Bundesfinanzhof, Beschluss vom 15.03.2011, Az. VI B 151/10

6. Senat | REWIS RS 2011, 8593

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Gegenstand

Überraschungsentscheidung - Rechtliches Gehör - Grundsätzliche Bedeutung - Divergenz - Auslagenersatz


Leitsatz

1. NV: Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das FG sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Auffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste .

2. NV: Allerdings verpflichtet das Gebot, rechtliches Gehör zu gewähren, das Gericht nicht, die für die Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte mit den Beteiligten umfassend zu erörtern und ihnen die einzelnen für die Entscheidung maßgebenden Gesichtspunkte im Voraus anzudeuten oder das Ergebnis einer Gesamtwürdigung einzelner Umstände offenzulegen .

3. NV: Da es nicht Aufgabe des Revisionsgerichts ist, Rechtsfragen abstrakt zu klären, kommt eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung insoweit nicht in Betracht .

4. NV: Für eine schlüssige Divergenzrüge ist u. a. auszuführen, dass dem angefochtenen Urteil und der Divergenzentscheidung vergleichbare Sachverhalte und identische Rechtsfragen zugrunde liegen .

Gründe

1

Die Beschwerde der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) hat keinen Erfolg. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) oder wegen des Erfordernisses einer Entscheidung des [X.] ([X.]) zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 [X.]O oder wegen eines [X.] gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O liegen nicht vor oder sind nicht entsprechend den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 [X.]O dargelegt worden.

2

1. Die Klägerin macht zu Unrecht geltend, das Finanzgericht ([X.]) habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör durch Erlass einer sog. Überraschungsentscheidung und die gerichtliche Hinweispflicht verletzt (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 [X.]O, § 76 Abs. 2 [X.]O).

3

Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das [X.] sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger [X.] selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Auffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste ([X.]-Beschluss vom 16. Dezember 2010 [X.]/10, [X.]/NV 2011, 448, m.w.N.). Andererseits verpflichtet das Gebot, rechtliches Gehör zu gewähren, das Gericht nicht, die für die Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte mit den Beteiligten umfassend zu erörtern und ihnen die einzelnen für die Entscheidung maßgebenden Gesichtspunkte im Voraus anzudeuten oder das Ergebnis einer Gesamtwürdigung einzelner Umstände offenzulegen (vgl. [X.]-Beschlüsse vom 25. Mai 2000 [X.]/00, [X.]/NV 2000, 1235; vom 7. Dezember 2006 IX B 50/06, [X.]/NV 2007, 1135). Auch verlangt das Recht auf Gehör vom Gericht nicht, der von einem Beteiligten vertretenen Rechtsansicht zu folgen (vgl. Beschluss des [X.] vom 11. Juni 2008  2 BvR 2062/07, [X.], 1056).

4

Danach liegt im Streitfall keine Überraschungsentscheidung vor. Denn das [X.] hat sein Urteil entgegen dem klägerischen Vorbringen nicht auf einen bis dahin unerörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt gestützt. Das [X.] hat die Klage vielmehr abgewiesen, da die Klägerin den Nachweis der Steuerfreiheit nach § 3 Nr. 50 des Einkommensteuergesetzes (EStG) bzw. § 3 Nr. 16 EStG schuldig geblieben sei. Denn aus den vorliegenden Aufzeichnungen sei nicht zu erkennen, dass den streitigen Erstattungsbeträgen des Arbeitgebers im Großen und Ganzen entsprechende dienstliche Aufwendungen des Arbeitnehmers gegenübergestanden hätten. Mit dieser Wendung des Rechtsstreits musste die sachkundig vertretene Klägerin nach dem bisherigen [X.] rechnen. Schließlich war zwischen den Beteiligten sowohl im Einspruchs- als auch im Klageverfahren streitig, ob die Klägerin ihrer Nachweisverpflichtung hinsichtlich der Steuerfreiheit des [X.] nachgekommen sei. Der Umstand, dass zwischen den Beteiligten die Angemessenheit des [X.] unstreitig gewesen ist, steht dem nicht entgegen. Denn dadurch ist die Nachweispflicht der Klägerin nicht entfallen.

5

2. Soweit die Klägerin die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 [X.]O und wegen des Erfordernisses einer Entscheidung des [X.] zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 [X.]O begehrt, kann die Nichtzulassungsbeschwerde ebenfalls keinen Erfolg haben.

6

a) Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 [X.]O, wenn die für die Beurteilung des Streitfalls maßgebliche Rechtsfrage das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Die Rechtsfrage muss im konkreten Fall klärungsbedürftig und in einem voraussichtlichen Revisionsverfahren klärungsfähig sein (ständige Rechtsprechung, s. etwa [X.]-Beschluss vom 24. Juli 2008 [X.], [X.]/NV 2008, 1838).

