Bundesgerichtshof, Beschluss vom 27.07.2023, Az. AK 50/23

3. Strafsenat | REWIS RS 2023, 5114

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Tenor

Die Untersuchungshaft hat [X.].

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den [X.] findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem [X.] übertragen.

Gründe

I.

1

Der Angeklagte befindet sich seit seiner Auslieferung aus [X.] am 12. Januar 2023 ununterbrochen in Untersuchungshaft aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des [X.] vom 29. März 2022 ([X.]). Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeklagte habe sich in S.         und anderen Orten in der [X.] in der [X.] von Anfang August 2019 bis Mai 2020 und von Ende März bis Mitte April 2021 in zwei Fällen als Mitglied an der [X.] „Arbeiterpartei [X.]“ („[X.] Karkeren [X.]“, [X.]) beteiligt, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet seien, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB (in Verbindung mit § 53 Abs. 1 StGB).

2

Die Generalstaatsanwaltschaft [X.] hat mit Anklageschrift vom 12. April 2023 wegen des dem Haftbefehl zugrundeliegenden [X.] Anklage zum [X.] [X.] erhoben. Die Übersetzung der Anklageschrift in die [X.] ist dem Angeklagten am 16. Mai 2023 zugestellt worden. Das [X.] hat das Hauptverfahren mit Beschluss vom 29. Juni 2023 eröffnet und den Beginn der Hauptverhandlung mit Rücksicht auf die Jahresurlaube der Senatsmitglieder für den 15. August 2023 vorgesehen. Es hält die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich.

II.

3

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor. Bei der Berechnung der Frist des § 121 Abs. 1 [X.] hat im Ausland etwa erlittene Auslieferungshaft außer Betracht zu bleiben, weil es sich um eine Zwangsmaßnahme nach ausländischem Recht handelt, auf deren Vollzug [X.] Behörden und Gerichte keinen Einfluss haben ([X.], Beschlüsse vom 9. Februar 2021 - AK 3/21 u.a., juris Rn. 3; vom 24. Februar 2021 - AK 9/21, juris Rn. 29; [X.] [X.]/[X.], [X.]., § 121 Rn. 4a, jeweils mwN).

4

1. Der Angeklagte ist der ihm zur Last gelegten Taten dringend verdächtig.

5

a) Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:

6

aa) Die [X.] wurde 1978 unter anderem von [X.] in der [X.] als Kaderorganisation mit dem Ziel gegründet, einen kurdischen Nationalstaat unter ihrer Führung zu schaffen. Zur Verwirklichung dieses Plans initiierte die [X.] verschiedene Organisationen, die mehrfach ihre Bezeichnung wechselten. So besteht seit 2007 - unter dieser Bezeichnung - die „Koma Civakên [X.]“ („Vereinigte Gemeinschaften [X.]“, im Folgenden: [X.]), die auf einen staatsähnlichen „konföderalen“ Verbund der kurdischen Siedlungsgebiete in der [X.], in [X.], im [X.] und im [X.] zielt und dabei umfangreiche staatliche Attribute beansprucht wie Parlament, Gerichtsbarkeit, Armee und Staatsbürgerschaft.

7

Die [X.] ist, ebenso wie die [X.], auf die Person [X.] ausgerichtet. Daneben vollzieht sich die Willensbildung innerhalb der Organisation etwa über den „Kongra Gele [X.]“ ([X.] - „Volkskongress [X.]“) und den [X.]-Exekutivrat. Die Führungskader folgen grundsätzlich dieser Willensbildung und setzen die getroffenen Entscheidungen um. Zur Überprüfung haben sie den Kadern [X.] regelmäßig Bericht über ihre Tätigkeit zu erstatten.

