Bundesgerichtshof, Urteil vom 30.03.2017, Az. 4 StR 463/16

4. Strafsenat | REWIS RS 2017, 13101

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Gegenstand

(Prüfung der Schuldfähigkeit im Strafverfahren: Freispruch wegen fehlender Schuldfähigkeit unter Offenlassung der Täterschaft; Darlegungserfordernis hinsichtlich der Eingangsmerkmale der Schuldunfähigkeit und der Auswirkungen der psychischen Störung auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit)


Tenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des [X.] vom 9. Juni 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten vom Vorwurf des versuchten Mordes in zwei tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit besonders schwerer Brandstiftung und versuchter Brandstiftung mit Todesfolge freigesprochen. Hiergegen wendet sich die Revision der Staatsanwaltschaft mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts. Das vom [X.] vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

2

Mit der zugelassenen Anklage vom 12. April 2016 legt die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten zur Last, er habe am 27. November 2015 in [X.] im zweiten Obergeschoss einer Flüchtlingsunterkunft in der [X.]    er [X.] auf unbekannte Weise vorsätzlich ein Feuer gelegt. Der Brand habe sich über die Möbel in [X.] ausgebreitet, dieses vollständig zerstört und dabei unter anderem die Dachvertäfelung, die hölzernen Fensterrahmen sowie die Türzargen und -blätter ergriffen. Wie vom Angeklagten vorhergesehen oder zumindest billigend in Kauf genommen, habe die starke Rauchentwicklung den [X.]wohnern der höheren Geschosse den Fluchtweg versperrt, deren Tod der Angeklagte somit in Kauf genommen habe. Zwei Hausbewohner hätten wegen des starken Rauchs auf das nasse Hausdach fliehen müssen und seien mittels einer Drehleiter gerettet worden.

II.

3

1. Nach den Feststellungen meldete sich der in [X.]    geborene Angeklagte im Juli 2013 in [X.] als Asylsuchender und bekam nach wenigen Monaten einen Platz in einer Flüchtlingsunterkunft in [X.]     zugewiesen.

4

Der Angeklagte hatte ab dem 22. Lebensjahr gelegentlich - etwa alle ein bis zwei Monate, teilweise auch mit längeren Pausen - Marihuana konsumiert, ohne hiervon abhängig zu werden. Aufgrund dieses gelegentlichen Marihuanakonsums entwickelte sich bei ihm ab [X.] 2015 eine drogeninduzierte Psychose. Diese äußerte sich u.a. durch Größenideen, enthemmtes Verhalten und „fehlendes Risikobewusstsein im Umgang mit Feuer“. Am 19. Oktober 2015 wurde der Angeklagte nach Konflikten mit Mitbewohnern erstmals nach dem PsychKG NW in der Klinik                    in [X.].   stationär untergebracht. Der Angeklagte zeigte deutliche psychotische Symptome, wurde jedoch bereits am 20. Oktober 2015 mangels akuter Eigen- oder Fremdgefährdung wieder entlassen. Am 14. November 2015 wurde er abermals in die vorgenannte Klinik eingewiesen, nachdem er in der Küche seiner Unterkunft ein Feuer in einem Papierkorb entfacht hatte. Während der Unterbringung zeigte sich der Angeklagte erneut deutlich psychotisch mit Größenwahn und enthemmtem Verhalten, weshalb er zwangsweise medikamentös behandelt wurde. Am 24. November 2015 wurde er bei fehlender [X.]handlungseinsicht und ohne Hinweise auf eine fortbestehende akute Eigen- und Fremdgefährdung entlassen.

5

Am 27. November 2015 kam es in der Flüchtlingsunterkunft, in der zu dieser [X.] insgesamt 26 [X.]wohner untergebracht waren, zu einem Brand, dessen Ursache die Strafkammer nicht festzustellen vermocht hat. [X.] war das im zweiten Obergeschoss gelegene Zimmer des Angeklagten, welches durch das Feuer vollständig zerstört wurde. Die starke Rauchentwicklung versperrte den Fluchtweg für die [X.]wohner der höheren Geschosse. Zwei Personen wurden durch die Feuerwehr vom Dach des Hauses gerettet, drei Personen mussten mit Rauchgasvergiftungen in ein Krankenhaus gebracht werden. Es entstand ein Sachschaden in Höhe von etwa 150.000 Euro. Der Angeklagte wurde noch während der Löscharbeiten von der Polizei vor dem Haupteingang des Supermarktes gegenüber der Unterkunft angetroffen und vorläufig festgenommen. Er war „zur Tatzeit“ krankheitsbedingt nicht in der Lage einzusehen, dass die Verursachung eines Brandes gefährlich, geschweige denn verboten ist.

