Bundesfinanzhof, EuGH-Vorlage vom 27.09.2012, Az. III R 40/09

3. Senat | REWIS RS 2012, 2720

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Gegenstand

(EuGH-Vorlage zur Anrechnung belgischer Familienleistungen - Anwendung von Art. 76 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 bei nicht gestelltem Antrag auf Leistungsgewährung im Wohnmitgliedstaat - Ermessen)


Leitsatz

Dem EuGH werden folgende Rechtsfragen zur Vorabentscheidung vorgelegt :

1. Ist Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass es im Ermessen des zuständigen Trägers des Beschäftigungsmitgliedstaats steht, Art. 76 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 anzuwenden, wenn im Wohnmitgliedstaat der Familienangehörigen kein Antrag auf Leistungsgewährung gestellt wird?

2. Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird: Aufgrund welcher Ermessenserwägungen kann der für Familienleistungen zuständige Träger des Beschäftigungsmitgliedstaats Art. 76 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 anwenden, als ob Leistungen im Wohnmitgliedstaat der Familienangehörigen gewährt würden?

3. Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird: Inwieweit unterliegt die Ermessensentscheidung des zuständigen Trägers der gerichtlichen Kontrolle?

Tatbestand

1

I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist die Mutter eines im Jahr 1995 geborenen [X.] ([X.]). [X.]ie ist [X.] [X.]taatsangehörige und übt in [X.] eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aus. Das zuständige Finanzamt behandelte sie im [X.]treitzeitraum gemäß § 1 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (E[X.]tG) als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig.

2

Der Ehemann der Klägerin und Kindsvater ist [X.]. Er arbeitete seit November 2006 bei einer [X.] Zeitarbeitsfirma, zuvor war er arbeitslos gewesen. Die Familie lebte zunächst in [X.], zog dann aber im Juni 2006 nach [X.] und hat seitdem dort ihren Wohnsitz.

3

Für ihren [X.]ohn bezog die Klägerin fortlaufend in [X.] Kindergeld. Ihr Ehemann hatte in [X.] kein Kindergeld beantragt und deswegen auch kein Kindergeld erhalten. Als die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) vom Umzug der Familie nach [X.] erfuhr, hob sie die Kindergeldfestsetzung mit Wirkung ab Juli 2006 auf und forderte das für den Zeitraum von Juli 2006 bis März 2007 gezahlte Kindergeld zurück.

4

Der Einspruch der Klägerin war teilweise erfolgreich. Die Familienkasse war der Auffassung, dass der Klägerin für den [X.]treitzeitraum von Juli 2006 bis März 2007 ein Kindergeldanspruch nach dem E[X.]tG zustehe. Zugleich bestehe aber auch ein Kindergeldanspruch in [X.]. Dieser betrage von Juli bis [X.]eptember 2006 monatlich 77,05 € und von Oktober 2006 bis März 2007 monatlich 78,59 €. Die Konkurrenz zwischen den Kindergeldansprüchen verschiedener Mitgliedstaaten werde durch die Art. 76 bis 79 der Verordnung ([X.]) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der [X.]ysteme der sozialen [X.]icherheit auf Arbeitnehmer und [X.]elbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der [X.] zu- und abwandern ([X.] 1408/71), in ihrer durch die Verordnung ([X.]) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 --[X.] 118/97-- (Amtsblatt der Europäischen [X.]en --ABl[X.]-- 1997 Nr. L 28, [X.]. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, und den Art. 10 der Verordnung ([X.]) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der [X.] 1408/71 ([X.] 574/72), in ihrer durch die [X.] 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung, aufgelöst. Nach diesen Vorschriften werde der [X.] Kindergeldanspruch in Höhe der ausländischen Familienleistung ausgesetzt und es könne nur der Differenzbetrag ausgezahlt werden. Dass die in [X.] vorgesehenen Familienleistungen nicht beantragt worden seien, sei nach Art. 76 Abs. 2 der [X.] 1408/71 unschädlich. Diese Regelung solle gerade verhindern, dass das Zuständigkeitssystem der [X.] 1408/71 durch den Verzicht auf die Antragstellung umgangen werde.

