Bundesfinanzhof, Beschluss vom 21.08.2018, Az. X S 23/18

10. Senat | REWIS RS 2018, 4604

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Gegenstand

Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses; fehlendes Rechtsschutzbedürfnis bei Antrag auf Änderung eines AdV-Beschlusses


Leitsatz

1. NV: Die gesetzlich angeordnete Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses entfällt ausnahmsweise dann, wenn ein solcher Beschluss auf einem offensichtlichen Irrtum beruht (bzw. offensichtlich fehlerhaft ist) und zu einem mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht zu vereinbarenden --d.h. im Ergebnis willkürlichen-- Ausschluss des gesetzlichen Richters führen würde.

2. NV: Zu den ungeschriebenen Sachentscheidungsvoraussetzungen einer jeden Anrufung eines Gerichts gehört das Vorhandensein eines Rechtsschutzbedürfnisses. Dies fehlt u.a. dann, wenn es für den Rechtsbehelfsführer einen verfahrensmäßig einfacheren und/oder schnelleren Weg gibt, das angestrebte Rechtsschutzziel zu erreichen.

3. NV: Hat ein Gericht AdV für die Dauer des Einspruchsverfahrens gewährt, fehlt einem auf § 69 Abs. 6 Satz 2 FGO gestützten Antrag des FA auf Aufhebung der AdV das Rechtsschutzbedürfnis, wenn der Einspruch entscheidungsreif ist und das FA die AdV auch ohne Anrufung des Gerichts schneller und einfacher durch Erlass der Einspruchsentscheidung beenden könnte.

Tenor

Der Antrag wird als unzulässig verworfen.

Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsteller zu tragen.

Tatbestand

I.

1

Der Senat hatte dem Antragsgegner (dem Steuerpflichtigen und damaligen Antragsteller und Beschwerdeführer) mit Beschluss vom 12. Juli 2017 X B 16/17 ([X.], 523) hinsichtlich der streitgegenständlichen Steuernachforderungen in überwiegendem Umfang Aussetzung der Vollziehung (AdV) ab Fälligkeit bis einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung oder einen Monat nach anderweitiger Erledigung des [X.] gewährt. Dies beruhte insbesondere darauf, dass der Senat den Sachverhalt seinerzeit als noch nicht hinreichend aufgeklärt angesehen hatte.

2

Am 14. September 2017 forderte der Antragsteller des vorliegenden Verfahrens (das Finanzamt --[X.]--) den Antragsgegner zur Vorlage zahlreicher Unterlagen auf. In einer Besprechung mit den [X.]rozessbevollmächtigten ([X.]) des Antragsgegners am 18. Dezember 2017 wiederholte das [X.] diese Aufforderung. [X.] entgegnete, es seien bereits 141 Arbeitsstunden auf das Verfahren verwendet worden; das entsprechende Honorar sei "in den Sand gesetzt" worden, da der Antragsgegner es nicht bezahlen könne. Aus wirtschaftlichen Gründen könne [X.] daher die vom [X.] beabsichtigte erneute [X.]rüfung der Aufzeichnungen des Antragsgegners nicht begleiten. Die vom [X.] angeforderten Unterlagen würden daher nicht vorgelegt.

3

Am 14. Mai 2018 stellte das [X.] beim Finanzgericht ([X.]) den vorliegend streitgegenständlichen Antrag auf Änderung des [X.] des Senats in [X.], 523 gemäß § 69 Abs. 6 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) wegen veränderter Umstände. Diese Umstände seien hier darin zu sehen, dass der Antragsgegner die Mitwirkung verweigere, die für die Aufklärung der vom Senat im angeführten Beschluss aufgezeigten offenen Sachverhaltsfragen erforderlich sei.

