Bundesgerichtshof, Beschluss vom 25.03.2015, Az. 5 StR 70/15

5. Strafsenat | REWIS RS 2015, 13426

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Gegenstand

Geschäftsverteilung: Nachträgliche Änderung der Geschäftsverteilung wegen absehbarer Überlastung eines Spruchkörpers durch weitere Haftsachen


Tenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des [X.] vom 31. Juli 2014 wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die den [X.] sowie der Neben- und Adhäsionsklägerin durch seine Revision entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, wegen schwerer Körperverletzung und wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf Verfahrensrügen und die ausgeführte Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel bleibt erfolglos.

2

Der Erörterung bedarf nur die Rüge vorschriftswidriger Besetzung der Schwurgerichtskammer (§ 338 Nr. 1 StPO i.V.m. § 21e Abs. 3 [X.]).

3

1. Im Wesentlichen liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

4

Am 22. Januar 2014 beschloss das Präsidium des [X.]s Hamburg, dass die bis zum 28. Februar 2014 bei der [X.] (im Folgenden „[X.] 21") eingehenden Schwurgerichtssachen, in denen eine Untersuchungshaft oder eine einstweilige Unterbringung vollzogen werde oder Überhaft bestehe und in denen die Frist des § 121 StPO vor dem 2. Juni 2014 ablaufe, in die Zuständigkeit der neu gebildeten [X.]a ([X.], Schwurgericht) gelangen sollten. Vorausgegangen war eine auf Nachfrage der Präsidialrichterin noch präzisierte Anzeige des Vorsitzenden der [X.] 21, wonach aufgrund zweier umfänglicher neu eingegangener Verfahren (eines mit prognostizierter Dauer von mindestens 25 bis 30 Verhandlungstagen, eines mit voraussichtlich mindestens 15 Verhandlungstagen, „wahrscheinlich aber mehr") in Verbindung mit sonstigen Belastungen (unter anderem Absetzung größerer Urteile, Vertretungslasten der Beisitzerinnen in anderen Strafkammern, Urlaubszeiten) neu eingehende [X.] frühestens etwa ab Mitte Juli 2014 terminiert werden könnten.

5

Von dieser Regelung erfasst wurde das vorliegende Verfahren. Darin wurde am 7. Februar 2014 Anklage erhoben, der Eröffnungsbeschluss der [X.] 21a erging am 18. März 2014. Am [X.] vom 14. April 2014 erhob der Angeklagte form- und fristgerecht den [X.] (§ 222[X.]), weil die Bildung der [X.] wegen nicht hinreichend [X.] Überlastung der [X.] 21 fehlerhaft gewesen sei. In ihrer Stellungnahme zur Besetzungsrüge führte die Präsidentin des [X.]s aus, dass es nicht möglich gewesen sei, die Überlastung im Wege der Vertretung aufzufangen, weil die [X.] ihrerseits habe entlastet werden müssen. Ferner wurden die Belastungssituation der Beisitzerinnen der [X.] 21 im Einzelnen aufgeschlüsselt, die [X.] näher erläutert und der Stand der bei der [X.] 21 anhängigen Verfahren mitgeteilt.

6

Der [X.] ist vom [X.] mit Beschluss vom 22. April 2014 zurückgewiesen worden. Wie der Schriftverkehr zwischen dem Vorsitzenden der [X.] 21 und der Verwaltung sowie die Stellungnahme der Präsidentin des [X.]s zeige, habe dem Beschleunigungsgrundsatz nur durch Bildung der [X.] Rechnung getragen werden können.

7

2. Bei dieser Sachlage erweist sich die nicht nach § 338 Nr. 1 lit. [X.] präkludierte und den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügende (vgl. hierzu [X.], Urteil vom 9. April 2009 - 3 [X.], [X.]St 53, 268, 281) Rüge als unbegründet.

8

a) Gemäß § 21e Abs. 3 Satz 1 [X.] darf das Präsidium die nach Absatz 1 Satz 1 dieser Bestimmung getroffenen Anordnungen im Laufe des Geschäftsjahres ändern, wenn dies wegen Überlastung eines Spruchkörpers nötig wird. Eine Überlastung liegt vor, wenn über einen längeren [X.]raum ein erheblicher Überhang der Eingänge über die Erledigungen zu verzeichnen ist, so dass mit einer Bearbeitung der Sachen innerhalb eines angemessenen [X.]raums nicht zu rechnen ist. Von [X.] wegen kann eine nachträgliche Änderung der Geschäftsverteilung sogar geboten sein, wenn nur auf diese Weise eine hinreichend zügige Behandlung von Strafsachen erreicht werden kann. Das Gebot zügiger Verfahrensgestaltung lässt jedoch das Recht auf [X.] nicht vollständig zurücktreten. Vielmehr besteht Anspruch auf eine zügige Entscheidung gerade durch ihn. Daher muss in derartigen Fällen das Recht des Angeklagten auf [X.] mit dem rechtsstaatlichen Gebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem verfassungsrechtlichen Grundsatz zügiger Verfahrensgestaltung in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden (vgl. zum Ganzen [X.], Urteil vom 9. April 2009 - 3 [X.], aaO, [X.] ff. [X.]; Beschluss vom 7. Januar 2014 - 5 StR 613/13, [X.], 287 Rn. 7).

