Bundesfinanzhof, Urteil vom 14.04.2021, Az. X K 3/20

10. Senat | REWIS RS 2021, 6999

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Gegenstand

Überlange Verfahrensdauer bei Nichtbearbeitung eines von einem unzuständigen Gericht an das zuständige Gericht verwiesenen Verfahrens


Leitsatz

1. NV: Wenn ein isoliertes PKH-Verfahren, das zunächst bei einem offensichtlich unzuständigen Gericht anhängig gemacht worden war, von diesem erst 45 Monate nach Verfahrenseingang an das zuständige Gericht verwiesen wird, muss das zuständige Gericht das bereits erheblich verzögerte Verfahren grundsätzlich unverzüglich fördern. Die für isolierte finanzgerichtliche PKH-Verfahren ohne wesentliche Besonderheiten geltende Vermutung, dass die Verfahrensdauer noch angemessen ist, wenn das Gericht gut acht Monate nach der Einleitung des Verfahrens mit Maßnahmen zur Entscheidungsfindung beginnt und ab diesem Zeitpunkt nicht für nennenswerte Zeiträume inaktiv bleibt (BFH-Urteil vom 20.03.2019 - X K 4/18, BFHE 263, 498, BStBl II 2020, 16, Rz 56 ff.), ist hier nicht anwendbar.

2. NV: Der Senat hält grundsätzlich daran fest, dass ein Gericht sich jedenfalls in einem Verfahren, dessen Dauer bereits als deutlich unangemessen anzusehen ist, nicht mehr auf die bloße Weiterleitung eingehender Schriftsätze beschränken darf, sondern das Verfahren aktiv fördern muss (vgl. BFH-Urteil vom 27.06.2018 - X K 3-6/17, BFH/NV 2019, 27, Rz 69). Im Hinblick auf die gegenteilige Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 03.09.2014 - B 10 ÜG 12/13 R, SozR 4-1720 § 198 Nr. 4, Rz 57) ist aber beim Eingang sehr komplexer Schriftsätze oder beim Eingang zahlreicher Schriftsätze innerhalb desselben Monats auch ohne erkennbares Tätigwerden des Gerichts davon auszugehen, dass der Monat des Schriftsatzeingangs noch Teil der angemessenen Verfahrensdauer ist.

3. NV: Wenn ein Beteiligter teilweise unterliegt, ist ihm --oberhalb der Geringfügigkeitsgrenze des § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO-- auch dann ein Kostenanteil aufzuerlegen, wenn zwischen dem zugesprochenen und dem beantragten Betrag weder im Bereich der Gerichtskosten noch im Bereich der Rechtsanwaltsvergütung ein Gebührensprung liegt.

Tenor

Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin wegen der unangemessenen Dauer des vor dem [X.] geführten Verfahrens 10 K 10223/17 PKH eine Entschädigung von 1.100 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 03.07.2020 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens hat zu 11/15 der Beklagte und zu 4/15 die Klägerin zu tragen.

Tatbestand

I.

1

Die Klägerin begehrt gemäß § 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes ([X.]) eine [X.]ntschädigung wegen der von ihr als unangemessen angesehenen Dauer eines Verfahrens auf Gewährung von Prozesskostenhilfe ([X.]), das seit dem 30.12.2013 zunächst vor dem Sozialgericht ([X.]) [X.] und anschließend --nach [X.]rgehen eines entsprechenden [X.] seit dem 25.09.2017 beim [X.] ([X.]) [X.]-Brandenburg anhängig war. Das Verfahren wurde durch einen ablehnenden Beschluss des [X.], der der Klägerin am [X.] zugestellt worden ist, beendet.

2

Dem Ausgangsverfahren liegt der folgende Sachverhalt zugrunde: Die Klägerin lebte mit ihrem [X.]hemann ([X.]) zunächst in der [X.] ([X.]), wo sie rentenversicherungspflichtig beschäftigt war. [X.] wurde der gemeinsame [X.] der [X.]heleute geboren. Am 27.12.2006 schlossen sowohl die Klägerin als auch [X.] bei einem Anbieter jeweils einen zertifizierten Altersvorsorgevertrag ab. Jedenfalls in den Jahren 2006, 2009 und 2012 zahlte die Klägerin eigene Beiträge auf ihren Altersvorsorgevertrag.