4

Das [X.] verwies das Verfahren --nach Anhörung der [X.] mit Beschluss vom 13. Juni 2018 an den [X.] ([X.]). Hierfür stützte es sich auf § 70 Satz 1 [X.]O i.V.m. § 17a Abs. 2 Satz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes ([X.]) und führte zur Begründung aus, es sei sachlich unzuständig. Gericht der Hauptsache sei vorliegend nicht das [X.], sondern der [X.], da dieser in seinem Beschluss über die Beschwerde eine eigenständige, von derjenigen des [X.] abweichende Entscheidung über die AdV für die Dauer des [X.] getroffen habe. Da das [X.] noch nicht mit der Hauptsache befasst sei, wirke die Beschlusszuständigkeit (Abänderungsbefugnis) des [X.] fort ([X.]-Beschluss vom 15. September 2010 I B 27/10, [X.]E 230, 208, [X.], 935). Zwar beziehe sich diese Entscheidung nur auf § 69 Abs. 6 Satz 1 [X.]O. Allerdings werde die Änderungsbefugnis im Streitfall maßgebend durch den eigenständigen Tenor des vorangegangenen [X.]-Beschlusses über die Beschwerde vorgegeben. Eine Bündelung der Zuständigkeit beim Beschwerdegericht sei auch zur Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen geboten. Außerdem erhalte das Beschwerdegericht auf diese Weise Kenntnis von den zur [X.]rüfung erforderlichen Umständen.

5

Das [X.] beantragt,
den Senatsbeschluss in [X.], 523 dahingehend zu ändern, dass die Gewährung von AdV rückwirkend ab dem 18. Dezember 2017 aufgehoben werde.

6

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, ihn als unbegründet abzulehnen.

Entscheidungsgründe

II.

7

Der Verweisungsbeschluss des [X.] hat in bindender Weise die Zuständigkeit des [X.] für die Entscheidung über den Antrag des [X.] begründet.

8

Dabei kann offen bleiben, ob der Senat der vom [X.] vertretenen Auffassung zur [X.] in der Sache folgen könnte (vgl. § 35 [X.]O). Denn gemäß § 17a Abs. 2 Satz 3 [X.] ist ein Verweisungsbeschluss für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist, bindend. Diese Regelung betrifft zwar unmittelbar nur die [X.]. § 70 Satz 1 [X.]O erstreckt den Anwendungsbereich des § 17a [X.] für die Finanzgerichtsbarkeit aber auch auf die sachliche ([X.]) Zuständigkeit.

9

Zwar entfällt die in § 17a Abs. 2 Satz 3 [X.] vorbehaltlos gesetzlich angeordnete Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ausnahmsweise dann, wenn ein solcher Beschluss auf einem offensichtlichen Irrtum beruht (bzw. offensichtlich fehlerhaft ist) und zu einem mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) nicht zu vereinbarenden --d.h. im Ergebnis willkürlichen-- Ausschluss des gesetzlichen Richters führen würde, weil dann das einfache Gesetz hinter den Rechtsgedanken des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zurücktreten muss ([X.]-Beschlüsse vom 25. März 1993 I S 4/93, [X.]/NV 1993, 676, unter [X.], m.w.N., und vom 11. Mai 2000 I S 1/00, [X.]/NV 2000, 1350, unter II.2.). Dasselbe gilt, wenn ein Verweisungsbeschluss auf einem schweren Verfahrensfehler beruht, insbesondere eine erforderliche Anhörung der Beteiligten unterblieben ist (Beschluss des [X.] vom 15. März 2006 L 1 [X.]/06 KR ER).

Ein Verfahrensfehler oder eine offensichtliche Fehlerhaftigkeit des Verweisungsbeschlusses im Sinne eines objektiv willkürlichen Handelns des [X.] ist hier nicht erkennbar, zumal das [X.] --nach Anhörung der [X.] seine Auffassung zur [X.] ausführlich begründet hat. Damit bleibt es bei der in § 17a Abs. 2 Satz 3 [X.] angeordneten Bindungswirkung.

III.

Der Antrag ist unzulässig, da es dem [X.] an dem hierfür erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis fehlt.

