Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 27.02.2020, Az. 9 BN 3/19

9. Senat | REWIS RS 2020, 3807

© Bundesverwaltungsgericht, Foto: Michael Moser

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Zurückverweisung wegen Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes


Tenor

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des [X.] vom 16. Oktober 2018 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 10 000 € festgesetzt.

Gründe

I

1

Die Antragstellerin wendet sich im Wege der Normenkontrolle gegen zwei Satzungen des Antragsgegners zur Erhebung von [X.]eiträgen für die Schmutzwasserbeseitigung für Neuanschlussnehmer bzw. Altanschlussnehmer. Das Oberverwaltungsgericht hat die Satzungen - mit Ausnahme von Vorschriften mit rein ordnungswidrigkeitsrechtlichem Inhalt - für unwirksam erklärt, weil die zur Rechtfertigung der [X.]eitragssätze vorgelegte Globalberechnung in Hinblick auf die der Niederschlagsentwässerung zuzurechnenden Kosten einen erheblichen methodischen Fehler aufweise. In der [X.] für [X.] seien die Aufwandsteile nicht abgezogen worden, die auf die Niederschlagsentwässerung entfielen. Deshalb sei die Feststellung nicht möglich, ob das [X.] beachtet worden sei.

II

2

Die [X.]eschwerde des Antragsgegners gegen die Nichtzulassung der Revision hat Erfolg. Die Revision ist nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 [X.] zuzulassen, weil der vom Antragsgegner geltend gemachte Verfahrensmangel vorliegt und die Entscheidung darauf beruhen kann.

3

Die Rüge des Antragsgegners, das Oberverwaltungsgericht habe gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 [X.]) und seine Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 Satz 1 [X.]) verstoßen, weil es seine Entscheidung maßgeblich auf eine unzutreffende Sachverhaltsunterstellung gestützt und dabei aufgetretene Widersprüche nicht aufgeklärt habe, greift durch.

4

Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 [X.] entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Gegen diese Pflicht verstößt es, wenn es seiner Entscheidung einen unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt zugrunde legt (stRspr, vgl. nur [X.], Urteil vom 2. Februar 1984 - 6 C 134.81 - [X.]E 68, 338 <339> und [X.]eschluss vom 13. Februar 2012 - 9 [X.] - [X.] 310 § 108 Abs. 1 [X.] Nr. 73 Rn. 7 m.w.N.). Das Gericht darf sich nicht auf tatsächliche Feststellungen stützen, für die es nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens keine Grundlage gibt ([X.], [X.]eschluss vom 13. Februar 2012 a.a.[X.] Rn. 16), und Umstände, auf deren Vorliegen es nach seiner Rechtsauffassung für die Entscheidung ankommt, nicht ungeprüft behaupten (vgl. [X.], [X.]eschluss vom 14. Juni 2011 - 8 [X.] 74.10 - [X.] 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 3 [X.] Nr. 61 Rn. 5; [X.], in: [X.]/Funke-Kaiser/[X.]/von [X.], [X.], 7. Aufl. 2018, § 108 Rn. 7). Das Gericht verstößt gegen den Überzeugungsgrundsatz, wenn es bei seiner Überzeugungsbildung von einer Sachverhaltsunterstellung ausgeht, die nicht durch ausreichende tatsächliche Feststellungen getragen wird, und seine Überzeugung nicht auf eine hinreichende Tatsachengrundlage stützt (vgl. [X.], [X.]eschluss vom 9. März 2017 - 6 [X.] 51.16 - juris Rn. 5 m.w.N.; zur vergleichbaren Vorschrift in § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO auch [X.]FH, [X.]eschluss vom 8. Februar 2013 - VI [X.] 100/12 - [X.]FH/NV 2013, 951 Rn. 2 m.w.N.). So liegt der Fall hier.

5

Die entscheidungstragende Annahme des [X.], es liege ein methodischer Fehler vor, weil in der [X.] für [X.] die Aufwandsteile hätten abgezogen werden müssen, die sich auf die Niederschlagsentwässerung bezogen hätten, setzt [X.] voraus, dass in die Gebührenkalkulation entsprechende Aufwendungen anteilig eingeflossen sind. Hierzu fehlen jedoch tragfähige Feststellungen.

6

Soweit das Urteil zunächst darauf hinweist, dass sich aus der der [X.]eitragsfestsetzung zugrunde gelegten Globalberechnung ergebe, dass im Verbandsgebiet [X.] vorhanden gewesen seien, rechtfertigt allein dieser Umstand - der vom Antragsgegner im Übrigen nicht bestritten wird - als solches nicht den Schluss, dass der Antragsgegner im Zusammenhang mit diesen [X.]n Aufwendungen getätigt hat, die Eingang in seine [X.] gefunden haben. Entsprechendes gilt für den weiteren Hinweis im Urteil, dass die Kalkulation in dem Tabellenwerk eine Spalte enthalte, in der nach ihrer Überschrift der nicht beitragsfähige Aufwand für Niederschlagswasser einzutragen sei. Dies ist zwar zutreffend, allerdings enthält diese Spalte durchweg die Eintragung von 0,00 €, sodass nicht ersichtlich ist, inwieweit dies auf das Vorliegen von anteilig auf die Niederschlagsentwässerung entfallenden Aufwendungen schließen lassen sollte.