8

Fester Bestandteil der Strukturen der [X.]/[X.] sind auch die „[X.]“ („[X.]“, fortan: [X.]), die nach dem Willen der Führung handeln. Sie betrachten im Rahmen der von ihnen vorgenommenen „Selbstverteidigung“ einen [X.] als legitimes Mittel. Die [X.] verübten vor allem im Südosten der [X.] mittels Sprengstoff und Waffen Anschläge gegen [X.] Soldaten sowie Polizisten, wobei sie eine Vielzahl von ihnen verletzten oder töteten. Die [X.] bekannten sich seit der Aufkündigung eines „Waffenstillstands" zum 1. Juni 2004 zu über hundert Anschlägen.

9

Das Präsidium des Exekutivrats der [X.] erklärte, nachdem [X.] aus der Haft heraus eine Friedensbotschaft verlesen und zu einer gewaltfreien politischen Lösung des Konflikts aufgerufen hatte, ab dem 23. März 2013 eine Feuerpause. In der Folge verübten die [X.] zwar deutlich weniger Anschläge, ohne dass damit aber eine Abkehr von der Ausrichtung der Organisation auf die Begehung von Tötungsdelikten verbunden gewesen wäre; vielmehr enthielt die Erklärung bereits den Vorbehalt, dass im Fall von Angriffen von dem „Recht auf Selbstverteidigung“ Gebrauch gemacht und Vergeltung geübt werde.

Nachdem der „Friedensprozess“ im Juli 2015 endgültig zum Erliegen gekommen war, kam es in der Folge zu Gefechten mit den [X.]n Streitkräften, die ihrerseits mit massiver militärischer Gewalt vorgingen. In diesen Auseinandersetzungen spielte die „[X.] revolutionäre Jugendbewegung“ ([X.] - Yurtsever [X.]), die sich mit den Verteidigungskräften der [X.] zusammenschloss, eine bedeutsame Rolle. Parallel dazu nahmen die Anschläge der [X.], bei denen Angehörige der [X.]n Sicherheitskräfte, aber auch Zivilisten, getötet oder verletzt wurden, wieder erheblich zu.

Der Schwerpunkt der Strukturen und das eigentliche Aktionsfeld der [X.] liegen in den von [X.] bevölkerten Gebieten in der [X.], in [X.], im [X.] und im [X.]. Zahlreiche - regelmäßig nur auf die Unterstützung der politischen und militärischen Auseinandersetzung mit dem [X.]n Staat ausgerichtete - Aktivitäten betreibt die [X.] indes auch in [X.] und anderen Ländern [X.]. Dazu bediente sie sich bis Juli 2013 der „[X.] Demokratik a [X.]“ („[X.]“, im Folgenden: [X.]), welche die Direktiven der [X.]-Führung umzusetzen hatte und namentlich dazu diente, die in [X.] lebenden [X.] zu organisieren. Entsprechend den Vorgaben des 10. [X.]-Kongresses vom Mai 2013 zur Neustrukturierung der [X.] in [X.] benannte sich der [X.] Dachverband [X.]-naher Vereine „[X.] der kurdischen Vereine in [X.]“ ([X.]) im Juli 2013 in „Kongress der kurdisch-demokratischen Gesellschaft in [X.]“ ([X.]) um. Unter der Bezeichnung [X.] werden nicht nur die Strukturen des [X.], sondern auch diejenigen der [X.] fortgeführt.

Unterhalb der Führungsebene war und ist [X.] in Organisationseinheiten verschiedener Ebenen eingeteilt. In [X.] gab es seit 2002 die drei Sektoren („saha“) „Süd“, „Mitte“ und „Nord“; 2012 wurde der Sektor „Süd“ in die Sektoren „Süd 1“ und „Süd 2“ aufgeteilt. [X.] wurden in den vier Sektoren neun Regionen („eyalet“) mit insgesamt 31 Gebieten („bölge“) gebildet. Jede Organisationseinheit wird in der Regel von einem durch die Vereinigung eingesetzten und alimentierten, professionellen Führungskader geleitet. Die Organisationseinheiten stellen der [X.] Finanzmittel bereit, rekrutieren Nachwuchs für den Guerillakampf und betreiben Propaganda. Dabei haben sie die Vorgaben der [X.]führung umzusetzen und ihr über die Erfüllung ihrer Aufgaben regelmäßig Bericht zu erstatten.

