Bundesgerichtshof, Beschluss vom 28.02.2012, Az. VIII ZB 54/11

8. Zivilsenat | REWIS RS 2012, 8738

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Gegenstand

Verfahrensaussetzung wegen Vorgreiflichkeit: Anhängigkeit eines Revisionsverfahrens beim Bundesgerichtshof und Anhängigkeit einer Vielzahl gleich gelagerter Fälle bei dem zur Entscheidung berufenen Gericht


Leitsatz

1. Der Umstand, dass beim Bundesgerichtshof ein Revisionsverfahren anhängig ist, in dem über eine Rechtsfrage zu entscheiden ist, von deren Beantwortung auch die Entscheidung eines zweiten Rechtsstreits ganz oder teilweise abhängt, rechtfertigt die Aussetzung der Verhandlung des zweiten Rechtsstreits grundsätzlich auch dann nicht, wenn bei dem zur Entscheidung berufenen Gericht eine Vielzahl von gleich gelagerten Fällen anhängig ist.

2. Es bleibt offen, ob eine Aussetzung ausnahmsweise dann erfolgen darf, wenn die Zahl der bei dem Gericht anhängigen Verfahren die Grenze erreicht, bei der eine angemessene Bewältigung schlechthin nicht mehr möglich ist (Anschluss an BGH, Beschlüsse vom 30. März 2005, X ZB 26/04, BGHZ 162, 373, 377 und X ZB 20/04, juris Rn. 13, 15, MittdtschPatAnw 2005, 327).

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Beklagten wird der Beschluss der Zivilkammer 4 des [X.] vom 23. August 2011 aufgehoben.

Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückgegeben.

Der [X.] wird auf 300 € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Klägerin begehrt von dem beklagten [X.] die Zahlung restlichen Entgelts für Gaslieferungen; insoweit streiten die Parteien über die Berechtigung von Gaspreiserhöhungen. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Das [X.] ([X.]) hat das Berufungsverfahren analog § 148 ZPO bis zur Entscheidung der beim Senat anhängigen Revisionsverfahren [X.] und [X.], die Parallelverfahren der Klägerin gegen andere Kunden betreffen, ausgesetzt. Hiergegen richtet sich die vom [X.] zugelassene Rechtsbeschwerde des Beklagten.

II.

2

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.

3

1. Das [X.] hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:

4

Zwar sei eine Vorgreiflichkeit im Sinne des § 148 ZPO nicht gegeben. Das vorliegende Verfahren könne aber analog § 148 ZPO ausgesetzt werden, da es sich hierbei um einen Teil eines "Massenverfahrens" handele und die Unmöglichkeit einer angemessenen Bewältigung der Gesamtheit der Verfahren das Gewicht verfahrenswirtschaftlicher Erwägungen so erhöhe, dass hierdurch ein qualitativ anderer [X.] als die "normale" [X.] begründet werde. Bei dem [X.] Hamburg seien mehrere Hundert gleichgelagerte Berufungen anhängig. Nach Abschluss der beim [X.] anhängigen Revisionsverfahren sei zu erwarten, dass entweder die Klägerin ihre Berufung zurücknehme oder die Beklagtenseite den [X.] anerkenne. Eine streitige Fortsetzung des vorliegenden Verfahrens zum gegenwärtigen Zeitpunkt würde daher zu einer erheblichen Mehrbelastung des Gerichts führen. Sie wäre insbesondere auch für die betroffenen Parteien in einem Maße unwirtschaftlich, dass es gerechtfertigt erscheine, dem [X.] der [X.] das erforderliche Gewicht beizumessen.

5

2. Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

6

a) Nach § 148 ZPO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen Rechtsstreits bildet, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits auszusetzen ist. Die Aussetzung der Verhandlung setzt damit die Vorgreiflichkeit der in dem anderen Rechtsstreit zu treffenden Entscheidung im Sinne einer (zumindest teilweise) präjudiziellen Bedeutung voraus, also dass die Entscheidung in dem einen Rechtsstreit die Entscheidung des anderen rechtlich beeinflussen kann ([X.], Beschluss vom 30. März 2005 - [X.], [X.]Z 162, 373, 375). Diese Voraussetzung ist - wie das [X.] auch erkannt hat - vorliegend nicht erfüllt, da die beim Senat anhängigen Revisionsverfahren [X.] und [X.] im Hinblick auf das der Rechtsbeschwerde zu Grunde liegende Verfahren weder materielle Rechtskraft entfalten noch Gestaltungs- oder Interventionswirkung haben (vgl. [X.], ZPO, 22. Aufl., § 148 Rn. 23 ff.). Es genügt nicht, dass die in den genannten Revisionsverfahren zu erwartenden Entscheidungen (lediglich) geeignet sind, einen rein tatsächlichen Einfluss auf die zu treffende Entscheidung zu haben (vgl. [X.], Beschlüsse vom 30. März 2005 - [X.], aaO; vom 25. Januar 2006 - [X.] 36/03, juris Rn. 2; [X.], [X.] 2005, 2318, 2324).

