Bundesgerichtshof, Beschluss vom 01.08.2023, Az. VI ZR 191/22

6. Zivilsenat | REWIS RS 2023, 6014

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Gehörsverstoß in einem Schadensersatzprozess: Fehlerhafte Anwendung einer Präklusionsvorschrift: Bestreiten der Beklagten zum Verdienstausfallschaden Verkehrsunfallverletzten in zweiter Instanz


Leitsatz

Zum Vorliegen eines Gehörsverstoßes in einem Schadensersatzprozess.

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des [X.] wird das Urteil des 1. Zivilsenats des [X.] vom 20. Mai 2022 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Klage unter Abänderung des Urteils des [X.] - 2. Zivilkammer - vom 29. Januar 2021 abgewiesen worden ist, soweit sie auf Zahlung von [X.] nebst anteiliger vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten, jeweils [X.] Zinsen, auf der Grundlage einer Haftungsquote der Beklagten als Gesamtschuldner von 1/3 gerichtet ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen.

Streitwert: bis 140.000 €

Gründe

I.

1

Die Parteien streiten um materiellen und immateriellen Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall.

2

Der Kläger bog am 6. Juli 2009 mit einem bei der [X.] versicherten Pkw von der [X.] auf einen Waldweg ein, der mit einem Hinweisschild "Waldweg - nur für Forstbetrieb gemäß § 11 SächsWaldG" gekennzeichnet war. Der Beklagte zu 1 kam ihm auf diesem Waldweg mit einer auf die Beklagte zu 2, die einen forstwirtschaftlichen Betrieb führt, zugelassenen und bei der [X.] zu 3 haftpflichtversicherten Sattelzugmaschine mit Tieflader entgegen. Die Fahrzeuge stießen zusammen.

3

Das [X.] hat der auf Zahlung von [X.] in Höhe von 49.674,15 €, Heilbehandlungskosten von 1.631,97 €, Schmerzensgeld von 80.000 €, einer monatlichen Schmerzensgeldrente von 545,83 € sowie außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten von 892,44 € nebst Zinsen und Feststellung der Ersatzpflicht für weitere Schäden gerichteten Klage im vollen Umfang stattgegeben. Eine gegen den Kläger und die [X.] gerichtete [X.] und Drittwiderklage der [X.] zu 3 hat es abgewiesen. Auf die Berufung der [X.] zu 1 bis 3 hat das [X.] das Urteil des [X.]s teilweise abgeändert. Es hat die Klage abgewiesen, soweit der Kläger [X.], Heilbehandlungskosten von über 532,12 €, mehr als 25.000 € Schmerzensgeld und Rechtsanwaltskosten über den Betrag von 691,33 € hinaus geltend gemacht sowie beantragt hat festzustellen, dass die [X.] als Gesamtschuldner mehr als 1/3 der künftig noch entstehenden materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen haben. Außerdem hat es dem Feststellungsantrag der [X.] zu 3 gegen den Kläger und die [X.] auf der Grundlage einer Haftungsquote von 2/3 zulasten des [X.] und der [X.] entsprochen. Die Revision hat das Berufungsgericht nicht zugelassen. Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde.

II.

4

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur teilweisen Aufhebung des angegriffenen Urteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht hat den Anspruch des [X.] auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt.

