Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 26.04.2023, Az. 10 AZR 163/22

10. Senat | REWIS RS 2023, 3909

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Gegenstand

Tarifliche Sonderzahlung - Kürzung - Lohnersatzleistung


Tenor

1. Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 3. März 2022 - 10 [X.] 1085/21 - aufgehoben.

2. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des [X.] (Oder) vom 1. Juli 2021 - 8 Ca 193/21 - wird zurückgewiesen.

3. Die Beklagte hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Höhe der tariflichen Sonderzahlung für das Jahr 2020.

2

Der Kläger ist seit dem 7. Juni 2003 bei der [X.] bzw. deren [X.] in Vollzeit beschäftigt. Im Arbeitsverhältnis der Parteien gilt kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Manteltarifvertrag für Arbeitnehmer der gewerblichen Verbundgruppen in [X.] vom 22. Dezember 2011 ([X.]).

3

Der [X.] hat auszugsweise folgenden Inhalt:

        

§ 16 Urlaubsgeld

        

Jeder Arbeitnehmer/jede Arbeitnehmerin erhält ein Urlaubsgeld nach Maßgabe folgender Bestimmungen:

        

1.    

Das Urlaubsgeld beträgt nach einer sechsmonatigen ununterbrochenen Betriebszugehörigkeit (Wartezeit) 460,- €, für Auszubildende 230,- €.

        
        

…       

                 
        

7.    

Für Zeiträume, in denen kein Anspruch auf Arbeitsentgelt, Entgeltfortzahlung oder Lohnersatzleistungen besteht, entfällt für jeden vollen Monat 1/12 des tariflichen Urlaubsgeldes.

        
        

…       

                 
        

§ 17 Sonderzahlungen

        
        

1.    

Arbeitnehmer/innen und Auszubildende erhalten eine Sonderzahlung entsprechend den folgenden Bestimmungen:

        
        

2.    

Der Anspruch entsteht nach einer sechsmonatigen ununterbrochenen Betriebszugehörigkeit.

        
                 

Die Sonderzahlung wird jeweils mit dem Novembergehalt des Jahres nach Entstehung des Anspruchs fällig, sofern durch Einzelvereinbarungen oder Betriebsvereinbarung keine abweichende Regelung getroffen ist.

        
        

3.    

Die Sonderzahlung beträgt 35% des [X.] für November.

        
        

…       

                 
        

5.    

In dem Jahr, in dem der/die Arbeitnehmer/in oder Auszubildende auf eigene Veranlassung den Betrieb verlässt oder das Arbeitsverhältnis durch verhaltensbedingte Kündigung beendet wird, besteht kein Anspruch auf eine Sonderzahlung. Ausnahmen bilden die Arbeitnehmer/innen, die wegen Invalidität, Erreichung der Altersgrenze bzw. Inanspruchnahme des vorgezogenen Altersruhegeldes in der 2. Jahreshälfte ausscheiden. Diese Arbeitnehmer/innen haben vollen Anspruch auf eine Sonderzahlung.

        
        

6.    

Ruhen die Rechte aus dem Arbeitsverhältnis bzw. Ausbildungsverhältnis, z. B. bei Wehrdienst, Zivildienst, Elternzeit oder besteht kein Anspruch auf Arbeitsentgelt, Ausbildungsvergütung, Lohnersatzleistungen von mehr als zwei Wochen im Kalendermonat, so ermäßigt sich der Anspruch um 1/12 je Kalendermonat.

        
        

…       

                 
        

§ 19 [X.]

        
        

1.    

In Vollzeit Beschäftigte und Auszubildende haben Anspruch auf eine kalenderjährliche Einmalzahlung in Höhe von 340 € ([X.]), die ausschließlich für Zwecke der Altersvorsorge verwendet werden kann. Der Anspruch ermäßigt sich für jeden Kalendermonat, für den weniger als zwei Wochen Anspruch auf Arbeitsentgelt besteht, um 1/12.

        
        

…       

                 
        

4.    