5

Das von der Klägerin angerufene Finanzgericht ([X.]) erachtete den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid als rechtswidrig. Zwar seien nach den maßgeblichen Regelungen die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine nur anteilige Gewährung des [X.]n Kindergeldes erfüllt. Doch habe die Familienkasse das ihr von Art. 76 Abs. 2 der [X.] 1408/71 eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt. Diese Vorschrift sei im [X.]treitfall die einschlägige Antikumulierungsvorschrift, da es um Ansprüche wegen mehrfacher Erwerbstätigkeit gehe. Die Rechtsfolge der Anrechnung der --nicht beantragten-- [X.] Familienleistung auf das [X.] Kindergeld sei in Art. 76 Abs. 2 der [X.] 1408/71 im Unterschied zu Art. 76 Abs. 1 der [X.] 1408/71 in das Ermessen der Behörde gestellt. Es handele sich entgegen der von der Familienkasse vertretenen Auffassung nicht um eine gebundene Entscheidung. Behördliche Ermessensentscheidungen seien nach § 102 [X.]atz 1 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) nur eingeschränkt überprüfbar. Im [X.]treitfall liege ein sog. Ermessensausfall vor. Die Behörde habe, da sie sich rechtsfehlerhaft zur Anrechnung der [X.] Familienleistung verpflichtet gefühlt habe, das ihr zustehende Ermessen nicht ausgeübt und deswegen rechtswidrig gehandelt.

6

Mit ihrer gegen das Urteil des [X.] gerichteten Revision macht die Familienkasse weiterhin geltend, dass Art. 76 Abs. 2 der [X.] 1408/71 nicht als Ermessensvorschrift im [X.]inne des [X.]n [X.]teuer- und [X.]ozialrechts zu verstehen sei. In Art. 76 Abs. 1 der [X.] 1408/71 sei die Grundregel zur Auflösung der Konkurrenz von Ansprüchen auf Familienleistungen festgelegt. In Bezug auf den [X.]treitfall sage diese Grundregel aus, dass der [X.] Anspruch bis zur Höhe des im [X.] [X.] zustehenden Betrags der Familienleistung für den Fall ruhe, dass in [X.] Leistungen aufgrund einer Erwerbstätigkeit vorgesehen seien. Dies bedeute, dass zwar ein Anspruch auf Familienleistungen grundsätzlich bestehen, dieser aber tatsächlich nicht realisiert sein müsse. Die Rechtsfolge des Ruhens sei für den Fall eines nur grundsätzlich bestehenden Anspruchs eindeutig festgelegt. Nach diesem Verständnis gebe es für die Auslegung des Verbs "kann" in Art. 76 Abs. 2 der [X.] 1408/71 als Ermessensregelung keinen weiter gehenden [X.]inn. Denn in diesem Fall würde in Art. 76 Abs. 2 der [X.] 1408/71 erneut eine Regelung aufgestellt, die bereits von Art. 76 Abs. 1 der [X.] 1408/71 erfasst werde, und zwar für den Fall, dass zwar ein theoretischer Anspruch auf Familienleistungen bestehe, aber kein Antrag gestellt worden sei. Das Verb "kann" sei daher nur so zu verstehen, dass der Mitgliedstaat, dessen Leistung ruhe, auch in dem Fall, in dem im [X.] kein Antrag gestellt werde, nur den auf ihn entfallenden Teil der Familienleistung zu gewähren brauche. Die Regelung lasse sich auch davon leiten, dass es aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit nicht sein könne, dass der Kindergeldberechtigte durch entsprechende Antragstellung oder Unterlassen derselben festlegen könne, welcher Mitgliedstaat mit Zahlungen belastet werden solle.