5

1. Das Berufungsgericht hat - soweit hier erheblich - zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, ein Anspruch auf Ersatz des geltend gemachten [X.]s bestehe nicht. Das [X.] habe einen solchen Anspruch zu Unrecht in Höhe von 49.674,19 € zuerkannt. Die Beklagte habe bereits in der Klageerwiderung sämtliche vom Kläger behaupteten Schäden in zulässiger Weise mit Nichtwissen bestritten. Der Kläger hätte daher den von ihm behaupteten [X.] substantiiert darlegen und unter Beweis stellen müssen. Er habe jedoch bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz in keiner für die [X.] einlassungsfähigen Weise zu dem von ihm behaupteten [X.] vorgetragen. Der Sachvortrag in der Klageschrift erschöpfe sich darin, die Einkommensverluste für die Jahre 2009 bis 2011 ohne nähere Darlegungen zu beziffern und diese für die Folgejahre mit mindestens 12.000 € anzugeben. Ohne nähere Darlegungen zu seiner beruflichen Tätigkeit in Verbindung mit der Vorlage entsprechender Verdienstbescheinigungen sei es den [X.] jedoch nicht möglich, den geltend gemachten Schaden nachzuvollziehen. Nach Ansicht des erstinstanzlichen Gerichts sei es hierauf nicht angekommen, da das [X.] rechtsfehlerhaft darauf abgestellt habe, die [X.] hätten sich gegen diese Ausführungen des [X.] nicht verwahrt. Erstmals mit den insoweit nicht nachgelassenen Schriftsätzen vom 12. Februar und 4. April 2022 habe der Kläger - unter Vorlage entsprechender Lohnbescheinigungen und Rentenbescheide - nun schlüssig zu dem von ihm behaupteten Schaden vorgetragen. Dieser Sachvortrag sei gemäß §§ 525, 296 Abs. 2 ZPO verspätet. [X.] Rechtsanwaltskosten seien nur aus dem berechtigten Gegenstandswert von 26.532,12 € zuzuerkennen.

6

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht den Vortrag in den Schriftsätzen vom 12. Februar und 4. April 2022 als nach §§ 525, 296 Abs. 2 ZPO präkludiert angesehen und dadurch das rechtliche Gehör des [X.] verletzt hat.

7

a) In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass Art. 103 Abs. 1 GG dann verletzt ist, wenn der Tatrichter Angriffs- oder Verteidigungsmittel einer Partei in offenkundig fehlerhafter Anwendung einer Präklusionsvorschrift zu Unrecht für ausgeschlossen erachtet hat (vgl. Senatsbeschluss vom 3. März 2015 - [X.], NJW-RR 2015, 1278 Rn. 7 mwN).

8

b) Nach den tatbestandlichen Feststellungen des [X.]s war der Vortrag des [X.] zum [X.] in erster Instanz unstreitig. Diese tatbestandlichen Feststellungen erbringen gemäß § 314 Satz 1 ZPO Beweis für das Vorbringen der Parteien am Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz (vgl. Senatsurteil vom 22. Dezember 2015 - [X.], juris Rn. 48). Das Berufungsgericht hat erstmals in der mündlichen Berufungsverhandlung darauf hingewiesen, dass es das Bestreiten der [X.] in zweiter Instanz berücksichtigen werde. Es hätte den daraufhin gehaltenen Vortrag des [X.] in den Schriftsätzen vom 12. Februar und 4. April 2022 nicht gemäß §§ 525, 296 Abs. 2 ZPO als verspätet zurückweisen dürfen.

9

aa) Das [X.] hat festgestellt, dass die Ausführungen des [X.] zum [X.] in erster Instanz unbestritten geblieben sind. In den Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen Urteils heißt es:

"Diese Umstände hätten bis zur Klageerhebung im September 2017 einen [X.] von 99.348,30 € zur Folge gehabt. Hiervon klagt der Kläger die Hälfte der Summe, 49.674,15 €, ein. Gegen diese Darlegungen haben sich die [X.] nicht verwahrt, sie sind der Meinung, dem Kläger stünde überhaupt kein Anspruch zu, weil er den Unfall allein verschuldet habe."

"Der Kläger hat seinen Verdienstausfall in der Klageschrift zum Klageantrag zu 1) ausführlich und unbestritten dargelegt."

Obwohl sich diese Passagen in den Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen Urteils finden, handelt es sich um tatbestandliche Feststellungen, deren Unrichtigkeit grundsätzlich nur im Berichtigungsverfahren nach § 320 ZPO geltend gemacht werden kann (vgl. Senatsurteil vom 22. Dezember 2015 - [X.], juris Rn. 50; [X.], Urteil vom 13. Juli 2000 - [X.], NJW 2001, 448, 449, juris Rn. 21 mwN). Diese Feststellungen stehen auch nicht im Widerspruch zu einer weiteren Passage im erstinstanzlichen Urteil, die lautet: "Die [X.] berufen sich auf Verjährung und bestreiten die Unfallfolgen." Denn hier wird nur ein allgemeines Bestreiten festgestellt, das sich - wie sich aus den oben zitierten Passagen ergibt - gerade nicht auf den Vortrag des [X.] zur Höhe des [X.]s bezieht. Die Beweiskraft des Tatbestands wird im Streitfall auch nicht durch das Sitzungsprotokoll nach § 314 Satz 2 ZPO entkräftet (vgl. zu den Voraussetzungen Senatsurteil vom 22. Dezember 2015 - [X.], juris Rn. 50). Eine Berichtigung des Tatbestands nach § 320 ZPO ist nicht beantragt worden.