Der Anspruch auf den [X.] besteht auch für Zeiten des gesetzlichen Mutterschutzes, bei anderen Unterbrechungen des Arbeitsverhältnisses ohne Entgeltfortzahlung, soweit ein entsprechender Erstattungsanspruch des Arbeitgebers besteht, den dieser gegebenenfalls auch durch eine Abtretung erlangen kann.“

        

4

Der Kläger war im Zeitraum vom 20. April 2020 bis zum 30. August 2020 arbeitsunfähig erkrankt; ab dem 2. Juni 2020 bezog er Krankengeld.

5

Im November 2020 leistete die Rechtsvorgängerin der [X.] an den Kläger eine Sonderzahlung iHv. 738,00 Euro brutto. Dabei kürzte sie den grundsätzlich iHv. 984,00 Euro brutto bestehenden Anspruch für die Zeit des [X.] um 3/12.

6

Der Kläger forderte die Rechtsvorgängerin der [X.] mit außergerichtlichem Schreiben vom 20. Januar 2021 zur Zahlung des [X.] iHv. 246,00 Euro brutto auf. Eine Reaktion auf dieses Schreiben erfolgte nicht.

7

Mit seiner am 12. Februar 2021 beim Arbeitsgericht eingegangenen und am 17. Februar 2021 zugestellten Klage hat der Kläger sein Zahlungsbegehren weiterverfolgt. Er hat gemeint, während der gesamten Dauer der Erkrankung Lohnersatzleistungen iSv. § 17 Nr. 6 [X.] bezogen zu haben, sodass eine Kürzung der Sonderzahlung nicht gerechtfertigt sei. Der Begriff der „Lohnersatzleistungen“ erfasse Geldleistungen, die an die Stelle des ausbleibenden Arbeitsentgelts träten, sodass sowohl die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall als auch das Krankengeld hierunter fielen. Mit der Jahressonderzahlung solle in erster Linie die Betriebstreue und nicht die tatsächlich erbrachte Arbeitsleistung honoriert werden.

8

Der Kläger hat beantragt,

        

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 246,00 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 1. Dezember 2020 zu zahlen.

9

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, Lohnersatzleistungen iSv. § 17 Nr. 6 [X.] seien nur solche des Arbeitgebers. Die Tarifvertragsparteien hätten zwei Fallgestaltungen definiert, die zu einer Kürzung der Sonderzahlung berechtigten, zum einen Ruhenstatbestände und zum anderen fehlende Zahlungsverpflichtungen des Arbeitgebers. [X.] Grund für die Kürzung der Sonderzahlung sei jeweils die Nichtarbeit für einen nicht unerheblichen Zeitraum. Daraus sei erkennbar, dass die Tarifvertragsparteien mit der Sonderzahlung insbesondere tatsächlich erbrachte Arbeitsleistung honorieren wollten.

Die [X.] wegen des Fehlens eines Anspruchs auf Arbeitsentgelt, Ausbildungsvergütung und Lohnersatzleistungen müssten im Zusammenhang gesehen werden. [X.] für diese Begriffe sei die Zahlung durch den Arbeitgeber und nicht durch Dritte. Hierfür spreche auch die Systematik der Norm. Ein anderes Verständnis würde im Übrigen dazu führen, dass so gut wie kein Anwendungsbereich für die Kürzungsmöglichkeit nach § 17 Nr. 6 Halbs. 2 [X.] verbleibe.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das [X.] hat auf die Berufung der [X.] das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit der vom [X.] zugelassenen Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf die ungekürzte Sonderzahlung für das [X.]. [X.] war deshalb aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO) und die Entscheidung des Arbeitsgerichts wiederherzustellen (§ 563 Abs. 3 ZPO).

I. Die Klage ist begründet. Dem Kläger steht ein Anspruch gegen die Beklagte aus § 17 Nr. 1 bis 3 [X.] auf die volle Sonderzahlung für das [X.] und insoweit auf Zahlung des [X.] iHv. 246,00 Euro brutto zu. Die Beklagte war entgegen der Ansicht des [X.] nicht berechtigt, die Sonderzahlung nach § 17 Nr. 6 [X.] wegen des [X.] um 3/12 zu kürzen.