7

Die Klägerin weist zwar zutreffend darauf hin, dass die Abgrenzung des nicht steuerbaren Auslagenersatzes vom steuerpflichtigen Werbungskostenersatz "noch nicht im einzelnen für alle Fälle abschließend geklärt" ist (vgl. [X.]-Urteil vom 28. März 2006 [X.], [X.]E 212, 556, [X.], 473, m.w.N.). Die von der Klägerin aufgeworfene Rechtsfrage, "ob [X.] eines Arbeitgebers an seinen Arbeitnehmer für in seinem Auftrag von diesem mit seinem privaten PKW ausgeführte Dienstfahrten als 'Erstattung von Reisekosten' nach § 3 Nr. 16 EStG steuerfrei sind oder ob es sich bei solchen Zahlungen vielmehr nach § 3 Nr. 50 2. Alt. EStG um sog. Auslagenersatz handelt", ist aber in einem voraussichtlichen Revisionsverfahren nicht klärungsfähig. Denn das [X.] hat die Klage der Klägerin abgewiesen, da sie weder die Voraussetzungen des § 3 Nr. 50 EStG noch die des § 3 Nr. 16 EStG nachgewiesen habe. Die zu klärende Rechtsfrage ist damit für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht rechtserheblich.

8

Da es nicht Aufgabe des [X.] ist, Rechtsfragen abstrakt zu klären, kommt eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung insoweit nicht in Betracht (vgl. z.B. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 115 Rz 30, m.w.N. aus der Rechtsprechung).

9

b) Auch die [X.] der Klägerin bleibt ohne Erfolg. Zur schlüssigen Darlegung einer [X.] i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 [X.]O gehört u.a. eine hinreichend genaue Bezeichnung der vermeintlichen Divergenzentscheidung sowie die Gegenüberstellung tragender, abstrakter Rechtssätze aus dem angefochtenen Urteil des [X.] einerseits und aus den behaupteten Divergenzentscheidungen andererseits, um eine Abweichung erkennbar zu machen. Für eine schlüssige [X.] ist überdies weiterhin auszuführen, dass es sich im Streitfall um einen vergleichbaren Sachverhalt und um eine identische Rechtsfrage handelt ([X.]-Beschluss vom 17. Januar 2006 [X.]/05, [X.]/NV 2006, 799, unter 2.a und b, m.w.N.).

Die von der Klägerin behauptete Divergenz i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 [X.]O liegt nicht vor. Eine Abweichung des angefochtenen Urteils von der Entscheidung des [X.] vom 2. Oktober 2003 [X.] ([X.]E 203, 459, [X.], 129) ist nicht zu beklagen. Die Klägerin verkennt, dass dieser Entscheidung nicht der Rechtssatz zugrunde liegt, dass angemessener Auslagenersatz gemäß § 3 Nr. 50 EStG steuerfrei ist. Der [X.] hat mit Urteil in [X.]E 203, 459, [X.], 129 vielmehr entschieden, dass eine pauschale Kostenerstattung, die neben einem Gehalt geleistet wird, nur dann als nach § 3 Nr. 50 EStG steuerfreier Auslagenersatz anzusehen ist, wenn der Steuerpflichtige nachweist, dass die Pauschale den tatsächlichen Aufwendungen im Großen und Ganzen entspricht. Kann der Nachweis nicht erbracht werden, ist die Pauschale als Bestandteil des Arbeitslohns steuerpflichtig. Von diesen Rechtsmaßstäben geht auch die angefochtene [X.]-Entscheidung aus. Das [X.] sieht lediglich den erforderlichen Nachweis als nicht geführt.

3. Gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 [X.]O wird von einer weiteren Begründung abgesehen, weil sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist.

Meta

VI B 151/10

15.03.2011

Bundesfinanzhof 6. Senat

Beschluss

vorgehend Sächsisches Finanzgericht, 21. Oktober 2010, Az: 1 K 1564/06, Urteil

Art 103 Abs 1 GG, § 76 Abs 2 FGO, § 96 Abs 2 FGO, § 115 Abs 2 Nr 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 2 Alt 2 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 116 Abs 3 S 3 FGO, § 116 Abs 5 S 2 FGO, § 3 Nr 13 EStG 1997, § 3 Nr 50 EStG 2002, § 3 Nr 13 EStG 2002, § 3 Nr 50 EStG 1997

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 15.03.2011, Az. VI B 151/10 (REWIS RS 2011, 8593)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 8593

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