3

Im Januar 2007 trennte sich die Klägerin von [X.]; im Mai 2007 zog sie mit ihrem [X.] nach [X.], wo sie seither wohnt. In der Folgezeit widmete sie sich zunächst der Betreuung ihres [X.]es. [X.] war sie einige Monate vollzeiterwerbstätig, danach als arbeitsuchend gemeldet.

4

Der Anbieter leitete die Zulageanträge der Klägerin für die Jahre ab 2006 erst im Juli 2012 an die [X.], [X.] ([X.]) weiter. Diese lehnte die Festsetzung von [X.] ab. Den "Widerspruch" der Klägerin vom 06.10.2012 legte die [X.] als Antrag auf Festsetzung der Zulagen nach § 90 Abs. 4 des [X.]inkommensteuergesetzes aus. Sie setzte die Zulagen mit Bescheiden vom 15.03.2013 für die Jahre 2006 bis 2009 und vom 20.06.2013 für die Jahre 2010 bis 2012, die der Klägerin aber allesamt nicht zugegangen sind, auf jeweils 0 € fest. Für 2006 sei die Antragsfrist verstrichen, für 2007 sei der erforderliche Mindesteigenbeitrag nicht geleistet worden und für die Beitragsjahre 2008 bis 2012 fehle es sowohl an einer Pflichtversicherung in der inländischen gesetzlichen Rentenversicherung als auch an der unbeschränkten [X.]inkommensteuerpflicht.

5

Mit einem am 30.12.2013 eingegangenen Schreiben beantragte die Klägerin beim [X.] die Bewilligung von [X.] für eine beabsichtigte Untätigkeitsklage gegen die [X.] bezüglich der Jahre 2006 bis 2013. Für den Fall, dass das [X.] hierfür nicht zuständig sein sollte, beantragte sie bereits in der Antragsschrift die Verweisung an das zuständige Gericht. Die [X.] wies mit Schreiben vom 30.01.2014 darauf hin, dass das [X.] sachlich unzuständig sei, weil nicht der [X.], sondern der [X.] eröffnet sei. Die Klage dürfte zudem unzulässig sein, da kein [X.]inspruchsverfahren durchgeführt worden sei. Das [X.] teilte der Klägerin am 05.02.2014 mit, es prüfe, das Verfahren an das zuständige Gericht zu verweisen, und gab ihr Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Klägerin beantragte daraufhin am 07.03.2014 nochmals die Weiterleitung des [X.] an das zuständige Gericht.

6

Die [X.] gab der Klägerin die Bescheide über die Festsetzung der [X.] für die Jahre 2006 bis 2012 am 10.06.2014 neu bekannt. Am 05.07.2014 legte die Klägerin "[X.]inspruch gegen den Aufhebungsbescheid der Behörde vom 10.6.2014" ein.

7

Am 03.02.2015, 29.03.2016 und 28.11.2016 erhob die Klägerin jeweils Verzögerungsrügen.

8

Am 02.02.2017 teilte das [X.] den Beteiligten mit, es beabsichtige, das Verfahren an das zuständige [X.] zu verweisen, und gab den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Klägerin erwiderte, sie sei nun mit der Verweisung nicht mehr einverstanden. Das Verfahren sei bereits derart lange beim [X.] anhängig, dass dieses dadurch die eigene Zuständigkeit angenommen habe. Durch eine Verweisung würde die schon jetzt unangemessene Verfahrensdauer noch weiter verlängert.

9

Mit Beschluss vom 20.03.2017 erklärte das [X.] den Rechtsweg zu den Sozialgerichten für unzulässig und verwies den Rechtsstreit an das [X.]. Die Klägerin erhob hiergegen am 24.04.2017 Beschwerde zum [X.] (L[X.]), die am 10.08.2017 zurückgewiesen wurde. Am 20.09.2017 sandte das [X.] die Verfahrensakten an das [X.] ab, wo sie am 25.09.2017 eingingen.