1. Der [X.] gilt im Arbeitsverhältnis der Parteien kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit nach § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend.

2. Der Kläger erfüllt - was zwischen den Parteien nicht im Streit steht - grundsätzlich die Anspruchsvoraussetzungen nach § 17 [X.] für die tarifliche Sonderzahlung iHv. 35 % des [X.] für November (§ 17 Nr. 3 [X.]). Er hat im [X.] eine mehr als sechsmonatige ununterbrochene Betriebszugehörigkeit aufzuweisen und das Arbeitsverhältnis bestand während des gesamten Kalenderjahres.

3. Die Beklagte war auch nicht berechtigt, die Sonderzahlung für die Monate Juni, Juli und August 2020, in welchen der Kläger fast durchgängig Krankengeld bezogen hat, nach § 17 Nr. 6 [X.] um je 1/12 zu kürzen. Die tariflichen Voraussetzungen für eine Kürzung der Sonderzahlung sind nicht gegeben.

a) Eine Kürzung nach § 17 Nr. 6 Halbs. 1 [X.] kommt nicht in Betracht. Im Fall einer über den [X.] hinausgehenden Erkrankung ruht das Arbeitsverhältnis grundsätzlich nicht, sondern auf Seiten des Arbeitnehmers liegt eine Leistungsstörung vor ([X.]., zuletzt zB [X.] 12. Oktober 2022 - 10 [X.] - Rn. 33 mwN).

b) Auch eine Kürzung nach § 17 Nr. 6 Halbs. 2 [X.] scheidet aus. Der Kläger hatte während des streitgegenständlichen Zeitraums in jedem Monat Anspruch auf Arbeitsentgelt in Form von Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall (1. Juni 2020) oder auf eine Lohnersatzleistung im Sinn der Tarifnorm (2. Juni bis 30. August 2020). Krankengeld fällt unter diesen Begriff. Das ergibt die Auslegung des Tarifvertrags (v gl. zu den Grundsätzen der Tarifauslegung die [X.]., zB [X.] 16. November 2022 - 10 [X.] - Rn. 13).

aa) Bereits der Wortlaut von § 17 Nr. 6 [X.] spricht dafür, dass die Tarifvertragsparteien von einem weiten Verständnis des Begriffs „Lohnersatzleistungen“ ausgegangen sind und nicht nur solche des Arbeitgebers, sondern auch Leistungen von dritter Seite - wie das Krankengeld - erfasst wissen wollten.

(1) Bei der Wortlautauslegung ist, wenn die Tarifvertragsparteien einen Begriff nicht eigenständig definieren, erläutern oder einen feststehenden Rechtsbegriff verwenden, vom allgemeinen Sprachgebrauch auszugehen. Wird ein Fachbegriff verwendet, der in allgemeinen oder in fachlichen Kreisen eine bestimmte Bedeutung hat, ist davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien mit diesem Begriff den allgemein üblichen Sinn verbinden wollten, wenn nicht sichere Anhaltspunkte für eine abweichende Auslegung gegeben sind, die aus dem Tarifwortlaut oder anderen aus dem Tarifvertrag selbst ersichtlichen Gründen erkennbar sein müssen. Wird ein bestimmter Begriff mehrfach in einem Tarifvertrag verwendet, ist im Zweifel davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien dem Begriff im Geltungsbereich dieses Tarifvertrags stets die gleiche Bedeutung beimessen wollen ([X.]., zuletzt zB [X.] 24. Febr[X.]r 2021 - 10 [X.] - Rn. 18 mwN).