7

Wie der Antragsgegner zutreffend ausführt, wird die Annahme des methodischen Fehlers maßgebend mit den Äußerungen des [X.] des Antragsgegners in der mündlichen Verhandlung begründet. Insoweit heißt es im Urteil:

"Der Verbandsgeschäftsführer des Antragsgegners hat in der mündlichen Verhandlung - entgegen den schriftsätzlichen Ausführungen des Prozessbevollmächtigten, der Antragsgegner bzw. die [X.] hätten keine Kanäle für Niederschlagswasser oder Mischwasser errichtet - bestätigt, dass es tatsächlich im Verbandsgebiet noch [X.] gebe und diese auch nach 1991 aus- oder umgebaut worden seien. Der Angabe der Antragstellerin, dass jedenfalls noch bis zum Jahr 2016 [X.] (z.[X.]. in der [X.] in [X.]) auf das Trennsystem umgebaut bzw. weiter betrieben würden (z.[X.]. [X.]augebiet 'Am Krankenhaus'), ist er ebenfalls nicht entgegengetreten."

8

Die in den Entscheidungsgründen wiedergegebene - im Protokoll der mündlichen Verhandlung nicht festgehaltene - Äußerung des [X.] rechtfertigt die Annahme zu Unrecht eingestellter Kosten für Niederschlagsentwässerung nicht. Der objektive Aussagegehalt dieser Angaben beschränkt sich auf das Vorhandensein von [X.]n im Verbandsgebiet und deren Aus- und Umbau ohne nähere Informationen dazu, von wem, mit welchem Ziel und auf wessen Kosten die genannten Aus- und Umbauarbeiten erfolgt sein sollen. Ein konkreter [X.]ezug zu den in die [X.] eingestellten Aufwendungen wird nicht hergestellt.

9

Aus dem in der zitierten Urteilspassage angeführten Gegensatz zu den schriftsätzlichen Äußerungen des Antragsgegners wird allerdings deutlich, dass das Gericht davon ausgegangen ist, dass die Aus- und Umbaumaßnahmen an vorhandenen Mischkanälen vom Antragsgegner vorgenommen worden seien und zur Errichtung von Kanälen für Niederschlagswasser oder Mischwasser geführt hätten. Für diese Annahme fehlt es jedoch an einer hinreichenden Tatsachengrundlage.

Die im Urteil referierten Angaben des [X.] tragen die Aussage des [X.] - wie dargelegt - nicht. Nach dem Vortrag der [X.]eschwerde hat sich der Verbandsgeschäftsführer in der mündlichen Verhandlung auch tatsächlich nicht dahingehend geäußert, der Antragsgegner habe [X.] oder Mischkanäle errichtet, vielmehr sei seine Aussage vom Gericht offensichtlich falsch interpretiert worden. Er habe dargelegt, dass in einzelnen [X.]ereichen, in welchen ein Mischwassersystem vorhanden gewesen sei, dieses in ein Trennsystem umgewandelt worden sei. Dabei seien die [X.]aumaßnahmen zumeist mit anderen Aufgabenträgern im Rahmen einer [X.]auherrenvereinbarung durchgeführt worden. Der Abwasserzweckverband habe ausschließlich die Errichtung von Schmutzwasserkanälen durchgeführt, durch die Stadt [X.] seien in den meisten Fällen gleichzeitig die Niederschlagswasserkanäle errichtet worden. Die zum Zeitpunkt der Trennung des Mischwassersystems vorhandenen Kanäle seien bereits vor dem 15. Juni 1991 hergestellt worden; eine [X.]erücksichtigung der Herstellungskosten scheide aus. Durch den Antragsgegner und seine Vorgängerverbände seien keine [X.] errichtet worden.

Diese Aussage stimmt mit dem schriftsätzlichen Vorbringen der Prozessbevollmächtigten des Antragsgegners überein. Danach hätten weder der Antragsgegner noch sein Vorgänger nach 1991 Kanäle für Niederschlagswasser oder Mischwasser errichtet. Der Antragsgegner habe gemäß der Verbandssatzung ausschließlich die Aufgabe der Schmutzwasserbeseitigung übernommen, im Rahmen einer zukünftigen Kanalsanierung würden die "Altkanäle" als reine Schmutzwasserkanäle saniert. Im Rahmen der aktuellen [X.] sei Anlagevermögen, das vor 1991 hergestellt worden sei, vollständig ausgegliedert worden. Anlagevermögen, das der Niederschlagswasserentwässerung diene, sei nicht als beitragsfähiger Aufwand qualifiziert worden. Die gesamte öffentliche Einrichtung sei als reine Schmutzwasserbeseitigung konzipiert, auch die flankierenden technischen [X.]auwerke seien allein auf die [X.]eseitigung von Schmutzwasser angelegt. Deshalb seien Abzüge wegen Niederschlagswasser nicht geboten gewesen.