Der beim [X.] zuständige Berichterstatter erteilte der Klägerin am 05.10.2017, 02.11.2017, 30.11.2017 und 31.01.2018 rechtliche Hinweise, auf die die Klägerin jeweils antwortete. Mit einem Schreiben der Klägerin vom 22.02.2018 endete der Wechsel der vorbereitenden Schriftsätze im [X.] beim [X.] zunächst.

Das L[X.], bei dem die Klägerin wegen der Dauer des vor dem [X.] geführten [X.]s bereits eine [X.]ntschädigungsklage erhoben hatte, fragte beim [X.] am 02.01.2018, 07.08.2018 und 08.02.2019 wegen des Sachstands an.

Die [X.] hatte der Klägerin am 13.08.2018 --außerhalb des finanzgerichtlichen Verfahrens-- rechtliche Hinweise zu ihren Anträgen auf [X.] für die Jahre 2012 bis 2016 erteilt; am 08.01.2019 wies sie die [X.]insprüche für die Jahre 2013 bis 2017 zurück. Beide Schreiben nahm die Klägerin zum Anlass, beim [X.] die [X.]rweiterung ihres [X.] auf die betroffenen Jahre zu beantragen (Schreiben vom 24.09.2018, 23.02.2019 und [X.]). Am [X.] erhob sie erneut Verzögerungsrüge.

Das [X.] bat die Klägerin am [X.] um [X.]inreichung einer aktuellen [X.]rklärung über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Dem kam die Klägerin am 18.05.2019 nach.

Mit Beschluss vom 04.07.2019, der der Klägerin am [X.] zugestellt wurde, lehnte das [X.] in Senatsbesetzung den [X.], der sich mittlerweile auf die Jahre 2006 bis 2017 erstreckte, ab. Für die Jahre 2006 bis 2012 biete die beabsichtigte Rechtsverfolgung schon deshalb keine Aussicht auf [X.]rfolg, weil kein Vorverfahren durchgeführt worden sei und es sich nicht um eine Untätigkeitsklage handele. Für die Jahre 2013 bis 2017 bestehe kein Zulageanspruch, weil die Klägerin weder dem [X.] noch einem ausländischen Rentenversicherungssystem angehört habe. Selbst wenn sie dem [X.] Rentenversicherungssystem angehört haben sollte, wäre dies jedenfalls nicht mit der [X.] gesetzlichen Rentenversicherung vergleichbar. Aus dem Unionsrecht könnten keine weitergehenden Ansprüche abgeleitet werden.

Für den vor dem [X.] geführten [X.] hat das L[X.] der Klägerin mit rechtskräftig gewordenem Urteil vom 12.12.2019 eine [X.]ntschädigung in Höhe von 2.000 € zugesprochen.

Am 03.01.2020 hat die Klägerin beim [X.] ([X.]) [X.] für eine beabsichtigte [X.]ntschädigungsklage mit einem Streitwert von 1.353 € beantragt, die ihr mit Beschluss vom 12.03.2020 - X S 1/20 ([X.]) ([X.]/NV 2020, 933) bewilligt worden ist. Der Beschluss wurde der ihr beigeordneten Prozessbevollmächtigten am 12.06.2020 zugestellt.

Am 25.06.2020 hat die Klägerin [X.]ntschädigungsklage erhoben und wegen der versäumten Klagefrist einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt. Sie ist der Auffassung, die vom Senat (Urteil vom [X.], [X.][X.] 263, 498, [X.], 16) für [X.]-Verfahren angenommene typisierende Vermutung einer angemessenen Dauer, sofern das Gericht gut acht Monate nach der [X.]inleitung des Verfahrens mit Maßnahmen zu dessen [X.]rledigung beginne, sei hier nicht anwendbar, weil das [X.] das [X.]-Verfahren dem [X.] bereits entscheidungsreif vorgelegt habe. Ungeachtet dessen sei das [X.] in den Monaten Februar 2018 bis April 2019 (insgesamt 15 Monate) untätig geblieben.