(2) Die Tarifvertragsparteien des [X.] haben den Begriff der „Lohnersatzleistungen“ nicht selbst definiert. Es gab und gibt auch keinen feststehenden Rechtsbegriff der Lohn- bzw. Entgeltersatzleistung für den Bereich des Arbeitsrechts. Die Beklagte weist insoweit zutreffend darauf hin, dass es nicht auf den Begriff der „Lohnersatzleistung“ in § 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b EStG, der eine Vielzahl von Leistungen beinhaltet, ankommt. Der Norm liegt keine verallgemeinerungsfähige Begriffsbestimmung zugrunde, die über ihren Anwendungsbereich im Steuerrecht hinaus allgemeine Geltung beanspruchen könnte.

(3) Das allgemeine arbeitsrechtliche Verständnis von „Lohnersatzleistungen“ im Zeitpunkt des Abschlusses des [X.] war ein weites. Als Lohnersatzleistungen wurden alle Leistungen angesehen, die dazu dienen, den Ausfall des Lohns bzw. Arbeitsentgelts in bestimmten, für den Arbeitnehmer typischerweise schwierigen [X.] Sit[X.]tionen auszugleichen (vgl. [X.] 25. April 2007 - 10 [X.]/06 - Rn. 24). So fielen nach der im Zeitpunkt des Abschlusses des [X.] vorliegenden Rechtsprechung des [X.] unter diesen Begriff sowohl Lohnersatzleistungen des Arbeitgebers als auch der Sozialversicherungsträger. Als Lohnersatzleistungen wurden [X.]. die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall (vgl. [X.] 25. April 2007 - 10 [X.]/06 - Rn. 24; 9. Oktober 2002 - 5 [X.] - zu I 1 b der Gründe, [X.]E 103, 60; siehe zur entsprechenden Bezeichnung als Entgeltersatzleistung [X.] 15. November 2018 - 6 [X.] - Rn. 25, [X.]E 164, 168), der Zuschuss des Arbeitgebers zum Mutterschaftsgeld (vgl. [X.] 25. April 2007 - 10 [X.]/06 - Rn. 24; 29. Jan[X.]r 2003 - 5 [X.] - zu 1 der Gründe), der Zuschuss des Arbeitgebers zum Krankengeld (vgl. [X.] 25. April 2007 - 10 [X.]/06 - Rn. 24) sowie Leistungen wegen vorübergehender Verhinderung iSv. § 616 BGB (vgl. [X.] 31. Juli 2002 - 10 [X.] - zu II 2 a bb (3) (aa) der Gründe) bezeichnet. Das [X.] verstand unter Lohnersatzleistungen aber auch Krankengeldleistungen (vgl. [X.] 17. Oktober 1990 - 5 [X.] - zu I 3 b der Gründe, [X.]E 66, 126; 7. Oktober 1987 - 5 [X.] - zu II 1 der Gründe, [X.]E 56, 191; enger wohl [X.] 31. Juli 2002 - 10 [X.] - aaO), das vormalige [X.] ([X.] 11. Febr[X.]r 1998 - 5 [X.] -zu 3 der Gründe) sowie das Arbeitslosengeld ([X.] 14. März 2006 - 9 [X.] - Rn. 56, [X.]E 117, 231). Dieses weite Verständnis in der arbeitsrechtlichen Rechtsprechung spricht dafür, dass das Krankengeld unter den Begriff der „Lohnersatzleistungen“ fällt (vgl. zur Berücksichtigung der Rechtsprechung bei der Auslegung eines Tarifvertrags [X.] 22. Febr[X.]r 2023 - 10 [X.] - Rn. 55 mwN).