7

Die Klägerin hält die Entscheidung des [X.] für zutreffend. [X.]ie entnimmt dem Wortlaut des Art. 76 Abs. 2 der [X.] 1408/71, dass die Anrechnung der ausländischen Familienleistung in das Ermessen der Behörde gestellt sei. Der von der Familienkasse angeführte Umstand, dass es aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit und des Zuständigkeitssystems nicht sein könne, dass der Kindergeldberechtigte durch Antragstellung oder Unterlassen derselben festlegen könne, welcher Mitgliedstaat belastet werde, sei im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen.

Entscheidungsgründe

8

I[X.] Der Senat setzt das Revisionsverfahren gemäß § 121 i.V.m. § 74 [X.]O aus und legt dem [X.] ([X.]) gemäß Art. 267 Satz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der [X.] die im Leitsatz bezeichneten Fragen zur Vorabentscheidung vor.

9

1. Die Entscheidung des [X.] hängt von der Beantwortung der vorgelegten Fragen ab.

a) Sind für ein und denselben Zeitraum für ein und denselben Familienangehörigen in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet die Familienangehörigen wohnen, Familienleistungen aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit vorgesehen, so ruht nach Art. 76 Abs. 1 der [X.] 1408/71 der Anspruch auf die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gegebenenfalls gemäß Art. 73 bzw. 74 der [X.] 1408/71 geschuldeten Familienleistungen bis zu dem in den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats vorgesehenen Betrag. Wird in dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet die Familienangehörigen wohnen, kein Antrag auf Leistungsgewährung gestellt, so kann der zuständige Träger des anderen Mitgliedstaats Art. 76 Abs. 1 der [X.] 1408/71 anwenden, als ob Leistungen in dem ersten Mitgliedstaat gewährt würden (Art. 76 Abs. 2 der [X.] 1408/71).

b) Zwischen den Beteiligten besteht zu Recht kein Streit darüber, dass vorliegend die in Art. 76 der [X.] 1408/71 niedergelegten Prioritätsregeln für den Fall der Kumulierung von Ansprüchen auf Familienleistungen zur Anwendung kommen. Die [X.] 1408/71 wurde zwar ersetzt durch die Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 des [X.] und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der [X.] Sicherheit --[X.] 883/2004-- (Amtsblatt der [X.] --[X.]-- 2004 Nr. L 166, S. 1). Letztere gilt jedoch nach ihrem Art. 91 Satz 2 erst ab dem Tag des Inkrafttretens der zu ihrer Durchführung erlassenen Verordnung. Diese --die Verordnung ([X.]) Nr. 987/2009 des [X.] und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der [X.] 883/2004 --[X.] 987/2009-- ([X.] 2009 Nr. L 284, S. 1)-- trat nach ihrem Art. 97 Satz 2 erst am 1. Mai 2010 in [X.]. Die [X.] 574/72 wurde nach Art. 96 Abs. 1 der [X.] 987/2009 erst mit Wirkung vom 1. Mai 2010 aufgehoben. Für den Streitfall gelten demnach noch die [X.] 1408/71 und die hierzu ergangene [X.] 574/72.

aa) Die in der gesetzlichen Sozialversicherung pflichtversicherte Klägerin war in der fraglichen Zeit in [X.] als Arbeitnehmerin abhängig beschäftigt. Gemäß Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der [X.] 1408/71 unterlag sie damit, ungeachtet ihres Wohnsitzes in [X.], den [X.] Rechtsvorschriften. [X.] als [X.] war damit für die Gewährung des Kindergeldes zuständig. Nach [X.] Recht hat auch ein Anspruch auf Kindergeld im Streitzeitraum bestanden.

bb) Nach den den [X.] ([X.]) bindenden Feststellungen des [X.] (§ 118 Abs. 2 [X.]O) waren in [X.] als dem [X.]nangehörigen aufgrund der Erwerbstätigkeit und der vorherigen Arbeitslosigkeit des Kindsvaters (zum Begriff der Erwerbstätigkeit i.S. des Art. 76 der [X.] 1408/71 vgl. Beschluss Nr. 207 der Verwaltungskommission der [X.] Gemeinschaften für die [X.] Sicherheit der Wanderarbeitnehmer vom 7. April 2006 zur Auslegung des Art. 76 und des Art. 79 Abs. 3 der [X.] 1408/71 sowie des Art. 10 Abs. 1 der [X.] 574/72 bezüglich des Zusammentreffens von Familienleistungen oder -beihilfen, [X.] 2006 Nr. L 175, S. 83) Familienleistungen vorgesehen. Der Vater hatte allerdings keinen Antrag auf Leistungsgewährung gestellt, so dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Anwendung des Art. 76 Abs. 2 der [X.] 1408/71 gegeben sind.

