Bundessozialgericht, Urteil vom 09.11.2010, Az. B 4 AS 37/09 R

4. Senat | REWIS RS 2010, 1596

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

(Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren - Verfahrensfehler - Verletzung der Anhörungspflicht - erstmals im Widerspruchsbescheid angeführte innere Tatsache bzgl grober Fahrlässigkeit gem § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB 10 - Heilung - Nachholung einer fehlenden Anhörung im Klageverfahren - gesondertes Anhörungsschreiben - freigestellte Aussetzung des Verfahrens gem § 114 SGG - Setzung einer angemessenen Frist - Kenntnisnahme des geäußerten Vorbringens - Mitteilung des Überprüfungsergebnisses)


Leitsatz

Die Nachholung der fehlenden Anhörung während des Gerichtsverfahrens setzt voraus, dass die beklagte Behörde dem Kläger in angemessener Weise Gelegenheit zur Äußerung einräumt und danach zu erkennen gibt, ob sie nach Prüfung dieser Tatsachen am bisher erlassenen Verwaltungsakt festhält (Bestätigung von BSG vom 31.10.2002 - B 4 RA 15/01 R = SozR 3-1300 § 24 Nr 22; BSG vom 6.4.2006 - B 7a AL 64/05 R).

Tenor

Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 17. März 2009 aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des [X.] vom 14. August 2007 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des [X.] für das Berufungs- und das Revisionsverfahren.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt war, die Bewilligung von [X.] für die [X.] bis zum 31.7.2005 aufzuheben und die Erstattung von 2525 Euro zu verlangen.

2

Der Kläger beantragte am 14.2.2005 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende und gab dabei an, er beziehe bis zum [X.]. Am [X.] teilte der Kläger mit, dass er seit dem [X.] Krankengeld beziehe. Gleichwohl gewährte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom [X.] für den Zeitraum vom 1.3. bis zum 31.7.2005 [X.] in Höhe von 505 Euro monatlich.

3

Die Beklagte hob den Bewilligungsbescheid mit Bescheid vom 14.7.2005 unter Hinweis auf § 48 [X.] wegen des Bezugs von Krankengeld auf. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch mit der Begründung ein, er habe den Bezug von Krankengeld mitgeteilt. Den Widerspruch wies die Beklagte mit der Begründung zurück, der Bewilligungsbescheid sei gemäß § 45 [X.] zurückzunehmen. Der Kläger könne sich nicht auf Vertrauensschutz berufen. Er habe die Rechtswidrigkeit des Bescheids infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt, denn er habe der dem Bescheid beigefügten Berechnung entnehmen können, dass keinerlei Einkommen angerechnet worden sei (Widerspruchsbescheid vom 31.8.2005).

4

Das [X.] hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben (Urteil vom [X.]). Das L[X.] hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des [X.] aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 17.3.2009). Es hat zur Begründung ausgeführt, zwar sei der Bescheid vom [X.] zustande gekommen, denn der Kläger sei vor dem Erlass des Bescheides nicht angehört worden. Dieser Verfahrensfehler sei im Widerspruchsverfahren nicht geheilt worden, denn der Kläger habe sich zu dem Vorwurf des grob fahrlässigen Verhaltens nicht äußern können. Der Verfahrensmangel sei jedoch im Klageverfahren durch die Stellungnahme des [X.] zu dem Vorwurf der groben Fahrlässigkeit geheilt. Zwar sei eine Heilung im Klageverfahren nach der Rechtsprechung des 4. Senats des B[X.] ([X.]-1300 § 24 [X.]) ausgeschlossen, wenn die Behörde die Anhörungspflicht vorsätzlich, rechtsmissbräuchlich oder durch Organisationsverschulden verletzt. Diese einschränkende Auslegung werde zutreffend vom 2. Senat des B[X.] nicht geteilt ([X.] 4-1300 § 41 [X.]). Im Übrigen seien hier keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Beklagte ihre Anhörungspflicht vorsätzlich verletzt haben sollte. Allerdings sei bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz kein förmliches Verwaltungsverfahren durchgeführt worden. Zwar sei der 7a. Senat der Auffassung, es sei für die Heilung nicht ausreichend, dass der Betroffene - wie im Widerspruchsverfahren - auf Grund des Bescheides die Möglichkeit habe, Stellung zu nehmen (B[X.] Urteil vom [X.] - B 7a [X.] 64/05 R). Es müsse danach gewährleistet sein, dass die beklagte Beteiligte zumindest formlos darüber befinde, ob sie bei ihrer Entscheidung verbleibe. Hingegen sei der Senat der Auffassung, dass eine fehlende Anhörung wirksam nachgeholt und geheilt sei, wenn in der mündlichen Verhandlung der letzten Tatsacheninstanz des sozialgerichtlichen Verfahrens den Beteiligten ausdrücklich Gelegenheit gegeben werde, sich zu äußern und der Hilfebedürftige sich im Übrigen zu den relevanten Umständen im Klageverfahren geäußert habe. Ein nochmaliger Hinweis auf die bereits bekannten Haupttatsachen durch den Leistungsträger in einem formellen Anhörungsverfahren unter Einräumung einer Äußerungsfrist sei eine inhaltsleere Formalität.

