Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 09.11.2005, Az. 4 StR 483/05

4. Strafsenat | REWIS RS 2005, 931

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[X.] vom 9. November 2005 in der Strafsache gegen wegen Körperverletzung mit Todesfolge hier: nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungs- verwahrung - 2 - Der 4. Strafsenat des [X.] hat auf Antrag des Generalbundes-anwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 9. November 2005 gemäß § 349 Abs. 2 StPO einstimmig beschlossen: Die Revision des Verurteilten gegen das Urteil des [X.] vom 8. Juli 2005 wird als unbegründet verwor-fen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen. Gründe: Das [X.] hat die nachträgliche Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 2 StGB angeordnet. Hiergegen wendet sich die Revision des Verurteilten, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts beanstandet. Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg. 1. Der Verurteilte war vom [X.] mit Urteil vom 10. Oktober 1996 wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von neun Jah-ren verurteilt worden. Ferner wurde seine Unterbringung in einer Entziehungs-anstalt angeordnet. Die Voraussetzungen der Unterbringung in der Sicherungs-verwahrung hatte das [X.] mit der Begründung verneint, dass ein Hang des Verurteilten zu erheblichen Straftaten nicht festgestellt werden könne. [X.] der Verurteilung war ein Tatgeschehen, in dessen Verlauf der infolge vorausgegangenen Drogen- und Alkoholgenusses in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigte Verurteilte dem Tatopfer unter anderem mit großer Wucht mindestens 13 in den Kopf- und Halsbereich geführte Fußtritte versetzte, an deren Folgen es kurze Zeit später verstarb. Der Verurteilte befand sich zu-- 3 - nächst im Maßregelvollzug. Am 2. Februar 1998 ordnete die zuständige [X.] an, dass die Unterbringung in der Entziehungsanstalt nicht weiter zu vollziehen sei. Nachdem die hiergegen gerichtete Beschwerde des Verurteilten erfolglos geblieben war, wurde er am 27. März 1998 in den Strafvollzug verlegt. Als Entlassungstermin war zuletzt der 10. März 2005 vor-gesehen. Unter dem 1. März 2005 hat die St[X.]tsanwaltschaft beantragt, die nach-trägliche Sicherungsverwahrung des Verurteilten nach § 66 b StGB anzuord-nen. Am 9. März 2005 erging gegen den Verurteilten [X.] ge-mäß § 275 a Abs. 6 StPO. 2. Das [X.] hat die Voraussetzungen des § 66 b Abs. 2 StGB be-jaht. Als —neue Tatsachenfi im Sinne dieser Bestimmung hat es folgende Um-stände gewertet: die —zwischenzeitlich verfestigte dissoziale [X.] des Verurteilten, ein bei ihm festgestellter —frontal betonter [X.], seine wiederholten verbal-aggressiven Angriffe und Drohungen auf [X.] im Vollzug sowie seine Therapieunfähigkeit bzw. [X.]unwilligkeit. Im Rahmen einer anschließenden Gesamtwürdigung ist es sachverständig beraten durch die Psychiater [X.] und [X.] zu der Einschätzung gelangt, dass der Ver-urteilte in Freiheit mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt wer-den. 3. Diese Beurteilung hält, wenn auch nicht in allen Punkten ihrer [X.], so doch im Ergebnis rechtlicher Nachprüfung stand. a) Das [X.] hat die Eingangsvoraussetzung des § 66 b Abs. 2 StGB zutreffend bejaht. Der Verurteilte ist durch das Urteil vom 10. Oktober - 4 - 1996 wegen Körperverletzung mit Todesfolge, d.h. wegen eines Verbrechens gegen die körperliche Unversehrtheit, zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden, die die erforderliche Mindesthöhe von fünf Jahren übersteigt. b) Die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung setzt des Weiteren gemäß § 66 b Abs. 2 i.V.m Abs. 1 StGB voraus, dass nach der [X.] wegen einer der genannten Straftaten Tatsachen erkennbar werden, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinwei-sen. An diese Voraussetzung, deren positive Feststellung [X.] zur an-schließenden umfassenden Gesamtwürdigung öffnet (vgl. [X.], 1066, 1067; [X.] NStZ 2005, 563, 564 [—[X.]]), sind strenge Anfor-derungen zu stellen. Bei der Anordnung der zeitlich nicht befristeten Maßregel der nachträglichen Sicherungsverwahrung handelt es sich um eine den [X.] außerordentlich beschwerende Maßnahme. Sie soll nach dem Willen des Gesetzgebers auf seltene Einzelfälle beschränkt sein (BTDrucks. 