cc) Wenn es sich bei Art. 76 Abs. 2 der [X.] 1408/71 um eine gemeinschaftsrechtliche Ermessensnorm handelt, dann hängt der Erfolg der Anfechtungsklage davon ab, ob dem zuständigen Träger im vorliegenden Fall ein vom nationalen Gericht kontrollierbarer Fehler bei der Anwendung dieser Norm unterlaufen ist.

2. Zur ersten Vorlagefrage

Nach Auffassung des Senats wird dem zuständigen Träger des [X.]s durch Art. 76 Abs. 2 der [X.] 1408/71 ein Ermessen eingeräumt, ob er bei unterbliebener Antragstellung im [X.]nangehörigen Art. 76 Abs. 1 der [X.] 1408/71 anwendet und so den bei ihm bestehenden Anspruch ganz oder teilweise zum Ruhen bringt.

a) Entgegen der Auffassung der Familienkasse bestimmt sich die Priorität bei unterbliebener Antragstellung nach der Regelung des Art. 76 Abs. 2 der [X.] 1408/71. Mit dem Begriff der "vorgesehenen" Leistungen in Art. 76 Abs. 1 der [X.] 1408/71 wird der Fall der nicht beantragten Leistungen nicht erfasst. Absatz 2 stellt gegenüber Absatz 1 des Art. 76 der [X.] 1408/71 demnach keine überflüssige Bestimmung dar. Vielmehr handelt es sich um eine Sonderregelung für den speziellen Fall der fehlenden Antragstellung (gleicher Auffassung [X.], Die gemeinschaftsrechtliche Koordinierung [X.] Familienleistungen, 2001, S. 245; [X.], [X.] --[X.]-- 1991, 432, 437). Dies folgt nicht zuletzt aus der Entstehungsgeschichte der Norm. Der Gemeinschaftsgesetzgeber reagierte mit der Anfügung des Absatzes 2 in Art. 76 der [X.] 1408/71 gezielt auf die frühere Rechtsprechung des [X.] ([X.]-Urteile vom 13. November 1984 [X.]/83, [X.], [X.]. 1984, 3741; vom 23. April 1986 [X.]/84, [X.], [X.]. 1986, 1401, und vom 4. Juli 1990 [X.]/89, [X.], [X.]. 1990, [X.]), wonach bei fehlender Antragstellung im Wohnsitzstaat der Familie der Kindergeldanspruch im [X.] nicht ausgesetzt werden durfte (vgl. Igl in [X.], Europäisches Sozialrecht, 4. Aufl. 2005, Art. 76 Rz 2).

