Bundessozialgericht, Beschluss vom 06.10.2022, Az. B 8 SO 5/22 B

8. Senat | REWIS RS 2022, 7800

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - Nichtbescheidung eines Antrags auf Terminsverlegung vor Beginn des Termins zur mündlichen Verhandlung


Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 7. Dezember 2021 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. [X.]treitig ist in der Hauptsache im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens die Höhe von Bedarfen für Unterkunft und Heizung für die Leistungen nach dem [X.] - ([X.]) beziehende Klägerin für die [X.] und 2016.

2

Ein Antrag der Klägerin auf Überprüfung bestandskräftiger Bewilligungsbescheide für den genannten Zeitraum, den sie mit tatsächlich höheren Unterkunftskosten als vom Beklagten berücksichtigt begründet hat, ist von dem Beklagten abgelehnt worden (Bescheid vom [X.]; Widerspruchsbescheid vom 19.1.2018). Die hiergegen erhobene Klage hat keinen Erfolg gehabt (Gerichtsbescheid des [X.] <[X.]G> vom 30.9.2020; Urteil des Landessozialgerichts [X.]achsen-Anhalt vom 7.12.2021).

3

Auf die Ladung zur mündlichen Verhandlung am 7.12.2021, 14 Uhr hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin am 26.11.2021 unter Vorlage einer Terminsladung des Amtsgerichts (AG) [X.] auf den [X.], 15 Uhr beantragt, den Termin vor dem L[X.]G zu verlegen, da er wegen der Rückfahrt von [X.] erst am späten Nachmittag des 7.12.2021 wieder vor Ort sei. Das L[X.]G hat hierauf den Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 7.12.2021, 16 Uhr verlegt (Beschluss vom 29.11.2021, dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 1.12.2021 zugestellt). Am 3.12.2021 (Freitag) hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin sodann einen weiteren Antrag auf Aufhebung und Verlegung des Termins vom 7.12.2021, 16 Uhr gestellt, da er wegen der Rückreise von [X.] am 7.12.2021 einen Tag Urlaub genommen habe. Am 7.12.2021 hat das L[X.]G einer Kanzleiangestellten des Klägervertreters telefonisch mitgeteilt, eine Entscheidung über das [X.] werde erst in der mündlichen Verhandlung verkündet. Hierauf ging am 7.12.2021 um 15.13 Uhr über einen Internetfaxdienst ein Ablehnungsgesuch der Klägerin gegen Mitglieder des erkennenden L[X.]G-[X.]enats wegen Besorgnis der Befangenheit ein. Das L[X.]G hat in der mündlichen Verhandlung vom 7.12.2021 entschieden, dem [X.] nicht stattzugeben.

4

Zur Begründung seiner Entscheidung hat das L[X.]G ua ausgeführt, nachdem einem ersten Terminverlegungsantrag des Prozessbevollmächtigten der Klägerin stattgegeben worden sei, hätte ein weiterer kurz vor der mündlichen Verhandlung gestellter [X.] ohne ausreichende Glaubhaftmachung eines [X.] nicht geprüft werden können.

5

Die Klägerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im bezeichneten Urteil und macht als Verfahrensmängel (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]ozialgerichtsgesetz <[X.]GG>) ua die Verletzung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 Grundgesetz , § 62 [X.]GG) geltend.

6

II. Die Beschwerde ist zulässig. [X.]ie genügt hinsichtlich des geltend gemachten [X.] den Darlegungserfordernissen des § 160a Abs 2 [X.]atz 3 iVm § 160 Abs 2 [X.] [X.]GG. Die Beschwerde ist auch begründet.

7

Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 [X.]GG) gewährleistet, dass die Beteiligten zum gerichtlichen Verfahren herangezogen werden und Gelegenheit erhalten, sich vor Erlass der Entscheidung zum Prozessstoff zu äußern. Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, muss den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben, Gelegenheit gegeben werden, ihren [X.]tandpunkt in der Verhandlung darzulegen (vgl [X.] vom 28.8.1991 - 7 [X.]/91 - [X.]ozR 3-1500 § 160a Nr 4 [X.] 5). Zu diesem Zweck bestimmt der Vorsitzende Zeit und Ort der mündlichen Verhandlung und teilt sie den Beteiligten (in der Regel zwei Wochen vorher) mit (§ 110 Abs 1 [X.]atz 1 [X.]GG). Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt wird, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (§ 128 Abs 2 [X.]GG), also dem Anspruch auf rechtliches Gehör genügt wird (vgl B[X.]G vom 16.11.2000 - [X.] RA 122/99 B - [X.]ozR 3-1500 § 160 [X.]3 [X.] 57).