7

b) Allein die Tatsache, dass in einem anderen Verfahren über einen gleich oder ähnlich gelagerten Fall nach Art eines Musterprozesses entschieden werden soll, rechtfertigt für sich genommen ebenfalls noch keine Aussetzung analog § 148 ZPO ([X.], Beschlüsse vom 30. März 2005 - [X.], aaO [X.], und [X.], juris Rn. 11; vgl. auch [X.], Beschluss vom 25. Januar 2006 - [X.] 36/03, aaO; Senatsurteil vom 21. Februar 1983 - [X.], NJW 1983, 2496 unter II 2 a; [X.], [X.], 134 f.). Insbesondere enthält § 148 ZPO keine allgemeine Ermächtigung, die Verhandlung eines Rechtsstreits zur Abwendung einer vermeidbaren Mehrbelastung des Gerichts auszusetzen ([X.], Beschluss vom 30. März 2005 - [X.], aaO). Denn die Vorschrift stellt nicht auf sachliche oder tatsächliche Zusammenhänge zwischen verschiedenen Verfahren, sondern auf die Abhängigkeit vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses ab. Allein die tatsächliche Möglichkeit eines Einflusses genügt dieser gesetzlichen Voraussetzung nicht, so dass die bloße Übereinstimmung in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage die Aussetzung noch nicht erlaubt ([X.], Beschlüsse vom 30. März 2005 - [X.], aaO S. 377, und [X.], juris Rn. 15; [X.], [X.]/NV 2010, 1847). Dem entsprechend hat auch der Gesetzgeber mit § 7 [X.] und § 93a VwGO eigens spezialgesetzliche Grundlagen für eine von § 148 ZPO beziehungsweise der parallelen Vorschrift des § 94 VwGO an sich nicht mehr gedeckte Aussetzung von Musterverfahren geschaffen (vgl. BT-Drucks. 11/7030 S. 28; 15/5091 S. 14).

8

c) Die vom [X.] in diesem Zusammenhang bislang ausdrücklich offen gelassene Frage, ob bei "Massenverfahren" die Unmöglichkeit der angemessenen Bewältigung der Gesamtheit der Verfahren das Gewicht verfahrenswirtschaftlicher Erwägungen so zu erhöhen vermag, dass hierin ein nicht nur quantitativ, sondern qualitativ anderer [X.] als die "normale" [X.] hervortritt ([X.], Beschlüsse vom 30. März 2005 - [X.], aaO S. 377, und [X.], aaO Rn. 13; vgl. auch Stürner, JZ 1978, 499), bedarf auch vorliegend keiner Entscheidung. Voraussetzung für die Annahme eines derartigen "Massenverfahrens" wäre jedenfalls, dass das Gericht mit einer schlechthin nicht zu bewältigenden Vielzahl von gleichgelagerten Verfahren befasst ist ([X.], Beschluss vom 30. März 2005 - [X.], aaO Rn. 15). Dazu hat das [X.] bislang keine zureichenden Feststellungen getroffen.

9

Der Beschluss lässt bereits nicht erkennen, wie viele der bei dem [X.] Hamburg anhängigen gleichgelagerten Berufungsverfahren, deren Zahl mit mehreren Hundert angegeben ist, gerade bei der [X.] anhängig sind. Diese Angabe ist jedoch erforderlich, um beurteilen zu können, ob das Gericht mit einer schlechthin nicht zu bewältigenden Vielzahl von gleichgelagerten Verfahren befasst ist, die es gegebenenfalls rechtfertigen könnte, aus besonderen verfahrenswirtschaftlichen Erwägungen eine Aussetzung jedenfalls eines Teils der anhängigen Verfahren in Betracht zu ziehen. Allein der Umstand, dass auch bei anderen Spruchkörpern desselben Gerichts weitere gleichgelagerte Verfahren anhängig sind, lässt eine solche Aussetzung in entsprechender Anwendung des § 148 ZPO nicht zu, da dies für die Belastung des zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers und dessen Fähigkeit zur angemessenen Bewältigung der bei ihm anhängigen Verfahren ohne Aussagekraft ist.

Ebenso wenig wird eine solche Aussetzung durch die Überlegung des Berufungsgerichts gerechtfertigt, dass eine streitige Fortsetzung des vorliegenden Verfahrens zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu einer erheblichen Mehrbelastung des Gerichts führen würde und auch für die betroffenen Parteien in besonderer Weise unwirtschaftlich wäre. Zu einer solchen erheblichen Mehrbelastung der [X.] ist - wie ausgeführt - nichts Näheres festgestellt, so dass sich auch schon deshalb der Hinweis auf die Unwirtschaftlichkeit einer Verfahrensfortsetzung noch im Bereich "normaler" [X.] bewegt, die die vorgenommene Verfahrensaussetzung nicht trägt (vgl. [X.], Beschlüsse vom 30. März 2005 - [X.], und [X.]; jeweils aaO).

Ball                                                   Dr. Hessel                                              Dr. [X.]

                     Dr. Schneider                                              Dr. Bünger

Meta

VIII ZB 54/11

28.02.2012

Bundesgerichtshof 8. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Hamburg, 23. August 2011, Az: 304 S 54/10

§ 148 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 28.02.2012, Az. VIII ZB 54/11 (REWIS RS 2012, 8738)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 8738

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