Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.09.2012, Az. 2 StR 219/12

2. Strafsenat | REWIS RS 2012, 3304

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Gegenstand

Erheblichkeitsschwelle für sexuelle Handlungen: Kussversuch


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 24. Januar 2012 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen, wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern sowie wegen versuchten sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg. Mit Recht beanstandet der Beschwerdeführer, dass das [X.] unter Verstoß gegen § 261 StPO in seiner Beweiswürdigung die Aussage eines Zeugen berücksichtigt hat, der in der Hauptverhandlung von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hat. Dem liegt Folgendes zugrunde:

2

1. Nach den Feststellungen des [X.]s verblieb die zur Tatzeit 10-jährige Geschädigte in den Herbstferien 2001 allein bei dem Angeklagten in dessen Wohnung, nachdem ihre Mutter, die sie zunächst begleitet hatte, eines Morgens unerwartet abreisen musste. Den [X.] verbrachte die Geschädigte sodann mit dem Angeklagten und dessen 11-jährigem [X.], der gegen Abend ebenfalls die Wohnung verließ. Der Angeklagte sah sich mit der Geschädigten zunächst einen Videofilm an, bevor er ihr einen Zungenkuss gab, sie anschließend auszog und mit ihr den Vaginalverkehr vollzog ([X.] 1 der Urteilsgründe). An mindestens einem weiteren Abend während des [X.] vollzog der Angeklagte mit der Geschädigten wiederum den Vaginalverkehr ([X.] 2). Bei einem Besuch einige Wochen später streichelte der Angeklagte die Geschädigte an ihrer unbedeckten Brust ([X.] 3). Anfang 2002 legte er den Arm um ihren Körper und versuchte, sie zu küssen ([X.] 4).

3

Der Angeklagte hat die Taten bestritten und sich dahingehend eingelassen, sein [X.] habe am [X.] der Mutter zusammen mit der Geschädigten im Nebenzimmer übernachtet. Das [X.] hat die Einlassung des Angeklagten durch die Aussage der Geschädigten als widerlegt angesehen. Ihre Angaben, der [X.] des Angeklagten habe gegen Abend des [X.] der Mutter die Wohnung verlassen, werde bestätigt durch die Aussage des [X.]es, der Entsprechendes bekundet habe. Die Überzeugung von dem festgestellten Tatgeschehen hat das [X.] im Folgenden auf die für glaubhaft erachteten und im [X.] 1 durch die Aussage des [X.]es bestätigenden Angaben der Geschädigten gestützt.

4

2. Die formgerecht ausgeführte Verfahrensrüge der Verletzung des § 261 StPO dringt durch. Ausweislich der Sitzungsniederschrift hat der [X.] des Angeklagten nicht zur Sache ausgesagt, sondern nach seiner Belehrung als Zeuge von seinem Aussageverweigerungsrecht gemäß § 52 StPO Gebrauch gemacht. Der [X.] vermag auch auszuschließen, dass entsprechende Angaben des [X.]es im Wege der Vernehmung einer Verhörsperson eingeführt worden sein können. Denn ungeachtet dessen, dass sich dafür kein Anhalt findet (s. auch § 252 StPO), hat sich die Kammer ausdrücklich auf die Aussage des [X.]es gestützt (vgl. auch [X.], Beschluss vom 9. Februar 2010 - 4 StR 355/09, [X.], 409; Beschluss vom 7. Mai 2012 - 5 [X.], [X.], 257). Die Kammer hat damit ein nicht in die Verhandlung eingeführtes Beweismittel berücksichtigt.