Die Klägerin beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin wegen überlanger Dauer des beim [X.] [X.]-Brandenburg unter dem Aktenzeichen 10 K 10223/17 [X.] geführten Verfahrens eine [X.]ntschädigung in Höhe von 1.500 € [X.] Zinsen seit Rechtshängigkeit in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu zahlen.

Der Beklagte hat keinen Antrag gestellt und auf eine Gegenäußerung zu der Klage verzichtet.

Entscheidungsgründe

II.

Die Klage ist zulässig.

Zwar ist die sechsmonatige Klagefrist des § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG, die mit der Zustellung des verfahrensbeendenden Beschlusses des [X.] begann, am 10.02.2020 (Montag) abgelaufen. Die [X.] ist erst am 25.06.2020 --und damit nach [X.] beim [X.] eingegangen.

Diese Fristüberschreitung ist jedoch aufgrund des am 03.01.2020 --innerhalb der [X.] in formell ordnungsmäßiger Weise eingeleiteten [X.] unschädlich. Dabei kann der [X.] [X.] wie in seinem Urteil in [X.]E 263, 498, [X.], 16, Rz 42 ff.-- offenlassen, ob er sich der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (B[X.]) anschließen könnte, wonach es sich bei § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG um eine nicht wiedereinsetzungsfähige materiell-rechtliche Ausschlussfrist handeln soll, eine unverzüglich (innerhalb von zwei Wochen) nach Zugang des [X.] erhobene [X.] aber fristgerecht sein soll ([X.] vom 07.09.2017 - B 10 ÜG 1/17 R, [X.] 4-1710 Art. 23 Nr. 5, Rz 22, 27). Denn diese Auffassung käme im Streitfall angesichts der Unverzüglichkeit der Klageerhebung ebenso zur Zulässigkeit der [X.] wie die --nach Auffassung des [X.]s [X.], die Klagefrist nach den allgemein hierfür geltenden Regeln als wiedereinsetzungsfähig anzusehen und die zweiwöchige Frist des § 56 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) anzuwenden.

III.

Die Klage ist überwiegend --im Umfang von 1.100 € statt der beantragten 1.500 €-- begründet.

1. Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet.

Auch bei einem isolierten [X.] handelt es sich um ein taugliches Ausgangsverfahren, dessen unangemessene Dauer zu einem Entschädigungsanspruch führen kann (vgl. ausführlich [X.]surteil in [X.]E 263, 498, [X.], 16, Rz 30 f.).

2. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG).

Diese gesetzlichen Maßstäbe beruhen auf der ständigen Rechtsprechung des [X.] und des [X.] ([X.]). Zur Vermeidung von Wiederholungen wird hierzu auf das [X.]surteil vom 07.11.2013 - [X.] ([X.]E 243, 126, [X.], 179, Rz 48 ff.) Bezug genommen. Hiernach ist der Begriff der "Angemessenheit" für Wertungen offen, die dem Spannungsverhältnis zwischen dem Interesse an einem möglichst zügigen Abschluss des Verfahrens einerseits und anderen, ebenfalls hochrangigen sowie verfassungs- und menschenrechtlich verankerten prozessualen Grundsätzen --wie dem Anspruch auf Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes durch inhaltlich möglichst zutreffende und qualitativ möglichst hochwertige Entscheidungen, der Unabhängigkeit der [X.] und dem Anspruch auf den gesetzlichen [X.]-- Rechnung tragen. Danach darf die zeitliche Grenze bei der Bestimmung der Angemessenheit der Dauer des Ausgangsverfahrens nicht zu eng gezogen werden. Insbesondere ist die Dauer eines Gerichtsverfahrens nicht schon dann "unangemessen", wenn die Betrachtung eine Abweichung vom Optimum ergibt; vielmehr muss eine deutliche Überschreitung der äußersten Grenzen des Angemessenen feststellbar sein ([X.]surteil in [X.]E 243, 126, [X.], 179, Rz 53). Dem Ausgangsgericht ist ein erheblicher Spielraum für die Gestaltung seines Verfahrens --auch in zeitlicher [X.] einzuräumen.