15/2887 [X.], 12 und 13; vgl. auch [X.] 109, 190, 236; [X.], 561, 562). Dem Erfordernis der —neuen [X.] kommt dabei eine maßgebliche Filterfunktion zu. [X.]) —Neue Tatsachenfi im Sinne des § 66 b StGB sind zunächst nur sol-che, die nach der letzten Verhandlung in der Tatsacheninstanz und vor Ende des Vollzugs der verhängten Freiheitsstrafe bekannt oder erkennbar geworden sind (vgl. [X.], 3078, 3080; NStZ 2005, 561, 562). Umstände, die dem ersten Tatrichter bekannt waren, scheiden daher in jedem Fall aus. Aber auch Tatsachen, die ein sorgfältiger Tatrichter mit Blick auf § 244 Abs. 2 StPO hätte aufklären müssen, um entscheiden zu können, ob eine Maßregel nach §§ 63, 64, 66, 66 a StGB anzuordnen ist, waren erkennbar und sind daher nicht —neufi im Sinne des § 66 b StGB. Rechtsfehler, die durch deren [X.] - sichtigung entstanden sind, können nicht durch die Anordnung einer nachträgli-chen Sicherungsverwahrung korrigiert werden ([X.] [X.]O). Die bloße neue (abweichende) Bewertung bereits bei der [X.] bekannter oder erkennbarer Tatsachen stellt daher keine —neuefi Tatsache dar. [X.]) Darüber hinaus müssen die nachträglich erkennbar gewordenen [X.] eine —gewisse Erheblichkeitsschwellefi überschreiten (BTDrucks. [X.]O [X.]; [X.]/[X.] StGB 25. Aufl. § 66 b Rdn. 4). Die Frage der Erheblichkeit der —neuen [X.] für die Gefährlichkeitsprognose ist eine Rechtsfrage, die vom Gericht in eigener Verantwortung ohne Bindung an die Auffassung der ge-hörten Sachverständigen zu beantworten ist. Aus der Rechtsnatur der nachträg-lichen Sicherungsverwahrung als eine zum Strafrecht im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG gehörende Maßnahme, die an eine Straftat anknüpft und ihre sach-liche Rechtfertigung auch aus der [X.] bezieht (vgl. [X.] 109, 190, Leitsatz [X.] Buchst. a) folgt, dass sich die Erheblichkeit der [X.] —neuen [X.] vor dem Hintergrund der bei der Anlassverur-teilung bereits hervorgetretenen Gefährlichkeit beurteilt und deshalb voraus-setzt, dass die —[X.] in einem prognoserelevanten symptomatischen Zusam-menhang mit der [X.] stehen. c) Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist das [X.] ohne durchgrei-fenden Rechtsfehler von dem Vorliegen prognoserelevanter —neuerfi Tatsachen ausgegangen. [X.]) Allerdings begegnet die Auffassung des [X.]s, die —zwischen-zeitlich verfestigte dissoziale Persönlichkeitsstörungfi des Angeklagten stelle eine —neue [X.] dar, rechtlichen Bedenken. Das [X.] hat hierzu zur Begründung ausgeführt, zwar habe schon der vom früheren Tatrichter ge-hörte Sachverständige in seinem Gutachten Gesichtspunkte angeführt, welche - 6 - zum Befund einer dissozialen Persönlichkeitsstörung gehören. Eindeutig sei aber eine solche damals nicht festgestellt worden. Auch habe die damals er-kennende [X.] offenbar die Aussagen des [X.] nicht im Sinne des Vorliegens einer dissozialen Persönlichkeitsstörung ver-standen. Diese Feststellungen belegen nicht das Vorliegen einer —neuen Tatsa-chefi. Eine neue Bewertung bereits bei der [X.] bekannter oder erkennbarer Tatsachen stellt [X.] wie bereits ausgeführt - keine —neuefi Tatsache dar. Soweit das [X.] weiterhin darauf abstellt, die Persönlichkeitsstö-rung des Verurteilten sei —jedenfalls in ihrer nunmehrigen Qualifizierung und auch in ihrem Ausmaßfi zum Zeitpunkt der [X.] nicht bekannt gewesen, lassen die Urteilsgründe nicht erkennen, auf welche konkrete —neuefi (Anknüpfungs-) Tatsache sich diese Aussage gründet. [X.]) Im Ergebnis zutreffend hat jedoch das [X.] in dem nunmehr aufgrund einer Computertomographie bei dem Verurteilten festgestellten —[X.] betonten [X.] eine —neue [X.] gesehen. Zwar lag dieser Defekt nach Einschätzung der gehörten [X.], denen das [X.] gefolgt ist, bereits zum Zeitpunkt der der Anlass-verurteilung zugrunde liegenden Tat vor und war mitursächlich für die —massive und impulshaft ausagierende Aggressionshandlungfi des Verurteilten zum Nach-teil des damals betroffenen [X.]