bb) Der Angeklagte war in der [X.] von Anfang April 2019 bis zur folgenden Kaderrotation im Mai 2020 als hauptverantwortlicher Leiter des [X.]-Gebiets S.         tätig. In dieser Funktion oblag ihm die Organisation [X.]-bezogener Veranstaltungen und Anweisung von Teilnehmern an diesen. Dafür nahm er unter anderem eine Vielzahl von Treffen mit Leitern anderer [X.]-Gebiete sowie vorgesetzten Kadern wahr, um einzelne Veranstaltungen und Demonstrationen - wie etwa den „             “ von [X.]             nach S.        im Februar 2020 - zu organisieren bzw. diesbezügliche Anweisungen entgegenzunehmen.

Ende März/Anfang April 2021 wirkte der mittlerweile in [X.] Angeklagte zusammen mit anderen Personen mehrfach auf die zum damaligen [X.]punkt 19 Jahre alte Zeugin      [X.]ein, um diese zum [X.] an die [X.] zu bewegen. Nachdem die Zeugin ihren Beitritt erklärt hatte, wurde sie am 11. April 2021 von anderen Personen zu einer ideologischen Schulung nach [X.] und von dort aus weiter nach [X.] und sodann nach [X.] verbracht, von wo ihr schließlich die Flucht gelang.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den vollzogenen Haftbefehl Bezug genommen.

b) Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus Folgendem:

aa) Die Erkenntnisse zur [X.] beruhen auf den Ergebnissen von Strukturermittlungen, insbesondere Sachverständigengutachten, Auswertungsberichten und -vermerken des [X.] sowie Gerichtsentscheidungen.

bb) Der Angeklagte hat sich zum Tatvorwurf bislang nicht geäußert. Die diesbezüglichen Erkenntnisse ergeben sich insbesondere aus einer Vielzahl von Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung, aus Observationen sowie aus Angaben von Zeugen; letzteres zuvörderst im Zusammenhang mit der Anwerbung der Zeugin      [X.], die den Angeklagten zudem im Rahmen einer Wahllichtbildvorlage als den ihr bekannten „     “ identifiziert hat.

c) In rechtlicher Hinsicht folgt daraus, dass sich der Angeklagte zwischen Anfang August 2019 und Mitte April 2021 mit hoher Wahrscheinlichkeit jedenfalls wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland in einem Fall strafbar gemacht hat (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2 StGB). Ob das Verhalten des Angeklagten darüber hinaus - wovon der vollzogene Haftbefehl und die zugelassene Anklage ausgehen - konkurrenzrechtlich tatsächlich zwei tatmehrheitliche Taten darstellt, ist für die [X.]entscheidung ohne Belang. Lediglich eine Tat im Rechtssinne könnte anzunehmen sein, wenn sich der Angeklagte - bedingt durch die Kaderrotation - an unterschiedlichen Orten fortlaufend an der terroristischen Vereinigung beteiligt hätte. Für eine zur Annahme von Tatmehrheit ausreichende Unterbrechung seiner Tätigkeit (zu den diesbezüglichen Voraussetzungen vgl. [X.], Beschluss vom 30. März 2001 - StB 4/01 u.a., [X.]St 46, 349, 357 f.; MüKoStGB/[X.]/Anstötz, 4. Aufl., § 129 Rn. 85, 137; SSW-StGB/[X.], 5. Aufl., § 129 Rn. 55; jeweils mwN) ist dem bisherigen Beweisergebnis jedenfalls nichts zu entnehmen.

Das [X.] hat die Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung bereits begangener und künftiger Taten unter anderem der jeweiligen Verantwortlichen für die in [X.] bestehenden Gebiete der [X.] und ihrer Teilorganisation in [X.] allgemein am 6. September 2011 und konkret den Angeklagten betreffend am 4. März 2022 erteilt (§ 129b Abs. 1 Satz 3 StGB).

