Bundessozialgericht, Beschluss vom 08.12.2022, Az. B 8 SO 27/21 B

8. Senat | REWIS RS 2022, 8826

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verstoß gegen das Recht auf Entscheidung über die erhobenen Ansprüche - Verkennung des Streitgegenstands


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 11. Mai 2021 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Im Streit ist ein Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem [X.] - ([X.]II).

2

Der Kläger betreibt eine private Berufsschule und bezieht seit August 2016 eine Regelaltersrente in Höhe von monatlich 984,74 Euro (Bescheid vom 9.6.2016; ab Juli 2017: monatlich 1020,10 Euro). Mit Schreiben vom 18.5.2016 reichte er beim Beklagten einen ausgefüllten Vordruck ein und beantragte Grundsicherungsleistungen. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom [X.] ab, da es dem Kläger möglich sei, seinen Lebensunterhalt aus seinen Einkünften zu bestreiten. Auf den Widerspruch des [X.] vom [X.] fertigte der Beklagte am 26.7.2017 einen Widerspruchsbescheid, dessen Zugang beim Kläger nach den Feststellungen des [X.] jedoch nicht nachgewiesen werden konnte. Am 10.10.2017 wandte sich der Kläger erneut an den Beklagten und teilte mit, dass ihm von seiner Rente von ca 1000 Euro nach Zahlung des Krankenversicherungsbeitrags von 450 Euro und Ratenzahlungen für Darlehen von 300 Euro seit einem Jahr nur 250 Euro zum Leben verblieben. Er erwarte, dass sein Antrag in den nächsten 14 Tagen bearbeitet werde. Der Beklagte fasste die Eingabe des [X.] vom 10.10.2017 als neuerlichen Antrag auf Grundsicherungsleistungen auf und lehnte ihn mit Bescheid vom 7.3.2018 ab.

3

Im Rahmen des Schriftverkehrs der Beteiligten im [X.] an die Eingabe des [X.] vom 10.10.2017 stellte sich heraus, dass der Kläger den Widerspruchsbescheid vom 26.7.2017 nicht erhalten hatte. Der Beklagte übersandte dem Kläger den Widerspruchsbescheid vom 26.7.2017 daraufhin am 31.1.2018 per E-Mail. Unter Hinweis auf diesen Widerspruchsbescheid und eine Untätigkeit des Beklagten erhob der Kläger am 28.2.2018 Klage, die das Sozialgericht (SG) [X.] durch Gerichtsbescheid vom 15.11.2018 mit der Begründung abwies, der Beklagte habe sowohl den sozialhilferechtlichen Bedarf des [X.] als auch dessen zu berücksichtigendes Einkommen zutreffend ermittelt. Im Berufungsverfahren teilte der Kläger mit, er sei nicht davon ausgegangen, dass der Bescheid vom 7.3.2018 bestandskräftig geworden sei. Er sei vielmehr der Auffassung, dass mit seiner Klage auch die jeweils zukünftigen Bescheide mitumfasst seien und nicht nur Grundsicherungsleistungen für die [X.] vom [X.] bis zum 9.10.2017. Das [X.] ([X.]) hat die Berufung mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom [X.] zurückgewiesen: [X.] [X.]raum sei die [X.] vom [X.] bis zum 9.10.2017, da der Kläger gegen den Bescheid vom 7.3.2018 für die Folgezeit keine Rechtsmittel eingelegt habe. Der Sache nach habe der Kläger keinen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen während dieses [X.]raums.

4

Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im [X.]-Urteil.

5

II. Die Beschwerde des [X.] gegen die Nichtzulassung der Revision im bezeichneten Urteil des [X.] ist zulässig, denn er hat einen Verstoß gegen das Recht auf Entscheidung über die erhobenen Ansprüche nach § 123 Sozialgerichtsgesetz ([X.]) und damit einen Verfahrensmangel hinreichend bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 [X.] [X.]). Der gerügte Mangel liegt auch vor. Auf der Grundlage von § 160a Abs 5 [X.] macht der Senat daher von der Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen.

6

Die Entscheidung des [X.] beruht auf einem Verfahrensmangel nach § 160 Abs 2 [X.] [X.], weil das [X.] den Streitgegenstand verkannt und damit gegen § 123 [X.] verstoßen hat.