(4) Anhaltspunkte dafür, dass die Tarifvertragsparteien von einem engeren Verständnis ausgegangen sind, ergeben sich aus dem [X.] nicht. Insbesondere hat ein Wille, die Sonderzahlung für Zeiten des [X.] zu kürzen, keinen hinreichenden Niederschlag im Wortlaut des ohne jegliche Einschränkungen verwendeten Begriffs „Lohnersatzleistungen“ gefunden. Entgegen der Ansicht der Beklagten ergibt sich ein solcher auch nicht aus der Aneinanderreihung der Begriffe „Arbeitsentgelt, Ausbildungsvergütung, Lohnersatzleistungen“. Zwar könnte die Nennung der „Lohnersatzleistungen“ im [X.] an „Arbeitsentgelt, Ausbildungsvergütung“ dafür sprechen, dass es sich in allen drei Fällen um arbeitgeberseitige Leistungen handeln soll. Die durch Kommata getrennte Reihung von „Arbeitsentgelt, Ausbildungsvergütung, Lohnersatzleistungen“ kann aber auch so verstanden werden, dass sie verschiedene, voneinander unabhängige Elemente eines Tatbestands enthält, die diesen jeweils erweitern.

bb) Systematik und Gesamtzusammenhang des [X.] zeigen - insbesondere unter Berücksichtigung von § 16 Nr. 7 [X.] und § 19 Nr. 1 und 4 [X.] - ebenfalls, dass zu den „Lohnersatzleistungen“ iSv. § 17 Nr. 6 Halbs. 2 [X.] auch das Krankengeld zählt.

(1) Nach § 16 Nr. 7 [X.] entfällt für Zeiträume, in denen „kein Anspruch auf Arbeitsentgelt, Entgeltfortzahlung oder Lohnersatzleistungen besteht“, für jeden vollen Monat 1/12 des tariflichen Urlaubsgeldanspruchs. Die Tarifvertragsparteien haben dabei in § 16 Nr. 7 [X.] die Begriffe „Entgeltfortzahlung“ und „Lohnersatzleistungen“ ausdrücklich nebeneinander aufgeführt. Damit wird verdeutlicht, dass der Begriff der Lohnersatzleistung über den der Entgeltfortzahlung iSv. § 3 EFZG hinausgehen und umfassender zu verstehen sein muss. Diese Gegenüberstellung zeigt, dass unter „Lohnersatzleistungen“ nicht nur arbeitgeberseitige Leistungen fallen, sondern insbesondere auch das Krankengeld, das sich an die Entgeltfortzahlung bei längerer Arbeitsunfähigkeit anschließt. Da die Tarifvertragsparteien einem Begriff im Geltungsbereich eines Tarifvertrags im Zweifel stets die gleiche Bedeutung beimessen wollen, wenn - wie vorliegend - keine gegenteiligen Anhaltspunkte ersichtlich sind (Rn. 20), muss dieses Verständnis auch für § 17 Nr. 6 [X.] gelten.

(2) Aus der Regelung in § 16 Nr. 7 [X.] ergibt sich außerdem, dass den Tarifvertragsparteien die in der betrieblichen Praxis nicht seltene Fallkonstellation einer Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers präsent war (vgl. zu diesem Aspekt [X.] 25. September 2013 - 10 [X.] - Rn. 19). Insoweit wird ihnen auch bewusst gewesen sein, dass im Fall länger andauernder Arbeitsunfähigkeit im [X.] an die Entgeltfortzahlung regelmäßig ein Anspruch auf Krankengeld besteht. Dennoch haben sie darauf verzichtet, den Begriff der Lohnersatzleistungen zu definieren oder generell bzw. speziell in § 17 Nr. 6 Halbs. 2 [X.] einzuschränken, insbesondere den [X.] auszunehmen, obwohl sie ansonsten detaillierte Regelungen zur Anspruchsentstehung und zum Anspruchsausschluss getroffen haben (vgl. § 17 Nr. 2 Satz 1, Nr. 5 und 6 [X.]).