3. Zur Beurteilung der Angemessenheit von [X.] hat der [X.] ausgeführt, es handele sich trotz des summarischen und nicht kontradiktorischen Charakters nicht um ein Bewilligungsverfahren auf Zuruf. Vielmehr gelte im finanzgerichtlichen [X.] der Untersuchungsgrundsatz; auch sei dem späteren Prozessgegner im Regelfall rechtliches Gehör zu gewähren. Gleichwohl hat der [X.] auch hier für den Regelfall eine Typisierung für möglich gehalten. So besteht für ein finanzgerichtliches [X.] die Vermutung einer noch angemessenen Verfahrensdauer, wenn das Gericht gut acht Monate nach der Einleitung des Verfahrens mit Maßnahmen zur Entscheidungsfindung beginnt und ab diesem Zeitpunkt nicht für nennenswerte Zeiträume inaktiv wird (zum Ganzen [X.]surteil in [X.]E 263, 498, [X.], 16, Rz 56 ff.).

4. Diese Typisierung ist im vorliegenden Fall aber nicht anwendbar.

a) Zwar folgen aus der Anwendung der in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG beispielhaft genannten Kriterien für den Streitfall noch keine Besonderheiten. Denn der [X.] tritt dem [X.] in dessen Beurteilung bei, dass das Ausgangsverfahren von durchschnittlicher Bedeutung, durchschnittlicher Schwierigkeit und --ausschließlich wegen des Umfangs der eingereichten [X.] mindestens durchschnittlicher Komplexität war. Dies allein stünde der Anwendung der typisierenden Rechtsprechung des [X.]s daher nicht entgegen.

b) Auch kann der [X.] der Klägerin nicht darin folgen, dass das Verfahren dem [X.] durch das [X.] bereits entscheidungsreif vorgelegt worden war. Denn es ist nicht Aufgabe eines unzuständigen Gerichts, das Verfahren zur Entscheidungsreife zu führen, sondern das Verfahren so schnell wie möglich an das zuständige Gericht abzugeben.

c) Allerdings besteht im vorliegenden Fall die Besonderheit, dass das Ausgangsverfahren bereits seit Ende 2013 beim [X.] anhängig war und erst im September 2017 --nach Rechtskraft des [X.] beim [X.] anhängig wurde. Zu diesem Zeitpunkt war die Verfahrensdauer bereits als deutlich unangemessen anzusehen, was auch der Auffassung des [X.] in seinem Urteil entspricht, mit dem es der Klägerin für die Verfahrensdauer vor dem [X.] eine Entschädigung von 2.000 € zugesprochen hat. In einem solchen Fall wäre es nicht sachgerecht, dem Gericht, an das die Sache zuständigkeitshalber verwiesen wird, für das bereits erkennbar stark verzögerte Verfahren einen weiteren Nichtbearbeitungszeitraum von acht Monaten zuzugestehen. Vielmehr muss ein solches Verfahren grundsätzlich unverzüglich gefördert werden.

Zwar kann nicht erwartet werden, dass ein Spruchkörper beim Eingang eines an ihn verwiesenen, bereits stark verzögerten Verfahrens die Arbeit an den von ihm bereits laufend geförderten Verfahren sogleich einstellt und sich nur noch diesem [X.] zuwendet. Ebenfalls ist zu berücksichtigen, dass der Beteiligte, der das Verfahren eingeleitet hat, die Verweisung infolge der ihm zuzurechnenden unzutreffenden Auswahl des angerufenen Gerichts zu vertreten hat. Einem solchen Beteiligten kann aber jedenfalls bei einem ohnehin bereits vorrangig zu fördernden [X.] nicht zugemutet werden, einen längeren Zeitraum --auch nicht die vom [X.] in seinem Urteil in [X.]E 263, 498, [X.], 16 für den Regelfall des [X.] genannten acht Monate-- auf den Beginn der Verfahrensförderung durch das neu zuständige Gericht zu warten.