bb) Vor diesem Hintergrund war das in der Berufungsbegründung enthaltene Bestreiten der Höhe des [X.]s durch die [X.] als neues Verteidigungsmittel zu behandeln, das nur unter den Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO zuzulassen ist. Das Berufungsgericht hat, ohne auf die Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO einzugehen, den Parteien erstmals in der mündlichen Berufungsverhandlung mitgeteilt, dass es das Bestreiten der [X.] berücksichtige und angesichts dessen ein Beweisantritt des [X.] zum Verdienstausfall fehle. Nach der Zulassung eines neuen Verteidigungsmittels nach § 531 Abs. 2 ZPO muss das Gericht dem Gegner jedoch ermöglichen, hierzu Stellung zu nehmen (vgl. [X.] in [X.], ZPO, 81. Aufl., § 531 Rn. 26, § 530 Rn. 16; [X.]/[X.], ZPO, 34. Aufl., § 530 Rn. 25, 16). Dies hat das Berufungsgericht verkannt. Als Reaktion auf die Ausführungen des Berufungsgerichts hat der Kläger mit Schriftsätzen vom 12. Februar und 4. April 2022 weiter vorgetragen. Diesen Vortrag hätte das Berufungsgericht nicht als verspätet gemäß §§ 525, 296 Abs. 2 ZPO zurückweisen dürfen.

c) Die Gehörsverletzung ist auch erheblich. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Berufungsgericht, hätte es berücksichtigt, dass die Zurückweisung des Vortrags des [X.] in den Schriftsätzen vom 12. Februar und 4. April 2022 nach §§ 525, 296 Abs. 2 ZPO verfahrensfehlerhaft war, zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.

3. Im Übrigen war die Nichtzulassungsbeschwerde zurückzuweisen, weil weder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des [X.] erfordert (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Von einer näheren Begründung wird insoweit gemäß § 544 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO abgesehen.

[X.]    

        

von Pentz    

        

Klein 

        

Allgayer    

        

Linder    

        

Meta

VI ZR 191/22

01.08.2023

Bundesgerichtshof 6. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZR

vorgehend OLG Dresden, 20. Mai 2022, Az: 1 U 336/21

Art 103 Abs 1 GG, § 544 Abs 9 ZPO, § 296 Abs 2 ZPO, § 314 S 1 ZPO, § 525 ZPO, § 531 Abs 2 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 01.08.2023, Az. VI ZR 191/22 (REWIS RS 2023, 6014)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 6014

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

II ZR 117/21 (Bundesgerichtshof)


VI ZR 1304/20 (Bundesgerichtshof)

Rechtliches Gehör im Zivilprozess: Zulassung neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel in der Berufungsinstanz; Schriftsatznachlass nach Erteilung …


III ZR 184/22 (Bundesgerichtshof)

Gewährung rechtlichen Gehörs: Nichtzulassung von im Berufungsverfahren erfolgtem detailliertem Bestreiten - Berücksichtigung von Parteivorbringen


V ZR 146/14 (Bundesgerichtshof)

Nachbarausgleich bei Abgrabungsschaden: Verletzung rechtlichen Gehörs durch Übergehen klägerischen Parteivortrags; Inhalt des Ausgleichsanspruchs; Kostenentscheidung bei …


IX ZR 214/19 (Bundesgerichtshof)

Gehörsverstoß des Berufungsgerichts durch fehlerhafte Anwendung von Präklusionsvorschriften; Anforderungen an die Darlegung des Anspruchs auf …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

VI ZR 101/14

VI ZR 490/13

Literatur & Presse BETA

Diese Funktion steht nur angemeldeten Nutzern zur Verfügung.

Anmelden
Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.