b) Dass Art. 76 Abs. 2 der [X.] 1408/71 eine Ermessensnorm darstellt, hat der Senat bereits in seinem Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache [X.] ausgeführt ([X.]-Beschluss vom 30. Oktober 2008 III R 92/07, [X.]E 223, 358, [X.], 923), ohne dass der [X.] in seinem Urteil noch auf die Rechtsfrage eingehen musste ([X.]-Urteil vom 14. Oktober 2010 [X.]/09, [X.], [X.]. 2010, [X.]). Nach [X.] Rechtsverständnis wird mit der Verwendung des Wortes "kann" in einem Gesetzes- oder Verordnungstext zwar nicht zwingend zum Ausdruck gebracht, dass der Verwaltung ein Ermessensspielraum eingeräumt wird (zu "[X.], die kein Ermessen einräumen, siehe z.B. [X.]-Urteil vom 13. November 1985 II R 208/82, [X.]E 145, 487, [X.] 1986, 241; vgl. auch [X.] in Tipke/[X.], Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 367 AO Rz 26). So setzt der Gesetz- oder Verordnungsgeber das Wort "kann" bisweilen auch lediglich als ein Synonym für "ist befugt" oder "ist ermächtigt" ein und drückt damit etwa aus, dass die Exekutive zum Eingriff in Freiheitsgrundrechte berechtigt ist. Für ein solches Rechtsverständnis fehlen im Anwendungsbereich des Art. 76 Abs. 2 der [X.] 1408/71 als einer Prioritätsregelung für konkurrierende Ansprüche jedoch die Anhaltspunkte. Der Wortlaut der Regelung ("kann") deutet daher auf eine gemeinschaftsrechtliche Ermessensvorschrift hin (gleicher Auffassung [X.], [X.] 1991, 432, 437; [X.], [X.] 1991, 45, 49; [X.], [X.] 1998, 553, 557; [X.], a.a.[X.], S. 246; [X.] in [X.]/[X.], Wechselwirkungen zwischen dem [X.] Sozialrecht und dem Sozialrecht der Bundesrepublik [X.], S. 217; [X.]/[X.], [X.], Kommentar, Fach D, [X.] Kommentierung, Stand 3/08, Art. 76 der [X.] 1408/71 Rz 21; Igl in [X.], a.a.[X.], Art. 76 Rz 8). Welche Kriterien für eine Ermessensausübung relevant sein können, ist zwar ebenfalls ungeklärt (s. zweite Vorlagefrage). Doch spricht die Tatsache, dass die Auslegung und Anwendung des Art. 76 der [X.] 1408/71 mehrere denkbare Kriterien erkennen lässt (siehe Ausführungen zur zweiten Vorlagefrage), für eine Ermessenseinräumung zugunsten der Verwaltung. Ergibt umgekehrt die Auslegung einer Norm keinerlei Hinweise, wie ein etwaiges Ermessen auszuüben sein könnte, dann deutet dieser Befund auf eine gebundene Entscheidung hin (vgl. [X.]-Urteil in [X.]E 145, 487, [X.] 1986, 241).

3. Zur zweiten Vorlagefrage

Falls Art. 76 Abs. 2 der [X.] 1408/71 dem zuständigen Träger ein Ermessen einräumt, ob er bei fehlender Antragstellung im [X.]nangehörigen Art. 76 Abs. 1 der [X.] 1408/71 zur Anwendung bringt, dann ist zu klären, welche Ermessenserwägungen der Träger anzustellen hat.

a) So ist zum einen denkbar, dass dem zuständigen Träger bei der Prüfung der in dem anderen Mitgliedstaat geltenden Anspruchsvoraussetzungen ein Ermessen im Sinne eines Beurteilungsspielraumes zukommt (in diesem Sinne z.B. [X.], a.a.[X.], S. 246, m.w.N.; zum gemeinschaftsrechtlichen Ermessensbegriff und der Rechtsprechung des [X.] vgl. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2005, S. 280 ff.). So kann es beispielsweise für den zuständigen Träger nicht sicher aufklärbar sein, ob das Recht des anderen Mitgliedstaats im konkreten Fall überhaupt eine Familienleistung --und deren etwaige Höhe-- vorsieht. Eine solche Situation könnte etwa eintreten, wenn der zuständige Träger des anderen Mitgliedstaats die unter Verwendung des vorgesehenen Vordrucks E 411 gestellte Anfrage (vgl. Beschluss Nr. 147 der Verwaltungskommission der [X.] Gemeinschaften für die [X.] Sicherheit der Wanderarbeitnehmer vom 10. Oktober 1990 zur Durchführung des Art. 76 der [X.] 1408/71, ABl[X.] 1991 Nr. L 235, S. 21) nicht oder nicht vollständig beantwortet.