6

Nach dem Brand wurde der Angeklagte erneut nach dem PsychKG NW in der          Klinik in [X.].  untergebracht, wo er sich wiederum psychotisch zeigte. Nachdem er am 10. Dezember 2015 in der forensischen Psychiatrie in [X.]     einstweilig untergebracht worden war, verschwanden die psychotischen Symptome ohne medikamentösen Einfluss nach zehn bis 14 Tagen vollständig und traten nicht wieder auf.

7

2. Die [X.] hat die Frage der [X.]chaft des Angeklagten offengelassen, da „der Angeklagte mangels Schuldfähigkeit zur Tatzeit im Ergebnis ohnehin aus rechtlichen Gründen freizusprechen“ sei.

8

Nach den Ausführungen des psychiatrischen und des psychologischen Sachverständigen, denen sich das [X.] angeschlossen hat, habe der Angeklagte im Tatzeitraum - zurückgehend auf seinen gelegentlichen Konsum von Marihuana - an einer drogeninduzierten Psychose gelitten. Diese Erkrankung habe dazu geführt, dass der Angeklagte der normalen Realitätswahrnehmung entrückt gewesen sei. Er habe eigene Wahrnehmungen in wahnhafte Vorstellungen eingebaut, ohne die Möglichkeit zur Korrektur gehabt zu haben. Wenn er Feuer gelegt habe, sei er nicht in der Lage gewesen, die Konsequenzen seiner Handlungen einzuschätzen. Dass er immer wieder Feuer entzündet habe, auch wenn er dabei gesehen worden sei, zeige, dass er nicht in der Lage gewesen sei einzusehen, dass sein Verhalten gefährlich und verboten sei. Auch zum [X.]punkt der Brandlegung in der Unterkunft sei die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten aufgehoben gewesen. Selbst wenn „ein Rest an Einsichtsfähigkeit und Unrechtseinsicht“ vorhanden gewesen wäre, habe es jedenfalls an der Fähigkeit des Angeklagten gefehlt, nach dieser Einsicht zu handeln, da er „krankheitsbedingten raptusartigen Impulsen keine hemmenden Kontrollen habe entgegensetzen können“.

III.

9

Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet. Der Freispruch des Angeklagten kann nicht bestehen bleiben, weil der vom [X.] vorgenommenen Schuldfähigkeitsbeurteilung durchgreifende rechtliche [X.]denken begegnen.

1. Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit eines Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfordert prinzipiell eine mehrstufige Prüfung (st. Rspr.; vgl. nur [X.], Urteile vom 21. Dezember 2016 - 1 StR 399/16 Rn. 11; vom 1. Juli 2015 - 2 [X.], NJW 2015, 3319, 3320; [X.]schluss vom 12. März 2013 - 4 StR 42/13, [X.], 519, 520; vgl. auch [X.]/[X.]/[X.]/[X.], NStZ 2005, 57). Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die [X.] Anpassungsfähigkeit des [X.] zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des [X.] bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Hierzu ist der [X.] für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen [X.]funds wie bei der Prüfung einer aufgehobenen oder erheblich beeinträchtigten Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit um Rechtsfragen. Deren [X.]urteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte Störung bei [X.]gehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. [X.], Urteil vom 21. Dezember 2016 - 1 StR 399/16 aaO; [X.]schlüsse vom 28. Januar 2016 - 3 StR 521/15, [X.], 135; vom 17. Juni 2014 - 4 [X.], [X.], 305, 306).

2. Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht.

a) [X.]reits die Annahme, der Angeklagte habe im Tatzeitraum an einer drogeninduzierten Psychose gelitten, wird durch das [X.] im Rahmen seiner Ausführungen zur [X.]weiswürdigung nicht tragfähig begründet.

Schließt sich der Tatrichter - wie hier - den Ausführungen eines Sachverständigen an, müssen dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergegeben werden, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur [X.]urteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (st. Rspr.; vgl. nur [X.], [X.]schlüsse vom 19. Januar 2017 - 4 StR 595/16 Rn. 8; vom 28. Januar 2016 - 3 StR 521/15 aaO; vom 27. Januar 2016 - 2 StR 314/15, [X.], 167 [[X.]]; vom 17. Juni 2014 - 4 [X.] aaO).