5

Mit seiner vom L[X.] zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung der §§ 24, 41 [X.]. Er ist der Auffassung, dass die Nachholung der Anhörung im gerichtlichen Verfahren ein förmliches Verwaltungsverfahren voraussetze. Dies könne auch nicht als bloße [X.] abgetan werden. Zudem könne er sich auf Vertrauensschutz berufen. Hilfsweise werde geltend gemacht, dass die Beklagte § 40 Abs 2 [X.]B II gänzlich unberücksichtigt gelassen habe.

6

Der Kläger beantragt,
das Urteil des [X.] vom 17. März 2009 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des [X.] vom 14. August 2007 zurückzuweisen.

7

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

8

Sie ist der Auffassung, dem Anhörungsgebot sei durch die Akteneinsicht im Widerspruchsverfahren genügt worden. Jedenfalls sei von einer Heilung im Gerichtsverfahren auszugehen.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision des [X.] ist begründet (§ 170 [X.] 2 Satz 1 [X.]G). Das [X.] hat zu Unrecht das Urteil des [X.] aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist allein der Bescheid vom 14.7.2005 in der maßgebenden Fassung des Widerspruchsbescheides vom [X.].

Der Rücknahmebescheid ist wegen Verstoßes gegen die [X.] nach § 24 [X.]B X rechtswidrig. Nach § 24 [X.] 1 [X.]B X ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Nach [X.] 2 der Vorschrift kann davon unter bestimmten - hier jedoch nicht einschlägigen - Ausnahmen abgesehen werden.

Die Beklagte hat dem Kläger im Ausgangsbescheid nicht alle entscheidungserheblichen Haupttatsachen mitgeteilt, auf die sich die Rücknahme auf der Grundlage ihrer Rechtsansicht stützen wollte. [X.] iS von § 24 [X.] 1 [X.]B X sind alle Tatsachen, die zum Ergebnis der Verwaltungsentscheidung beigetragen haben, dh, auf die sich die Verwaltung auch gestützt hat (B[X.]E 69, 247 = [X.]-1300 § 24 [X.]). Die Beklagte hatte die Aufhebung der Bewilligungsentscheidung im Ausgangsbescheid zunächst auf § 48 [X.]B X gestützt. Erstmals im - insoweit maßgebenden - Widerspruchsbescheid vom [X.] ging die Beklagte davon aus, dass für die Rücknahme der Leistungsbewilligung § 45 [X.]B X einschlägig sei. Sie sah auch die Voraussetzungen einer Rücknahme für die Vergangenheit als erfüllt an, weil der Kläger die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt habe (§ 45 [X.] 4 Satz 1 [X.]B X iVm § 45 [X.] 2 Satz 3 [X.] [X.]B X).

Die Beklagte hat dem Kläger im Verwaltungsverfahren zu der erstmals im Widerspruchsbescheid angeführten inneren Tatsache, er habe die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides vom [X.] zumindest infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt, keine Gelegenheit zu einer vorherigen Stellungnahme eingeräumt. Hierdurch hat sie § 24 [X.]B X verletzt.

Die fehlende Anhörung ist auch nicht nach § 41 [X.] 2 iVm [X.] 1 [X.] [X.]B X nachgeholt worden. Eine Heilung im Revisionsverfahren ist nicht mehr möglich. Der Senat folgt der bisherigen Rechtsprechung des B[X.], wonach eine Nachholung der Anhörung im Gerichtsverfahren jedenfalls ein entsprechendes "mehr oder minder" förmliches Verwaltungsverfahren - ggf unter Aussetzung des Gerichtsverfahrens - voraussetzt (B[X.] [X.]-1300 § 24 [X.]; B[X.] Urteil vom [X.] - B 7a [X.] 64/05 R; vgl auch B[X.] [X.] 4-5868 § 3 [X.] Rd[X.] 17). Der Auffassung, die Nachholung der Anhörung gemäß § 41 [X.] 1 [X.] [X.]B X müsse sich während des gerichtlichen Verfahrens in einem besonderen Verwaltungsverfahren vollziehen, folgt auch die herrschende Meinung in der Literatur (Schütze in von [X.], [X.]B X, 7. Aufl 2010, § 41 Rd[X.] 16; [X.] in LPK-[X.]B X, 2. Aufl 2007, § 41 Rd[X.] 15; [X.] in [X.], [X.]B, Stand 2010, § 41 [X.]B X Rd[X.] 22).