5. Vor diesem Hintergrund ist eine Betrachtung der konkreten Verfahrensabläufe vorzunehmen, die zu dem Ergebnis führt, dass die Verfahrensdauer vor dem [X.] im Umfang von elf Monaten unangemessen war.

a) Bereits kurz nach Eingang des Verfahrens (25.09.2017) hat das [X.] der Klägerin und der [X.] am 05.10.2017 rechtliche Hinweise erteilt. Weitere Hinweise folgten am 02.11.2017 und 30.11.2017. Im Dezember 2017 war eine Entscheidung noch nicht möglich, da der [X.] eine Stellungnahmefrist bis zum 18.12.2017 eingeräumt war. Am 31.01.2018 erteilte das [X.] der Klägerin weitere Hinweise.

Von Oktober 2017 bis Januar 2018 ist daher eine durchgängige Aktivität des Gerichts zu verzeichnen, so dass dieser Teil der Verfahrensdauer jedenfalls als angemessen anzusehen ist, ohne dass der [X.] trennscharf entscheiden müsste, ab welchem Zeitpunkt das [X.] zu einer Förderung des Verfahrens verpflichtet gewesen wäre.

b) Im daran anschließenden Zeitraum von Februar 2018 bis März 2019 (insgesamt 14 Monate) lässt sich den Akten dann aber keine gerichtliche Aktivität entnehmen. Allerdings hat die Klägerin während dieses Zeitraums in drei Monaten (Februar und September 2018 sowie Februar 2019) jeweils Schriftsätze beim [X.] eingereicht, auf die das [X.] aber nicht reagiert hat.

aa) Das B[X.] geht --in wohl nicht bindenden Hinweisen im Rahmen der Zurückverweisung an die dortige [X.] davon aus, dass eingereichte Schriftsätze, die einen gewissen Umfang haben und sich inhaltlich mit Fragen des Verfahrens befassen, generell eine Überlegungs- und Bearbeitungszeit beim Gericht bewirkten, die mit einem Monat zu Buche schlage (Urteil vom 03.09.2014 - B 10 ÜG 12/13 R, [X.] 4-1720 § 198 Nr. 4, Rz 57).

bb) Demgegenüber hat der erkennende [X.] --in einer letztlich ebenfalls nicht entscheidungstragenden Erwägung-- im Urteil vom 27.06.2018 - [X.] ([X.]/NV 2019, 27, Rz 69) unter Hinweis auf die Rechtsprechung des [X.] (Beschluss vom 27.07.2004 - 1 BvR 1196/04, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 2004, 3320, unter [X.], m.w.N.), wonach sich mit zunehmender Verfahrensdauer die Pflicht des Gerichts verdichtet, sich nachhaltig um eine Förderung, Beschleunigung und Beendigung des Verfahrens zu bemühen, ausgeführt, das Gericht dürfe sich jedenfalls in einem Verfahren, dessen Dauer bereits als deutlich unangemessen anzusehen sei, nicht mehr auf die bloße Weiterleitung eingehender Schriftsätze beschränken, sondern müsse das Verfahren aktiv fördern.

cc) Im vorliegenden Verfahren muss nicht in grundsätzlicher Hinsicht entschieden werden, welcher Auffassung zu folgen wäre. Denn im Februar 2018, als ein weiterer Schriftsatz der Klägerin einging, war die Dauer des beim [X.] geführten Verfahrensabschnitts zwar möglicherweise als "beginnend unangemessen", aber noch nicht als "deutlich unangemessen" im Sinne der im vorstehenden Absatz angeführten [X.]srechtsprechung anzusehen. Jedenfalls ab März 2018 --sechs Monate nach Eingang des bereits verzögerten Verfahrens-- hätte das [X.] das Verfahren dann aber fördern müssen.

