneint (vgl. [X.], Urteil vom 26. Juni 2023 - [X.], NJW 2023, 2259 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch unberücksichtigt gelassen, dass der Klägerin nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 [X.] ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen [X.]s zustehen kann (vgl. [X.], Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; siehe auch [X.], Urteile vom 20. Juli 2023 - [X.], ZIP 2023, 1903 Rn. 21 ff.; - [X.], juris Rn. 16 f.). Demzufolge hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder der Klägerin Gelegenheit zur Darlegung eines solchen Schadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.

III.

Die angefochtene Entscheidung ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben, § 562 ZPO, weil sie sich insoweit auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Das Berufungsgericht hat keine tragfähigen Feststellungen getroffen, auf deren Grundlage eine deliktische Haftung der Beklagten wegen einer jedenfalls fahrlässigen Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung verneint werden könnte. Der [X.] kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.

Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird die Klägerin Gelegenheit haben, einen [X.] darzulegen. Das Berufungsgericht wird sodann nach den näheren Maßgaben des Urteils des [X.]s vom 26. Juni 2023 ([X.], NJW 2023, 2259) die erforderlichen Feststellungen zu der - bislang lediglich unterstellten - Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowie gegebenenfalls zu den weiteren Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 [X.] zu treffen haben.

[X.]     

      

Möhring     

      

Krüger

      

Liepin     

      

Vogt-Beheim     

      

Meta

VIa ZR 374/22

16.10.2023

Bundesgerichtshof 6a. Zivilsenat

Urteil

Sachgebiet: ZR

vorgehend OLG Bamberg, 8. Februar 2022, Az: 5 U 112/21

§ 31 BGB, § 823 Abs 2 BGB, § 6 Abs 1 EG-FGV vom 21.04.2009, § 6 Abs 1 EG-FGV vom 03.02.2011, § 27 Abs 1 EG-FGV vom 21.04.2009, § 27 Abs 1 EG-FGV vom 03.02.2011, Art 50 EGRL 46/2007

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 16.10.2023, Az. VIa ZR 374/22 (REWIS RS 2023, 7588)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 7588

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Deliktische Haftung des Fahrzeugherstellers in einem sog. Dieselfall: Umfang des Anspruchs auf Ersatz des Differenzschadens


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III ZR 303/20

III ZR 267/20

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