2. Es bestehen der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 [X.] sowie - auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 [X.] (s. [X.], Beschluss vom 24. Januar 2019 - AK 57/18, juris Rn. 30 ff.) - derjenige der [X.]. Nach Würdigung aller Umstände ist es wahrscheinlicher, dass sich der Angeklagte, auf freien Fuß gesetzt, dem Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung halten werde. Zwar ist der unbestrafte Angeklagte Vater zweier Töchter. Er verfügt im Inland jedoch über keinen festen Wohnsitz, so dass die im Falle einer Verurteilung wegen zumindest eines Verbrechens drohende Freiheitsstrafe einen erheblichen Fluchtanreiz darstellt. Hieran ändert auch der seitens der Verteidigung des Angeklagten angeführte Umstand, dass die in [X.] erlittene Auslieferungshaft von über sieben Monaten Dauer in der Regel auf die auszusprechende Freiheitsstrafe anzurechnen sei, nichts. Selbst unter Berücksichtigung dieser Auslieferungshaft verbleibt eine hinreichende „Nettostraferwartung“ (vgl. hierzu Senat, Beschlüsse vom 2. November 2016 - StB 35/16, juris Rn. 9; vom 3. Mai 2023 - StB 26/23, juris Rn. 13; [X.]/[X.], [X.], 66. Aufl., § 112 Rn. 23 mwN).

Eine - bei verfassungskonformer Auslegung im Rahmen des § 112 Abs. 3 [X.] ebenfalls mögliche - Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 [X.]) ist nicht erfolgversprechend. Der Zweck der Untersuchungshaft kann nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als ihren Vollzug erreicht werden.

3. Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 [X.]) sind gegeben. Die besondere Schwierigkeit und der Umfang der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen die [X.]. Der Aktenbestand des Verfahrens umfasst derzeit 15 Bände. Die Generalstaatsanwaltschaft hat die 91 Seiten starke Anklageschrift, deren zeitaufwändige Übersetzung ins [X.] nach Eingang beim [X.] von dort noch zu veranlassen gewesen ist, innerhalb von vier Monaten nach Auslieferung des Angeklagten fertiggestellt. Entgegen der Darstellung der Verteidigung des Angeklagten sind in diesem [X.]raum eine Vielzahl weiterer erforderlicher Verfahrenshandlungen ausgeführt worden. Wegen der Einzelheiten wird insoweit auf die Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft und den Schriftsatz der Verteidigung vom 19. Juli 2023 Bezug genommen. Dass der Beginn der Hauptverhandlung erst etwa sieben Wochen nach der für sich gesehen zeitgerecht beschlossenen Eröffnung des Hauptverfahrens vorgesehen ist, begegnet entgegen der Auffassung der Verteidigung angesichts der seitens des [X.]s im Einzelnen dargelegten vorgezogenen Urlaubsabwicklung ebenfalls keinen durchgreifenden Bedenken.

4. Schließlich steht die Untersuchungshaft nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Angeklagten einerseits sowie dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit andererseits nicht zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis (§ 120 Abs. 1 Satz 1 [X.]). Hieran ändern entgegen der Auffassung der Verteidigung auch die mit der Ausgestaltung des [X.] untrennbar einhergehenden Beschwernisse des Angeklagten nichts.

[X.]                    [X.]

Meta

AK 50/23

27.07.2023

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: False

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 27.07.2023, Az. AK 50/23 (REWIS RS 2023, 5114)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 5114

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

AK 44/22 (Bundesgerichtshof)


AK 49/23 (Bundesgerichtshof)


AK 48/22 (Bundesgerichtshof)


AK 66/19 (Bundesgerichtshof)


AK 3/18 (Bundesgerichtshof)

Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung: Völkerrechtliche Rechtfertigung für terroristische Anschläge


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.