7

Nach § 123 [X.] entscheidet das Gericht über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Bei unklaren Anträgen muss das Gericht mit den Beteiligten klären, was gewollt ist, und darauf hinwirken, dass sachdienliche und klare Anträge gestellt werden (§ 106 Abs 1, § 112 Abs 2 Satz 2 [X.]; [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.], 13. Aufl 2020, § 123 Rd[X.]; [X.], aaO, § 112 RdNr 8). Im Übrigen ist das Gewollte, also das mit der Klage oder der Berufung verfolgte Prozessziel, bei nicht eindeutigen Anträgen im Wege der Auslegung festzustellen (vgl etwa BSG vom 22.3.1988 - 8/5a [X.] - [X.], 93, 94 = [X.] 2200 § 205 [X.]; BSG vom 8.12.2010 - B 6 [X.]/09 R - RdNr 17). In entsprechender Anwendung der Auslegungsregel des § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist der wirkliche Wille zu erforschen. Dabei sind nicht nur der Wortlaut, sondern auch die sonstigen Umstände des Falles, die für das Gericht und die anderen Beteiligten erkennbar sind, zu berücksichtigen (vgl nur BSG vom [X.] - B 11 AL 23/02 R - juris Rd[X.]1; BSG vom 8.11.2005 - B 1 KR 76/05 B - [X.] 4-1500 § 158 [X.] RdNr 6). Im Zweifel ist der Antrag unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsprinzips so auszulegen, dass das Begehren des [X.] möglichst weitgehend zum Tragen kommt (vgl etwa BSG vom 6.4.2011 - B 4 [X.]/10 R - [X.], 86 = [X.] 4-1500 § 54 [X.]1, Rd[X.]9; BSG vom 24.4.2008 - [X.]/9a [X.] - [X.] 4-3250 § 69 [X.] RdNr 16). Diesen Anforderungen hat das [X.] nicht genügt.

8

Zur Auslegung des Antrags ist das Revisionsgericht berufen, ohne dabei an die durch das [X.] vorgenommene Auslegung gebunden zu sein (vgl BSG vom 8.12.2010 - B 6 [X.]/09 R - RdNr 18). Mit seiner Klage verfolgte der Kläger das Ziel, Grundsicherungsleistungen ab August 2016 zu erhalten. Eine Beschränkung auf den [X.]raum vom [X.] bis zum 9.10.2017, den das [X.] seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, ist seinem Vortrag nicht zu entnehmen. Im Gegenteil teilt der Kläger mit Schreiben seiner Prozessbevollmächtigten im Berufungsverfahren ausdrücklich mit, dass sich seine Klage auch auf zukünftige [X.]räume bezieht. Ob die Klage hinsichtlich des [X.]raums ab dem 10.10.2017 zulässig ist, ob ihr etwa die Bestandskraft des Bescheids vom 7.3.2018 entgegensteht oder ob insoweit (ggf konkludent) ein Antrag nach § 44 [X.] - ([X.]) gestellt wurde, ist eine andere Frage, über die das [X.] zu entscheiden haben wird. Es ist indes mit § 123 [X.] nicht vereinbar, den Streitgegenstand entgegen dem klaren Prozessvortrag des [X.] von vornherein mit der Begründung zu begrenzen, dieser Bescheid sei nicht nach § 96 [X.] Gegenstand des vorliegenden Verfahrens geworden. Jedenfalls wendet sich der Kläger in der Sache gegen die in diesem Bescheid getroffene Regelung.

9

Damit liegt ein Verfahrensfehler iS des § 160 Abs 2 [X.] [X.] vor, auf dem die unvollständige Entscheidung beruht und der zur Aufhebung des Berufungsurteils führt. Der Senat macht von seiner Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen (vgl § 160a Abs 5 [X.]).

Die Kostenentscheidung bleibt dem [X.] vorbehalten.

[X.]

Meta

B 8 SO 27/21 B

08.12.2022

Bundessozialgericht 8. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SO

vorgehend SG Chemnitz, 15. November 2018, Az: S 21 SO 60/18, Gerichtsbescheid

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 123 SGG, § 133 BGB

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 08.12.2022, Az. B 8 SO 27/21 B (REWIS RS 2022, 8826)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 8826

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