Am 24.09.2018 --zu einem Zeitpunkt, als die Verfahrensdauer bereits als "deutlich unangemessen" anzusehen war-- hat die Klägerin einen weiteren Schriftsatz eingereicht. Dieser warf allerdings gleich in mehrfacher Weise komplexe neue Fragen auf. So wies die Klägerin in materiell-rechtlicher Hinsicht darauf hin, dass sie in [X.] auch als Arbeitslose in der dortigen --nach anderen Grundsätzen als in [X.] organisierten-- Rentenversicherung pflichtversichert sei. In verfahrensrechtlicher Hinsicht erstreckte sie den bisher für die Jahre 2006 bis 2013 rechtshängigen [X.] auch auf die zwischenzeitlich für die Jahre 2012 bis 2016 ergangenen Einspruchsentscheidungen bzw. stellte insoweit hilfsweise einen neuen [X.]. Jedenfalls bei einem derart komplexen Schriftsatz schließt der [X.] sich zur Vermeidung einer Divergenz dem B[X.] an, so dass der Monat September 2018 nicht dem Bereich der unangemessenen Verfahrensdauer zuzuordnen ist.

Gleiches gilt im Ergebnis für den Monat Februar 2019. Dieser weist die Besonderheit auf, dass die Klägerin [X.] auch ohne erkennbare Reaktion des [X.]-- gleich vier Schriftsätze eingereicht hat. So hat sie am [X.] die Einspruchsentscheidung für die weiteren Jahre 2013 bis 2017 übermittelt, in einem davon getrennten Schriftsatz vom [X.] Verzögerungsrüge erhoben, am 23.02.2019 erklärt, der [X.] solle auf die neue Einspruchsentscheidung erstreckt werden, und am [X.] weitere Erläuterungen zu diesem erweiterten [X.] abgegeben.

Damit liegt im Zeitraum von März 2018 bis März 2019 für insgesamt elf Monate eine unangemessene Verfahrensdauer vor.

c) Weitere entschädigungsrelevante Verzögerungen sind nicht zu verzeichnen.

Im April 2019 hat das [X.] die Klägerin zur Einreichung einer aktuellen Erklärung über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse aufgefordert; dem kam die Klägerin im Mai 2019 nach. Der verfahrensabschließende Beschluss ist am 04.07.2019 ergangen. Angesichts des erheblichen Umfangs jener Entscheidung, die in der Besetzung mit drei Berufsrichtern zu ergehen hatte, ist davon auszugehen, dass das [X.] bereits im Juni 2019 mit der Vorbereitung und Beratung des Beschlusses befasst war. Am [X.] ist der Beschluss der Klägerin zugestellt und das Verfahren damit abgeschlossen worden.

6. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung einer Geldentschädigung liegen vor.

a) Hierfür ist zunächst die Erhebung einer Verzögerungsrüge erforderlich (§ 198 Abs. 3 Satz 1 GVG).

Die erste Verzögerungsrüge der Klägerin vor dem [X.] datiert vom 03.02.2015, also gut 13 Monate nach Einleitung des gerichtlichen Verfahrens. Zu diesem Zeitpunkt bestand bereits --wie in § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG für die Erhebung einer wirksamen Verzögerungsrüge vorausgesetzt-- die Besorgnis, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Frist abgeschlossen wird.

Diese vor dem [X.] erhobene Verzögerungsrüge wirkt auch für den sich vor dem [X.] anschließenden Verfahrensabschnitt, da es sich rechtlich um dasselbe Verfahren handelt (vgl. § 17b Abs. 1 GVG).

b) Das Entstehen eines Nichtvermögensnachteils wird in Fällen unangemessener Verfahrensdauer gemäß § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG vermutet. Anhaltspunkte dafür, dass eine Wiedergutmachung auf andere Weise (§ 198 Abs. 2 Satz 2, Abs. 4 GVG) im Streitfall ausreichend wäre, sind nicht erkennbar.

c) Auch Umstände dafür, dass der in § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG genannte Regelbetrag von 1.200 € für jedes Jahr der Verzögerung vorliegend unbillig (§ 198 Abs. 2 Satz 4 GVG) sein könnte, sind weder von den Beteiligten vorgetragen noch sonst ersichtlich. Obwohl im Gesetz ein Jahresbetrag genannt ist, ist dieser im konkreten Fall nach Monaten zu bemessen ([X.]surteil vom 19.03.2014 - X K 8/13, [X.]E 244, 521, [X.], 584, Rz 37, m.w.N.).