(3) Auch § 19 [X.] stützt dieses Verständnis. § 19 Nr. 1 [X.] regelt einen Anspruch auf einen Altersvorsorgebetrag und eine Kürzungsmöglichkeit um 1/12 für jeden Kalendermonat, für den weniger als zwei Wochen Anspruch auf Arbeitsentgelt besteht. Ausnahmen von dieser Kürzung sind nach § 19 Nr. 4 [X.] nur in - im Vergleich zu § 17 Nr. 6 [X.] - ganz eng umrissenen Fallgestaltungen vorgesehen. Dies verdeutlicht, dass die Tarifvertragsparteien detaillierte Regelungen getroffen haben, unter welchen Voraussetzungen tarifliche Leistungen beansprucht werden können und unter welchen Umständen sich der Anspruch reduziert. Auch deshalb ist davon auszugehen, dass sie für den [X.] in § 17 Nr. 6 Halbs. 2 [X.] eine Regelung getroffen hätten, wenn sie bei diesem in der betrieblichen Praxis regelmäßig auftretenden Fall eine Kürzung des [X.]s beabsichtigt hätten.

(4) Entgegen der Auffassung der Beklagten steht dem nicht die systematische Zusammenschau mit dem Ruhenstatbestand der Elternzeit (vgl. [X.] 18. November 2020 - 5 [X.] - Rn. 24) in § 17 Nr. 6 Halbs. 1 [X.] entgegen. Das Gegenteil ist der Fall. Entscheidender Anknüpfungspunkt der Kürzung nach Halbsatz 1 ist das Ruhen des Arbeitsverhältnisses, also einer wechselseitigen Suspendierung der Hauptpflichten. Ob während des Ruhens - wie häufig - Leistungen von [X.] bezogen werden, ist für diesen Kürzungstatbestand unerheblich. Halbsatz 2 stellt hingegen als Voraussetzung für die Kürzung gerade auf das Fehlen eines Anspruchs auf Arbeitsentgelt oder Lohnersatzleistungen ab.

cc) Sinn und Zweck des § 17 Nr. 6 [X.] stehen dem Auslegungsergebnis nicht entgegen. Zwar dient die Sonderzahlung auch der Vergütung für geleistete Arbeit. Dies bringt [X.]. § 17 Nr. 6 Halbs. 1 [X.] zum Ausdruck, wonach ein Anspruch nicht für Zeiten besteht, in welchen das Arbeits- bzw. Ausbildungsverhältnis ruht. Aus weiteren Regelungen des § 17 [X.] wird aber ersichtlich, dass mit der Sonderzahlung ebenfalls die Betriebszugehörigkeit bzw. Betriebstreue honoriert werden soll. So entsteht ein Anspruch nach § 17 Nr. 2 [X.] erst nach einer sechsmonatigen ununterbrochenen Betriebszugehörigkeit und ein Anspruch besteht nach § 17 Nr. 5 [X.] nicht in dem Jahr, in dem der Arbeitnehmer bzw. Auszubildende auf eigene Veranlassung oder wegen einer verhaltensbedingten Kündigung aus dem Betrieb ausscheidet. Ausnahmen gelten wiederum bei Arbeitnehmern, die wegen Invalidität, Erreichung der Altersgrenze bzw. Inanspruchnahme des vorgezogenen Altersruhegeldes in der zweiten Jahreshälfte ausscheiden. Diese haben den vollen Anspruch auf eine Sonderzahlung. Insgesamt handelt es sich bei der tariflichen Sonderzahlung um eine Leistung mit [X.], bei der die Tarifvertragsparteien Anspruchsvoraussetzungen und [X.] differenziert festgelegt haben (vgl. [X.] 14. März 2012 - 10 [X.] - Rn. 12). Eine einzelne Zwecksetzung, die dazu zwingen würde, das Krankengeld aus dem Begriff der „Lohnersatzleistungen“ iSv. § 17 Nr. 6 Halbs. 2 [X.] auszunehmen, besteht nicht.

dd) Diese Auslegung führt auch zu einem praktisch brauchbaren Ergebnis. Soweit der Arbeitgeber nicht bereits von den Sozialleistungsträgern Kenntnis über den Zeitraum des Bezugs von Krankengeld oder anderen Lohnersatzleistungen erlangt hat, kann dieser Umstand ohne Weiteres vom Arbeitnehmer dargelegt und ggf. nachgewiesen werden.

ee) Entgegen der Auffassung des [X.] und der Beklagten verbleibt auch bei einem solchen Verständnis des Begriffs der Lohnersatzleistungen ein - wenn auch tariflich vorgegeben enger - Anwendungsbereich für die Kürzungsmöglichkeit nach § 16 Nr. 7 Halbs. 2 [X.].