9

Zu den grundsätzlich zulässigen Maßnahmen im Sinne des § 21e Abs. 3 [X.] zählt die Einrichtung einer [X.] für eine begrenzte [X.]. Die Regelung der mit der Errichtung einer [X.] verbundenen Übertragung von Aufgaben der ordentlichen Strafkammer hat dabei denselben Grundsätzen zu folgen wie sonstige Änderungen im Sinne von § 21e Abs. 3 [X.]. Insbesondere ist das Abstraktionsprinzip zu beachten. Danach ist die Zuweisung bestimmter einzelner Verfahren regelmäßig unzulässig. Hingegen steht Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG einer Änderung der (funktionellen) Zuständigkeit selbst für bereits anhängige Verfahren dann nicht grundsätzlich entgegen, wenn die Neuregelung generell gilt, also etwa außer mehreren anhängigen Verfahren auch eine unbestimmte Vielzahl künftiger, gleichartiger Fälle erfasst, und nicht aus sachwidrigen Gründen erfolgt.

Für Umverteilungen, die im [X.]punkt des [X.] bereits anhängige Verfahren betreffen, ist nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung des [X.] eine umfassende Dokumentation auch dann erforderlich, wenn künftig eingehende Verfahren mit umfasst sind (vgl. [X.], Urteil vom 9. April 2009 - 3 [X.], aaO, [X.]; Beschluss vom 7. Januar 2014 - 5 StR 613/13, aaO Rn. 9). Im Blick auf die mit jeder Umverteilung verbundene (abstrakte) Gefahrenlage für die verfassungsrechtlich gebotene Gewährleistung des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) müssen die Dokumentationspflichten jedoch ebenfalls gelten, wenn - wie hier - ausschließlich künftig eingehende Verfahren betroffen sind (vgl. [X.], [X.] 2015, 16, 19 [X.]). Dass die Risiken in Bezug auf [X.] bei rein in die Zukunft gerichteten, bereits anhängige Verfahren also nicht tangierenden Maßnahmen als vergleichsweise geringer eingestuft werden können, vermag daran nichts zu ändern.

b) Der Präsidiumsbeschluss vom 22. Januar 2014 hält diesen Maßstäben stand.

aa) Dass der Beschluss nicht - wie grundsätzlich geboten (eingehend [X.], Urteil vom 9. April 2009 - 3 [X.], aaO, [X.] ff.) - selbständig mit einer Begründung versehen war, führt nicht zur Annahme eines durchgreifenden Rechtsfehlers. Denn die Änderungsgründe ergeben sich aus der Überlastungsanzeige des Vorsitzenden der [X.] 21, die ausweislich des Protokolls der Präsidiumssitzung vom 22. Januar 2014 Grundlage des dann gefassten Beschlusses war. Diese Unterlagen ermöglichen in Verbindung mit der Stellungnahme der Präsidentin des [X.]s zu dem erhobenen [X.] sowohl dem Revisionsgericht als auch der Verteidigung die Prüfung der Rechtmäßigkeit des [X.] nach den durch das [X.] entwickelten verfassungsrechtlichen Kriterien (vgl. [X.], NJW 2005, 2689, 2690; zum maßgebenden [X.]punkt [X.], Urteil vom 9. April 2009 - 3 [X.], aaO, [X.], 278).

bb) Hieran gemessen ist eine die Maßnahme rechtfertigende vorübergehende Überlastung der [X.] 21 noch hinreichend belegt. Nach der Prognose des Vorsitzenden war die Spruchtätigkeit der [X.] 21 mit der im März 2014 zu beginnenden Hauptverhandlung im [X.] (drei Angeklagte, acht Tatvorwürfe) für mehrere Monate ausgelastet. Hinzu kam das im [X.]punkt der Überlastungsanzeige noch nicht terminierte Verfahren 621 Ks 2/14, dessen Beginn an sich für Mai 2014 geplant war und für das der Vorsitzende - im Rahmen der vorzunehmenden Prognose entgegen der Auffassung der Revision unbedenklich - auch wegen der Person der beiden Verteidiger mit einer Dauer von nicht unter 15 Verhandlungstagen rechnete. [X.] wurde weiter, dass eine parallele Verhandlung beider Sachen an dann vier Wochentagen in der gesetzlich angeordneten Dreierbesetzung neben den sonstigen Dienstgeschäften nicht zu leisten sei. Für die Monate Juli und August sei ferner zu berücksichtigen, dass alle Beisitzerinnen ihren Jahresurlaub antreten würden.