Die Strafkammer beschränkt sich darauf, die Diagnose der Sachverständigen wiederzugeben. Welche Anknüpfungs- und [X.]fundtatsachen die Sachverständigen ihrer [X.]wertung zugrunde gelegt haben, wird dagegen nicht mitgeteilt. Es bleibt daher unklar, auf welcher tatsächlichen Grundlage die Sachverständigen von einer drogeninduzierten Psychose ausgegangen sind. Dies hätte nicht zuletzt mit Blick auf den festgestellten nur gelegentlichen Marihuanakonsum des Angeklagten einer näheren Erläuterung bedurft. Die erfolgten Unterbringungen des Angeklagten im psychiatrischen Krankenhaus und die hierbei gestellte Diagnose deuten zwar auf das Vorliegen einer psychischen Störung hin, vermögen aber eine konkrete Darlegung des Krankheitsbildes nicht zu ersetzen. Weder verhalten sich die Urteilsgründe zum Inhalt der Wahnvorstellungen des Angeklagten und zur konkreten Ausprägung des von ihm gezeigten enthemmten Verhaltens noch wird näher dargelegt, in welcher Weise sich das beim Angeklagten vorhandene Störungsbild auf dessen Umgang mit Feuer ausgewirkt hat. Soweit die Sachverständigen in [X.]zug auf die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten auf krankheitsbedingte raptusartige Impulse verwiesen haben, denen der Angeklagte keine hemmenden Kontrollen habe entgegensetzen können, fehlt hierfür jeglicher tatsachengestützter [X.]leg.

b) Das angefochtene Urteil lässt ferner eine Auseinandersetzung mit dem Schweregrad der angenommenen psychischen Störung vermissen und benennt nicht, welches Eingangsmerkmal im Sinne des § 20 StGB es als erfüllt ansieht. Letzteres darf nach der Rechtsprechung des [X.] jedoch regelmäßig nicht offenbleiben (vgl. [X.], Urteil vom 29. September 2015 - 1 StR 287/15, NJW 2016, 341; [X.]schlüsse vom 22. April 2008 - 4 [X.], [X.], 46; vom 12. November 2004 - 2 [X.], [X.]St 49, 347, 351).

c) Schließlich hätte die [X.] die [X.]chaft des Angeklagten nicht offenlassen dürfen. Für die Frage eines Ausschlusses oder einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit kommt es maßgeblich darauf an, in welcher Weise sich die festgestellte und unter eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumierende psychische Störung bei [X.]gehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation ausgewirkt hat. Die [X.]urteilung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Angeklagten kann daher - von offenkundigen Ausnahmefällen abgesehen (vgl. [X.], Urteil vom 6. Mai 1997 - 1 StR 17/97, [X.], 485, 486) - nicht abstrakt, sondern nur in [X.]zug auf eine bestimmte Tat erfolgen (vgl. [X.], [X.]schluss vom 14. Oktober 2015 - 1 StR 56/15, NJW 2016, 728, 729; Urteile vom 21. Januar 2004 - 1 [X.], [X.]St 49, 45, 54; vom 21. Dezember 2006 - 3 [X.], [X.], 105, 106; vom 6. Mai 1997 - 1 StR 17/97 aaO; [X.], StGB, 64. Aufl., § 20 Rn. 20a mwN; [X.]Weißer in [X.]/[X.], StGB, 29. Aufl., § 20 Rn. 31 mwN). [X.]urteilungsgrundlage ist das konkrete Tatgeschehen, wobei neben der Art und Weise der Tatausführung auch die Vorgeschichte, der Anlass zur Tat, die Motivlage des Angeklagten und sein Verhalten nach der Tat von [X.]deutung sein können (vgl. [X.], Urteile vom 21. Januar 2004 - 1 [X.] aaO mwN; vom 4. Juni 1991 - 5 [X.], [X.]St 37, 397, 402). Ohne entsprechende Feststellungen zum Tatgeschehen und damit auch zur [X.]chaft des Angeklagten ist eine sachgerechte Prüfung der Schuldfähigkeit des Angeklagten nicht möglich.

Sost-Scheible     

       

Roggenbuck     

       

Cierniak

       

[X.]nder     

       

Feilcke     

       

Meta

4 StR 463/16

30.03.2017

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Bielefeld, 9. Juni 2016, Az: 1 Ks 10/16

§ 20 StGB, § 21 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 30.03.2017, Az. 4 StR 463/16 (REWIS RS 2017, 13101)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 13101

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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