. Er war jedoch nach den getroffenen Feststellungen für den damaligen Tatrichter nicht erkennbar, da der in jenem Verfahren gehörte Sachverständige einen Hirnschaden als Ursache seelischer Störungen ausdrücklich ausgeschlossen hatte. In Anbetracht dessen war der frühere Tatrichter auch nicht unter [X.] gehalten, von sich aus auf die Fertigung einer Computertomographie hinzuwirken, mittels de-rer der Hirnsubstanzdefekt hätte festgestellt werden können. - 7 - Der nachträglich erkennbar gewordene Hirnsubstanzdefekt stellt auch vor dem Hintergrund der [X.] eine für die [X.] erhebliche Tatsache dar. Er bewirkt nach den Ausführungen der gehörten Sachverständigen, die sich das [X.] zu Eigen gemacht hat, eine zusätz-liche Verringerung der schon durch die Persönlichkeitsstörung reduzierten Im-pulskontrollfunktionen und erhöht damit die bereits bei der [X.] hervorge-tretene Gefahr impulshafter Aggressionshandlungen durch den Verurteilten. [X.]) Nicht zu beanstanden ist auch die Bewertung der Therapieunwilligkeit des Verurteilten als —neue [X.] im Sinne des § 66 b StGB (vgl. [X.], 561, 563). Nach den Feststellungen hat sich der Verurteilte bereits zu Beginn des [X.] in [X.]als therapieunwillig gezeigt. Schon im [X.] mit der für ihn zuständigen Sozialtherapeutin hat er die Auffassung ver-treten, nicht in den Maßregelvollzug nach § 64 StGB zu gehören. Die [X.] an der vorgesehenen Beschäftigungstherapiemaßnahme lehnte er ab. Be-reits in der ersten Woche seines Aufenthalts kam es zu einem Suchtmittelrück-fall. Wenig später wurde bei ihm ein positiver [X.] festgestellt. [X.] 1997 flüchtete er gemeinsam mit einem Mitpatienten aus dem Maßregelvollzug. Während der Flucht konsumierte er erneut Alkohol und Dro-gen. Nach seiner anschließenden Festnahme hat er gegenüber einer behan-delnden Ärztin erklärt, —dass er nur nach [X.]gekommen sei, weil er nicht in die Sicherungsverwahrung gewollt habefi. Auch nach Überstellung in den Straf-vollzug zeigte sich der Verurteilte Therapiemaßnahmen gegenüber stets ableh-nend. - 8 - [X.] stellt damit ebenfalls eine —neuefi Tatsache dar. Der Verurteilte hat im Ausgangsverfahren ausdrücklich seine Therapiebereitschaft bekundet. Der damalige Tatrichter hat daraufhin von der Möglichkeit der Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB Gebrauch gemacht. Dass die Therapiebereitschaft des [X.] nur vorgetäuscht war, hat er dabei ersichtlich nicht erkannt. [X.] Anhaltspunkte dafür, dass er die Täuschung bei gebotener Sorgfalt hätte er-kennen müssen, bestehen nicht. Die Therapieunwilligkeit stellt schließlich auch vor dem Hintergrund der [X.] eine —erheblichefi Tatsache dar, da die Suchtmittelabhängig-keit des Verurteilten mitursächlich für die Begehung der [X.] war. [X.]) Einer Entscheidung, ob die vom [X.] weiterhin herangezoge-nen verbal aggressiven Angriffe und Drohungen gegenüber [X.] als —neue Tatsachenfi im Sinne des § 66 b StGB zu werten sind, bedarf es daher nicht. d) Schließlich ist das [X.] in einer sorgfältigen und umfassenden Gesamtwürdigung der Person des Verurteilten, der [X.] sowie früherer Taten und - ergänzend [X.] seiner Entwicklung im Strafvollzug im [X.] an die angehörten Sachverständigen zu dem Ergebnis gelangt, dass der [X.] in Freiheit mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten der in § 66 b Abs. 2 StGB genannten Art begehen wird. Hierbei hat es namentlich auf die bei - 9 - ihm diagnostizierte Persönlichkeitsstörung, seine fortbestehende [X.], Opiat- und Alkoholabhängigkeit sowie auf die hirnorganisch bedingte zu-sätzliche Reduktion seines Hemmungsvermögens abgestellt. Dies lässt [X.] nicht erkennen. Tepperwien M[X.]tz Athing Ernemann Sost-Scheible Nachschlagewerk: ja [X.]St: ja Veröffentlichung: ja StGB § 66 b Abs. 1 und 2 1. Tatsachen, die ein sorgfältiger Tatrichter hätte aufklären müssen, um [X.] zu können, ob eine Maßregel nach §§ 63, 64, 66, 66 a StGB an-zuordnen ist, waren erkennbar und sind daher nicht —neufi im Sinne des § 66 b StGB. 2. Die Frage der Erheblichkeit der —neuen [X.] für die Gefährlich-keitsprognose ist eine Rechtsfrage, die vom Gericht in eigener Verantwor-tung und ohne Bindung an die Auffassung der gehörten Sachverständigen zu beantworten ist. 3. Aus der Rechtsnatur der nachträglichen Sicherungsverwahrung als eine zum Strafrecht im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG gehörende Maßnahme folgt, dass sich die Erheblichkeit der berücksichtigungsfähigen —neuen [X.] vor dem Hintergrund der bei der [X.] bereits hervor-getretenen Gefährlichkeit beurteilt. Sie setzt daher voraus, dass die —[X.] - 10 - in einem prognoserelevanten symptomatischen Zusammenhang mit der [X.] stehen. [X.], Beschluss vom 9. November 2005 [X.] 4 StR 483/05 - [X.] Münster

Meta

4 StR 483/05

09.11.2005

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 09.11.2005, Az. 4 StR 483/05 (REWIS RS 2005, 931)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2005, 931

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