1. Zu den ungeschriebenen Sachentscheidungsvoraussetzungen einer jeden Anrufung eines Gerichts gehört das Vorhandensein eines [X.] (vgl. [X.]-Beschluss vom 22. März 1996 III B 173/95, [X.]E 180, 217, [X.] 1996, 506, unter [X.]). Das anfängliche Fehlen oder der spätere Wegfall des [X.] bewirkt die Unzulässigkeit des gewählten gerichtlichen Rechtsbehelfs ([X.]-Urteil vom 7. Juni 1994 IX R 141/89, [X.]E 174, 446, [X.] 1994, 756, unter II.1.).

Das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis fehlt u.a. dann, wenn es für den Rechtsbehelfsführer einen verfahrensmäßig einfacheren und/oder schnelleren Weg gibt, das angestrebte Rechtsschutzziel zu erreichen (vgl. u.a. [X.]-Entscheidungen vom 11. Januar 1984 II B 35/83, [X.]E 139, 508, [X.] 1984, 210; vom 13. Dezember 1985 III B 84/85, [X.]/NV 1986, 476, unter 2., und vom 3. Juli 2014 III R 53/13, [X.]E 246, 437, [X.] 2015, 282, Rz 10).

2. Dies ist hier der Fall.

In seinem Beschluss in [X.]E 257, 523 hatte der Senat die AdV bis einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung befristet. Das Einspruchsverfahren ist auch gegenwärtig noch beim [X.] anhängig. Das [X.] hat während des [X.] die [X.] (vgl. § 365 Abs. 1, § 367 der Abgabenordnung) und ist jederzeit in der Lage, eine Einspruchsentscheidung zu erlassen. Da die dem Antragsgegner vom Senat gewährte AdV einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung automatisch endet, könnte das [X.] sein mit dem gerichtlichen Änderungsantrag erstrebtes Ziel auch auf anderem Wege --durch Gebrauchmachen von seiner eigenen [X.]-- erreichen, ohne dass es eines aufwändigen gerichtlichen Verfahrens bedürfte.

Der Antragsgegner hat schon mit Schreiben vom 1. Juni 2017 --also vor über einem [X.] um eine Entscheidung über den Einspruch gebeten. Er hat mehrfach ausdrücklich erklärt, im Einspruchsverfahren keine Unterlagen mehr vorlegen zu wollen. Damit ist das [X.] --da andere Möglichkeiten der Sachaufklärung als die nochmalige Einsichtnahme in die Aufzeichnungen des Antragsgegners nicht ersichtlich sind-- an der weiteren Sachaufklärung gehindert. Es ist daher nicht erkennbar, welche Umstände dem Erlass einer Einspruchsentscheidung aus Sicht des [X.] gegenwärtig noch entgegenstehen.

Der kurzfristige Erlass der --vom Antragsgegner ohnehin bereits erbetenen-- Einspruchsentscheidung wäre für das [X.] deutlich einfacher und schneller durchführbar als das von ihm eingeschlagene Verfahren, auf dem Umweg eines Antrags auf Änderung des [X.] des Senats eventuell eine inhaltliche Äußerung des [X.] zum Umfang der Mitwirkungspflichten des Antragsgegners zu erhalten.

3. [X.] beruht auf § 135 Abs. 1 [X.]O.

Meta

X S 23/18

21.08.2018

Bundesfinanzhof 10. Senat

Beschluss

vorgehend BFH, 12. Juli 2017, Az: X B 16/17, Beschluss

§ 69 Abs 6 S 2 FGO, § 70 S 1 FGO, § 17a Abs 2 S 3 GVG, Art 101 Abs 1 S 2 GG

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 21.08.2018, Az. X S 23/18 (REWIS RS 2018, 4604)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2018, 4604


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. X S 23/18

Bundesfinanzhof, X S 23/18, 21.08.2018.


Az. X B 16/17

Bundesfinanzhof, X B 16/17, 12.07.2017.


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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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