7. Der Klägerin stehen ab dem 03.07.2020 ([X.] der [X.] an den Beklagten [X.] unter dem Gesichtspunkt der Rechtshängigkeit zu (vgl. § 291 i.V.m. § 288 Abs. 1 Satz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs, § 66 Satz 2 [X.]O, und [X.]surteil vom 12.07.2017 - X K 3-7/16, [X.]E 259, 393, [X.] 2018, 103, Rz 58).

8. Der [X.] hält es für angebracht, ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid zu entscheiden (§ 90a Abs. 1 [X.]O).

9. [X.] beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 [X.]O.

Für eine Auferlegung der gesamten Kosten an den Beklagten in Anwendung des § 136 Abs. 1 Satz 3 [X.]O war hier kein Raum.

a) Zwar fallen für Streitwerte von 1.001 € bis 1.500 € jeweils dieselben Gerichtskosten und Rechtsanwaltsvergütungen an, weil in diesem Bereich kein Gebührensprung stattfindet. Daher hätte eine [X.], die von Anfang an auf den letztlich zugesprochenen Entschädigungsbetrag von 1.100 € gerichtet gewesen wäre, im Vergleich zu dem tatsächlich gestellten Antrag von 1.500 € keine geringeren Gerichtskosten oder Rechtsanwaltsvergütungen ausgelöst.

b) Gleichwohl ist der [X.] an den Wortlaut des § 136 Abs. 1 Satz 3 [X.]O gebunden, der voraussetzt, dass "der andere nur zu einem geringen Teil unterlegen ist". Nach der Rechtsprechung des [X.] wird diese Voraussetzung ab einer Unterliegensquote von 7 bis 8 % nicht mehr bejaht (so [X.] in [X.]/[X.]/[X.], § 136 [X.]O Rz 18). Dies gilt auch für verhältnismäßig niedrige Streitwerte. So ist § 136 Abs. 1 Satz 3 [X.]O bei einer Unterliegensquote von 7,5 % und einem Streitwert von 5.082 € ([X.]-Beschluss vom 18.06.2013 - III R 19/09, [X.]/NV 2013, 1568) bzw. einer Unterliegensquote von 8,5 % und einem Streitwert von 1.694 € ([X.]-Beschluss vom 18.03.2013 - III R 5/09, [X.]/NV 2013, 933) nicht angewendet worden. Diese Geringfügigkeitsgrenze ist mit der vorliegenden Unterliegensquote von 27 % deutlich überschritten.

Zur --nicht ganz wortlautidentischen-- Parallelvorschrift des § 92 Abs. 2 Nr. 1 der Zivilprozessordnung geht der [X.] (Urteil vom 10.04.2019 - VIII ZR 12/18, NJW 2019, 2308, Rz 56, m.w.N.) von einer Geringfügigkeitsgrenze von 10 % aus, die hier ebenfalls überschritten wäre.

c) Jedenfalls in dem Sachverhalt, der dem [X.]-Beschluss in [X.]/NV 2013, 933 zugrunde lag, gab es zwischen dem zugesprochenen und dem beantragten Betrag (1.694 € bzw. 1.551 €) [X.] wie im vorliegenden [X.] keinen Gebührensprung. Gleichwohl hat der [X.] dort von einer Anwendung des § 136 Abs. 1 Satz 3 [X.]O abgesehen.

Meta

X K 3/20

14.04.2021

Bundesfinanzhof 10. Senat

Urteil

§ 198 Abs 1 GVG, § 198 Abs 5 S 2 GVG, § 136 Abs 1 S 1 FGO, § 136 Abs 1 S 3 FGO, § 155 S 2 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 14.04.2021, Az. X K 3/20 (REWIS RS 2021, 6999)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 6999

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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