(1) Hauptanwendungsfall des § 17 Nr. 6 Halbs. 2 [X.] ist danach der Wegfall des [X.] des Arbeitnehmers von mehr als zwei Wochen im Kalendermonat nach dem allgemeinen Grundsatz „Ohne Arbeit kein Lohn“ (vgl. dazu zB [X.] 18. Jan[X.]r 2023 - 5 [X.] - Rn. 9 mwN; 12. Oktober 2022 - 10 [X.] - Rn. 19), beispielsweise im Fall des unentschuldigten Fehlens des Arbeitnehmers oder des Fehlens der Voraussetzungen eines Anspruchs nach § 615 BGB, ohne dass Lohnersatzleistungen bezogen werden. Ebenso kann die Sonderzahlung gekürzt werden, wenn die Krankengeldzahlung ausläuft, das Arbeitsverhältnis weiter fortbesteht und der Arbeitnehmer keine Lohnersatzleistungen bezieht.

(2) Soweit die Beklagte in diesem Zusammenhang auf einen möglichen Anspruch auf Arbeitslosengeld nach dem Ende des [X.] verweist und meint, dieses sei bei einem weiten Verständnis auch als Lohnersatzleistung zu sehen, mit der Folge eines - nicht gewollten - ausufernden Tatbestands, trifft dies nicht zu. Bezieht der Arbeitnehmer im fortbestehenden Arbeitsverhältnis Arbeitslosengeld, weil der Arbeitgeber im Hinblick auf die andauernde Arbeitsunfähigkeit auf die Ausübung seines Direktionsrechts verzichtet hat, ist wegen der suspendierten Hauptpflichten aus dem Arbeitsverhältnis von dessen Ruhen auszugehen (vgl. [X.] 14. März 2006 - 9 [X.] - Rn. 27, [X.]E 117, 231; 9. August 1995 - 10 [X.] - zu II der Gründe, [X.]E 80, 308). In einem solchen Fall folgt eine Kürzung des [X.]s bereits aus § 17 Nr. 6 Halbs. 1 [X.].

4. Der Kläger hat die Ausschlussfrist von drei Monaten seit Fälligkeit des Anspruchs nach § 27 Nr. 2 Halbs. 1 [X.] gewahrt. Der [X.] für das [X.] ist nach § 17 Nr. 2 Unterabs. 2, § 8 Nr. 8 Satz 1 [X.] am letzten Arbeitstag des Monats, also am 30. November 2020, zur Zahlung fällig geworden. Der Kläger hat den streitgegenständlichen Anspruch sowohl durch sein außergerichtliches Schreiben vom 20. Jan[X.]r 2021 als auch durch die der Rechtsvorgängerin der Beklagten am 17. Febr[X.]r 2021 zugestellte Klage innerhalb von drei Monaten seit Fälligkeit geltend gemacht.

5. Die Höhe des Anspruchs ist zwischen den Parteien unstreitig. Der Zinsanspruch folgt aus § 288 Abs. 1, § 286 Abs. 2 Nr. 1 BGB.

II. Die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens hat die Beklagte zu tragen (§ 91 Abs. 1, § 97 Abs. 1 ZPO).

        

    [X.]    

        

    Weber    

        

    Günther-Gräff    

        

        

        

    Frankenberg    

        

    Gratzer    

                 

Meta

10 AZR 163/22

26.04.2023

Bundesarbeitsgericht 10. Senat

Urteil

Sachgebiet: AZR

vorgehend ArbG Frankfurt (Oder), 1. Juli 2021, Az: 8 Ca 193/21, Urteil

§ 1 TVG, § 3 Abs 1 TVG, § 4 Abs 1 TVG

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 26.04.2023, Az. 10 AZR 163/22 (REWIS RS 2023, 3909)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 3909

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