8

Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs umfasst auch das Recht auf Aufhebung oder Verlegung eines anberaumten oder Vertagung eines bereits begonnenen Termins zur mündlichen Verhandlung, wenn dies aus erheblichen Gründen geboten ist. Die erheblichen Gründe sind auf Verlangen des Vorsitzenden, für eine Vertagung auf Verlangen des Gerichts, glaubhaft zu machen. Über einen Aufhebungs- oder [X.] hat der Vorsitzende ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden (§ 202 [X.]atz 1 [X.]GG iVm § 227 Abs 4 [X.]atz 1 Halbsatz 1 Zivilprozessordnung ). Prozessbevollmächtigte dürfen zwar nicht darauf vertrauen, dass das Gericht ihrer Bitte entspricht und den Termin aufhebt, solange sie keine Antwort des Vorsitzenden auf ihre Bitte um Terminsverlegung bzw Terminsaufhebung erhalten haben. Mögliche Versäumnisse der Prozessbevollmächtigten in dieser Hinsicht lassen indessen die Pflicht des L[X.]G unberührt, einen mit einer - auch ggf unzureichenden - Begründung versehenen Antrag noch vor Beginn des Termins zur mündlichen Verhandlung durch den Vorsitzenden zu entscheiden. Dies ist im vorliegenden Fall nicht geschehen. Dass der Vorsitzende den vom Prozessbevollmächtigten geltend gemachten Grund nicht als erheblich oder nicht als hinreichend substantiiert oder nicht glaubhaft gemacht angesehen hat, hat dessen Pflicht unberührt gelassen, über den Aufhebungs- und [X.] noch vor Beginn der mündlichen Verhandlung wirksam zu entscheiden (vgl B[X.]G vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B - RdNr 8; B[X.]G vom [X.] - B 11 [X.] 113/09 B - RdNr 9; B[X.]G vom 13.11.2012 - [X.] U 269/12 B - Rd[X.]0 ff). In der Rechtsprechung des B[X.]G ist auch geklärt, dass die ohne mündliche Verhandlung ergehende Entscheidung über einen [X.] den Beteiligten formlos zur Kenntnis gegeben werden kann (vgl § 202 [X.]atz 1 [X.]GG iVm § 329 Abs 2 [X.]atz 1 ZPO; vgl B[X.]G vom 12.9.2019 - B 9 V 53/18 B - Rd[X.]4; B[X.]G vom 7.4.2022 - B 5 R 210/21 B - RdNr 6).

9

Das Verfahren leidet an einer Versagung rechtlichen Gehörs schon dann (ohne dass es auf die inhaltliche Berechtigung zur Vertagung ankommt), wenn der Vorsitzende seiner Verpflichtung zur Bescheidung eines [X.] bzw [X.]s nicht nachkommt, obwohl eine Entscheidung nach den [X.] möglich gewesen wäre (vgl B[X.]G vom 3.7.2013 - B 12 R 38/12 B; B[X.]G vom 13.11.2012 - [X.] U 269/12 B; B[X.]G vom 27.6.2017 - [X.] U 27/17 B; B[X.]G vom 10.10.2017 - B 12 KR 64/17 B).

Obwohl die Verletzung des rechtlichen Gehörs im sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund ausgestaltet ist (vgl § 202 [X.]atz 1 [X.]GG iVm § 547 ZPO), ist wegen der besonderen Bedeutung der mündlichen Verhandlung für das Gerichtsverfahren im Allgemeinen davon auszugehen, dass eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dadurch, dass ein Verfahrensbeteiligter an deren Teilnahme gehindert worden ist, die daraufhin ergangene Gerichtsentscheidung insgesamt beeinflusst hat (stRspr; vgl etwa B[X.]G vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B - Rd[X.]0 mwN; B[X.]G vom 26.6.2007 - [X.] U 55/07 B - [X.]ozR 4-1750 § 227 [X.] RdNr 7; B[X.]G vom 16.11.2000 - [X.] RA 122/99 B - [X.]ozR 3-1500 § 160 [X.]3 [X.] 62). Eine Angabe, welches Vorbringen durch das beanstandete Verfahren verhindert worden ist, bedarf es deshalb nicht.

Nach § 160a Abs 5 [X.]GG kann das erkennende Gericht in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die [X.]ache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.]G zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] [X.]GG vorliegen. Der [X.]enat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

Das L[X.]G wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Bieresborn                [X.]cholz                Luik

Meta

B 8 SO 5/22 B

06.10.2022

Bundessozialgericht 8. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SO

vorgehend SG Halle (Saale), 30. September 2020, Az: S 7 SO 11/18, Gerichtsbescheid

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 SGG, § 202 S 1 SGG, § 227 Abs 4 S 1 ZPO, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 06.10.2022, Az. B 8 SO 5/22 B (REWIS RS 2022, 7800)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 7800

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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