5

Auf diesem [X.] beruht das Urteil (§ 337 Abs. 1 StPO). Obgleich das [X.] die Angaben der Geschädigten auch einer gesonderten Glaubhaftigkeitsbeurteilung unterzogen hat, ist nicht auszuschließen, dass es ohne die Verwertung der tatsächlich nicht erfolgten Angaben des [X.]es zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der hier gegebenen besonderen Anforderungen an die Beweiswürdigung. In einem Fall, in dem - wie vorliegend - unmittelbar tatbezogene weitere Beweismittel fehlen und damit Aussage gegen Aussage steht, kann zwar allein auf der Grundlage der Angaben des einzigen Belastungszeugen verurteilt werden, wenn das Tatgericht von der Glaubhaftigkeit der Aussage nach einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung dieses einzigen Zeugen überzeugt ist. Dies erfordert aber, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten beeinflussen können, in seine Überlegungen einbezogen und eine Gesamtwürdigung aller auch außerhalb der Aussage liegenden Indizien vorgenommen hat (st. Rspr. vgl. nur [X.], Beschluss vom 22. April 1987 - 3 [X.], [X.]R StPO § 261 Beweiswürdigung; Beschluss vom 18. Juni 1997 - 2 StR 140/97, [X.], 16). Unter Beachtung dessen kann nicht ausgeschlossen werden, dass das [X.] insgesamt zu einer anderen Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Geschädigten gelangt wäre, wenn es nicht gestützt auf die angeblichen Angaben des [X.]es schon die Einlassung des Angeklagten als widerlegt und gleichzeitig die entgegenstehende Aussage der Geschädigten zu [X.] 1 als bestätigt erachtet hätte (vgl. auch [X.], Beschluss vom 16. Juli 2009 - 5 StR 84/09).

6

3. Für die neue Hauptverhandlung gibt der [X.] zu bedenken: Sollte sich das [X.] im Falle einer erneuten Verurteilung wiederum von einer bei dem Angeklagten vorliegenden ausgeprägten histrionischen und narzisstischen Persönlichkeit sowie einer pädophilen Nebenströmung überzeugen, sind diese Faktoren im Hinblick auf das Vorliegen eines Eingangsmerkmals im Sinne des § 20 StGB nicht nur isoliert zu betrachten und zu würdigen. Erforderlich ist vielmehr eine Gesamtschau der Persönlichkeit des Angeklagten, seiner Entwicklung sowie der Taten selbst und des [X.] (vgl. [X.], Beschluss vom 27. März 2007 - 5 [X.], [X.], 518, 519 mwN; Urteil vom 12. Juni 2008 - 3 [X.], [X.], 258, 259; vgl. auch [X.]/[X.]/[X.]/[X.], NStZ 2005, 57, 60). In eine solche Gesamtbetrachtung wäre auch die ausweislich der Feststellungen im Jahr 2001 erfolgte psychiatrische Behandlung des Angeklagten einzustellen.

7

Sofern sich das Tatgericht erneut davon überzeugt, dass der Angeklagte im [X.] 4 der Urteilsgründe versucht hat, die Geschädigte zu küssen, wird es auch zu prüfen haben, ob insoweit die Erheblichkeitsschwelle des § 184g Nr. 1 StGB überschritten ist. Als erheblich im Sinne dieser Vorschrift sind nur solche Handlungen zu werten, die nach Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts besorgen lassen ([X.], Urteil vom 24. September 1991 - 5 StR 364/91, [X.], 324; Urteil vom 20. März 2012 - 1 StR 447/11). Bei einem Kussversuch ist dies nicht ohne weiteres der Fall (vgl. [X.], Urteil vom 24. September 1987 - 4 [X.], [X.], 70, 71; Beschluss vom 30. Januar 2001 - 4 StR 569/00 2001, 370, 371; vgl. auch [X.], Beschluss vom 8. Februar 2006 - 2 [X.], [X.], 251, 252; [X.], Beschluss vom 28. Oktober 2009 - 1 Ss 70/09, [X.], 45). Dass der Angeklagte weitergehende sexuelle Handlungen beabsichtigte und seine Tat auch insoweit im Versuchsstadium steckengeblieben ist, ist bisher nicht festgestellt.

Becker     

     Appl     

Berger

Ri[X.] Dr. Eschelbach befindet
sich im Urlaub und ist daher
gehindert zu unterschreiben.

Ott     

Becker

Meta

2 StR 219/12

12.09.2012

Bundesgerichtshof 2. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Erfurt, 24. Januar 2012, Az: 140 Js 22870/08 - 6 KLs jug

§ 184g Nr 1 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 12.09.2012, Az. 2 StR 219/12 (REWIS RS 2012, 3304)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 3304

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