Die Nachholung der fehlenden Anhörung setzt außerhalb des Verwaltungsverfahrens voraus, dass die Handlungen, die an sich nach § 24 [X.] 1 [X.]B X bereits vor Erlass des belastenden Verwaltungsaktes hätten vorgenommen werden müssen, von der Verwaltung bis zum [X.]chluss der gerichtlichen Tatsacheninstanz vollzogen werden. Ein während des Gerichtsverfahrens zu diesem Zweck durchzuführendes förmliches Verwaltungsverfahren liegt vor, wenn die beklagte Behörde dem Kläger in angemessener Weise Gelegenheit zur Äußerung zu den entscheidungserheblichen Tatsachen gegeben hat und sie danach zu erkennen gibt, ob sie nach erneuter Prüfung dieser Tatsachen am bisher erlassenen Verwaltungsakt festhält. Dies setzt regelmäßig voraus, dass - ggf nach freigestellter Aussetzung des Verfahrens gemäß § 114 [X.] 2 Satz 2 [X.]G - die Behörde den Kläger in einem gesonderten "[X.]" alle Haupttatsachen mitteilt, auf die sie die belastende Entscheidung stützen will und sie ihm eine angemessene Frist zur Äußerung setzt. Ferner ist erforderlich, dass die Behörde das Vorbringen des Betroffenen zur Kenntnis nimmt und sich abschließend zum Ergebnis der Überprüfung äußert.

Der Senat stimmt der Einschätzung des Berufungsgerichts, es handele sich insoweit nur um eine inhaltsleere Formalität, nicht zu. Denn die in § 24 [X.]B X normierte [X.] verlöre jeglichen Gehalt, wenn der Verstoß im gerichtlichen Verfahren ohne jegliches formalisiertes Verfahren geheilt werden könnte. Vielmehr können nur die genannten verfahrensrechtlichen Anforderungen gewährleisten, dass die mit dem Anhörungsverfahren verfolgten Zwecke jedenfalls teilweise zur Geltung kommen. Mit der Regelung über die Anhörung beabsichtigt der Gesetzgeber, allgemein das Vertrauensverhältnis zwischen dem Bürger und der Sozialverwaltung zu stärken und die Stellung des Bürgers insbesondere durch den Schutz vor Überraschungsentscheidungen zu stärken (BT-Drucks 7/868 [X.] und 45). Insbesondere soll der Betroffene Gelegenheit erhalten, durch sein Vorbringen zum entscheidungserheblichen Sachverhalt die bevorstehende Verwaltungsentscheidung zu beeinflussen (B[X.]E 75, 159 = [X.]-1300 § 24 [X.]; B[X.]E 69, 247, 252 = [X.]-1300 § 24 [X.]; B[X.] [X.]-1300 § 24 [X.] 21).

Die genannten Zwecke können zwar ohnehin in vollem Umfang nur erfüllt werden, wenn die Anhörung vor Erlass des belastenden Verwaltungsaktes durchgeführt wird. Darüber hinaus kann eine Heilung des [X.] nach den mit der Anhörung verfolgten Funktionen noch während des Widerspruchsverfahrens erfolgen, wenn dem Betroffenen während des Vorverfahrens - zB durch Einlegung des Widerspruchs - hinreichende Gelegenheit gegeben worden ist, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern (B[X.]E 89, 111, 114 = [X.]-1300 § 1 [X.] 1; B[X.] [X.] 4-1300 § 24 [X.] 1). Befindet sich die Verwaltungsentscheidung hingegen nicht mehr im Verantwortungsbereich der Beklagten, so kann eine jedenfalls teilweise Verwirklichung der mit den [X.] verfolgten Zwecke nur noch erreicht werden, wenn durch die genannten verfahrensrechtlichen Vorkehrungen sichergestellt wird, dass die Nachholung der Verfahrenshandlung sich in einer dem Anhörungsverfahren möglichst vergleichbaren Situation vollzieht. Dies ist hier nach den für den Senat bindenden Feststellungen des [X.] nicht gegeben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 [X.]G.

Meta

B 4 AS 37/09 R

09.11.2010

Bundessozialgericht 4. Senat

Urteil

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Schleswig, 14. August 2007, Az: S 2 AS 812/05, Urteil

§ 24 Abs 1 SGB 10, § 41 Abs 1 Nr 3 SGB 10, § 41 Abs 2 SGB 10, § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB 10, § 48 SGB 10, § 114 Abs 2 S 2 SGG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 09.11.2010, Az. B 4 AS 37/09 R (REWIS RS 2010, 1596)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 1596

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

B 4 AS 47/15 R (Bundessozialgericht)

(Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren - Aufhebung einer Bewilligungsentscheidung nach § 48 Abs 1S 2 Nr 3 SGB …


B 10 LW 1/15 R (Bundessozialgericht)

Nachholung einer Anhörung im zurückverwiesenen Berufungsverfahren - Verfassungsmäßigkeit der Pflicht zur Hofabgabe


B 14 AS 144/10 R (Bundessozialgericht)

Grundsicherung für Arbeitsuchende - Rechtswidrigkeit der Rücknahme von Leistungsbewilligungen - Verfahrensmangel durch fehlende Anhörung eines …


B 14 AS 2/13 R (Bundessozialgericht)

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren - Grundsicherung für Arbeitsuchende - Bekanntgabe von Verwaltungsakten - Anhörungspflicht - Vertretung der …


B 11 AL 3/17 R (Bundessozialgericht)

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren - Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts - Verstoß gegen formelles Recht - …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.