Auch dieses zum Prozessstoff gehörende Vorbringen des Antragsgegners bietet demnach keinen Anknüpfungspunkt für die vom Oberverwaltungsgericht unterstellten (anteiligen) Aufwendungen für die Niederschlagsentwässerung, sondern steht vielmehr im direkten Widerspruch dazu, was in den Urteilsgründen auch ausdrücklich erwähnt wird.

Da es dabei um eine zentrale Rüge der Antragstellerin ging, der das Gericht entscheidungserhebliche [X.]edeutung beigemessen hat, durfte das Oberverwaltungsgericht den von ihm festgestellten Widerspruch innerhalb des Vorbringens des Antragsgegners nicht dahingehend auflösen, dass es die (unterstellten) gegenteiligen Angaben in der mündlichen Verhandlung ohne weitere Aufklärung und Nachfrage und ohne dem Antragsgegner Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben als allein maßgebend erachtete.

Der Hinweis der Antragstellerin im [X.]eschwerdeverfahren, allein die Tatsache, dass Niederschlagswasser im Leitungssystem befördert werde, genüge als [X.]egründung für den Ansatz des [X.], wonach für Investitionen, die tatsächlich auch der Niederschlagswasserbeseitigung dienten wie z.[X.]. die Investitionen in die Kläranlage, Aufwand aus der Globalkalkulation auszugliedern sei, rechtfertigt keine andere [X.]eurteilung. Den Urteilsgründen lässt sich schon nicht entnehmen, dass das Oberverwaltungsgericht etwaige Mehrkosten für das vorhandene Leitungssystem oder die Kläranlage in den [X.]lick genommen hätte. Im Übrigen fehlt es auch insoweit an tragfähigen Feststellungen dazu, dass derartige Mehraufwendungen in die [X.] eingeflossen sein könnten. Der Antragsgegner hatte dazu schriftsätzlich vorgetragen, zu [X.] hätten keine klassischen, zur Mischwasserentsorgung geeigneten und entsprechend dimensionierten [X.] bestanden, auch technische [X.]auwerke wie die Kläranlage seien allein für die [X.]eseitigung von Schmutzwasser ausgelegt. Konkrete Feststellungen unter [X.]ezugnahme auf die in die Gebührenkalkulation tatsächlich eingestellten Kosten hat das Oberverwaltungsgericht nicht getroffen (vgl. zur Erforderlichkeit derartiger Ermittlungen von Amts wegen: etwa [X.], [X.]eschluss vom 21. Juni 1995 - 8 [X.] 67.95 - juris Rn. 5).

Das angefochtene Urteil beruht auf dem dargestellten Verfahrensfehler, weil dieser die allein entscheidungstragende [X.]egründung für die Nichtigkeitserklärung der Satzungen erfasst und das Oberverwaltungsgericht die weiteren [X.] der Antragstellerin für unbegründet gehalten oder nicht abschließend geprüft hat und seine sonstigen [X.]edenken, die sich auf eine Kostenunterschreitung bezogen, ausdrücklich als ergänzend und nicht entscheidungstragend bezeichnet hat.

Der Senat macht im Interesse der Verfahrensbeschleunigung von der ihm nach § 133 Abs. 6 [X.] eröffneten [X.]efugnis Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und das Verfahren zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 39 Abs. 1, § 52 Abs. 2 GKG.

Meta

9 BN 3/19

27.02.2020

Bundesverwaltungsgericht 9. Senat

Beschluss

Sachgebiet: BN

vorgehend Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, 16. Oktober 2018, Az: 4 K 54/16, Urteil

§ 86 Abs 1 S 1 VwGO, § 108 Abs 1 S 1 VwGO, § 132 Abs 2 Nr 3 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 27.02.2020, Az. 9 BN 3/19 (REWIS RS 2020, 3807)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 3807

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

RN 8 K 15.1957 (VG Regensburg)

Abwasserabgabe für die Einleitung von verschmutztem Niederschlagswasser


7 C 12/12 (Bundesverwaltungsgericht)

Voraussetzungen der Verrechnung von Investitionen mit der Abwasserabgabe; Erweiterungsbegriff; Zuführung von Abwasser


M 10 K 15.5222 (VG München)

Kein Anspruch auf Wiederherstellung eines privaten Entwässerungskanals


1 K 9/13 (Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern)


2 K 105/15 (Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt)


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

VI B 100/12

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.