b) Zum anderen könnte Ermessen auch in denkbaren Härtefällen, wie z.B. bei aus unverschuldeter Rechtsunkenntnis unterbliebener Antragstellung oder bei in Schädigungsabsicht erfolgter Nichtbeantragung von Leistungen durch einen geschiedenen Elternteil (vgl. [X.]-Beschluss in [X.]E 223, 358, [X.], 923), auszuüben sein.

c) Schließlich könnte bei der Ermessensausübung zu würdigen sein, dass ein vom Willen der Berechtigten abhängiges Wahlrecht, Leistungen des einen oder des anderen Mitgliedstaats in Anspruch zu nehmen, nicht anzuerkennen ist und folglich der Gesichtspunkt der gerechten Lastenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten das Ruhen des [X.] im [X.] regelmäßig gebieten könnte. Wenn der objektive Gesichtspunkt der gerechten Lastenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten vorrangig die Ermessensausübung zu bestimmen hätte, dann wäre der individuelle Grund für die Nichtbeantragung der Leistungen im [X.] grundsätzlich unbeachtlich (vgl. [X.]-Beschluss in [X.]E 223, 358, [X.], 923).

Der Senat erblickt in den Gesichtspunkten der gerechten Lastenverteilung und des Verbots eines Wahlrechts des Beschäftigten, die Leistungen des einen oder des anderen Mitgliedstaats nach Belieben in Anspruch zu nehmen, die wesentlichen Umstände, an denen sich die zuständigen Träger bei der Ausübung ihres Ermessens zu orientieren haben.

4. Zur dritten Vorlagefrage

Falls Art. 76 Abs. 2 der [X.] 1408/71 dem zuständigen Träger ein Ermessen einräumt, stellt sich schließlich die Frage nach der Reichweite der richterlichen Prüfungskompetenz. Der [X.] hat zur Ausübung des Ermessens durch [X.] judiziert, dass die Ermessensbetätigung der Kontrolle des [X.] nicht entzogen ist. Der [X.] hat im Rahmen dieser Kontrolle festzustellen, ob die Verfahrensvorschriften eingehalten worden sind, ob der Sachverhalt zutreffend festgestellt worden ist und ob keine offensichtlich fehlerhafte Würdigung dieses Sachverhalts und kein Ermessensmissbrauch (Ermessensfehler) vorliegen (z.B. [X.]-Urteile vom 18. Juli 2007 [X.]/05 P, [X.], [X.]. 2007, [X.]; vom 22. Oktober 1991 [X.]/90, [X.], [X.]. 1991, [X.]). Es fragt sich, ob diese Grundsätze auch im [X.] Sozialrecht gelten und insbesondere auf die gerichtliche Überprüfung einer vom zuständigen Träger gemäß Art. 76 Abs. 2 der [X.] 1408/71 getroffenen Ermessensentscheidung zu übertragen sind. Nach Auffassung des Senats verfügt der zuständige Träger zwar grundsätzlich über ein weites Ermessen (vgl. [X.]-Urteil vom 19. Juni 1980 [X.], [X.], [X.]. 1980, 1979, zu Art. 69 Abs. 2 der [X.] 1408/71), doch liegt ein vom nationalen Gericht zu beanstandender Ermessensfehler jedenfalls dann vor, wenn der Träger sein ihm vom Gemeinschaftsrecht eingeräumtes Ermessen gar nicht ausübt, weil er sich rechtsfehlerhaft zu einer gebundenen Entscheidung verpflichtet fühlt.

Meta

III R 40/09

27.09.2012

Bundesfinanzhof 3. Senat

EuGH-Vorlage

vorgehend FG Düsseldorf, 18. Mai 2009, Az: 14 K 1750/08 Kg, Urteil

Art 267 AEUV, Art 76 Abs 1 EWGV 1408/71, Art 76 Abs 2 EWGV 1408/71, § 102 FGO, § 62 Abs 1 Nr 2 Buchst b EStG 2002, § 63 Abs 1 S 3 EStG 2002, EStG VZ 2006, EStG VZ 2007

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, EuGH-Vorlage vom 27.09.2012, Az. III R 40/09 (REWIS RS 2012, 2720)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 2720

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