Bei dieser Sachlage war im [X.]punkt des [X.] zu besorgen, dass weiter eingehende [X.] nicht in angemessener [X.] würden bearbeitet werden können. In [X.] muss dem verfassungs- und konventionsrechtlichen Zügigkeitsgebot in besonderem Maße (s. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) Rechnung getragen werden (vgl. [X.], Urteil vom 30. Juli 1998 - 5 StR 574/97, [X.]St 44, 161, 165 ff.). Insoweit hat der [X.] freilich ausgesprochen, dass die Haftprüfungsfrist des § 121 Abs. 1 StPO keinen starren, für alle Verfahren gleichermaßen geltenden [X.]punkt festlegt, wann mit der Hauptverhandlung einer Sache nach Inhaftierung oder Anklageerhebung zu beginnen ist (vgl. [X.], Beschlüsse vom 10. Juli 2013 - 2 [X.], [X.], 226 Rn. 20 f.; vom 7. Januar 2014 - 5 StR 613/13, aaO Rn. 13; krit. [X.], aaO, S. 21 f.; Grube, StraFo 2014, 123, 124). Demgemäß rechtfertigt allein der befürchtete Ablauf der Frist oder gar eine besonders geartete Rechtsprechungspraxis des jeweiligen [X.] (vgl. [X.], Beschluss vom 10. Juli 2013 - 2 [X.], aaO Rn. 21 f.) grundsätzlich keine Umverteilung eines oder mehrerer bereits anhängiger Verfahren. Gleiches gilt hinsichtlich der Übertragung womöglich eines einzelnen anhängigen Verfahrens (vgl. [X.], Beschluss vom 7. Januar 2014 - 5 StR 613/13, aaO). Das bedeutet jedoch naturgemäß nicht, dass die Haftprüfungsfrist bei der durch das Präsidium vorzunehmenden Würdigung völlig ausgeblendet werden müsste oder auch nur könnte. Dies versteht sich schon daraus, dass die Frist die verfassungsrechtlich gebotene Zügigkeit in [X.] gewährleisten soll, die unter Umständen zu frühzeitigem Eingreifen der Gerichtsorganisation sogar zwingen kann (vgl. [X.], Beschluss vom 23. Juli 1991 - AK 29/91, [X.]St 38, 43, 46; vgl. auch Urteil vom 8. Dezember 1999 - 3 StR 267/99, [X.], 1580, 1582).

Vorliegend stand in wesentlicher Abweichung von den den zitierten Entscheidungen zugrundeliegenden Sachen eine rein zukunftsgerichtete Änderungsmaßnahme und damit eine vergleichsweise weniger problematische Konstellation in Frage. Aufgrund der Belastung der [X.] 21 war mit einer Terminierung „frühestens im Juli" zu rechnen. Die Unwägbarkeiten des Verlaufs der genannten anderen (Umfangs-) Verfahren ließen demnach, was in dem zwischen dem Vorsitzenden und dem Präsidium geführten Schriftverkehr zum Ausdruck gekommen war, auch eine viel spätere Terminierung und damit eine nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des in [X.] geltenden besonderen Zügigkeitsgebots befürchten. Wenn das Präsidium unter diesen Vorzeichen eingegriffen hat, so ist dies rechtlich nicht zu beanstanden.

cc) Unter dem Blickwinkel der Stetigkeit ergeben sich vorliegend keine erhöhten Anforderungen an den Grad der [X.] und die Begründung der Maßnahme. Zwar war der Beschluss nur kurze [X.] nach Inkrafttreten des [X.] des [X.]s Hamburg für das [X.] gefasst worden (vgl. dazu [X.], Beschluss vom 7. Januar 2014 - 5 StR 613/13, aaO Rn. 12). Jedoch sind die beiden für die Überlastungsanzeige maßgebenden Verfahren (621 Ks 1/14 und 621 Ks 2/14) erst nach der Beschlussfassung des Präsidiums über den Geschäftsverteilungsplan 2014 bei der [X.] 21 anhängig geworden. Es ist nicht erkennbar, dass dies bereits bei Beschlussfassung durch das Präsidium hätte vorausgesehen werden können.

dd) Sonstige Gründe, die zur Rechtsfehlerhaftigkeit des [X.] führen könnten, liegen nicht vor. Namentlich sind das [X.] und das Bestimmtheitsgebot gewahrt. Anhaltspunkte dafür, dass die Maßnahme verdeckt auf eine unzulässige Einzelzuweisung gerichtet gewesen sein könnte, sind nicht vorhanden. Dass der Überlastung nicht auf andere Weise als durch Einrichtung einer [X.] Rechnung getragen werden konnte, ist in der Stellungnahme der Präsidentin des [X.]s nachvollziehbar dargelegt. Zudem wäre auch mit anderen Entlastungsmaßnahmen eine Veränderung des gesetzlichen Richters verbunden gewesen. Die Umverteilung war schließlich geeignet, die Effizienz des Geschäftsablaufs zu erhalten oder wiederherzustellen (vgl. [X.], Urteil vom 9. April 2009 - 3 [X.], aaO S. 271 f. [X.]).

Sander                           Schneider                           [X.]

                  Berger                               [X.]

Meta

5 StR 70/15

25.03.2015

Bundesgerichtshof 5. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Hamburg, 31. Juli 2014, Az: 621a Ks 4/14

§ 21e Abs 3 S 1 GVG, Art 101 Abs 1 S 2 GG, § 121 Abs 1 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 25.03.2015, Az. 5 StR 70/15 (REWIS RS 2015, 13426)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 13426

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