Bundesgerichtshof, Beschluss vom 21.02.2024, Az. XII ZR 65/23

12. Zivilsenat | REWIS RS 2024, 1407

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Gegenstand

Gehörsverletzung durch die Nichtberücksichtigung erheblichen Sachvortrags zu der Ersatzzustellung eines Versäumnisurteils


Leitsatz

Die Zustellung eines Versäumnisurteils und die Fristwahrung eines dagegen gerichteten Einspruchs ist gemäß § 341 Abs. 1 ZPO von Amts wegen zu prüfen. § 531 Abs. 2 ZPO ist insoweit nicht anwendbar (im Anschluss an BGH, Urteil vom 20. Mai 2014 - VI ZR 384/13, NJW-RR 2014, 1532 und Beschluss vom 7. Juni 2018 - I ZB 57/17, NJW 2018, 2894).

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten wird die Revision gegen den Beschluss des 32. Zivilsenats des [X.] vom 23. März 2023 zugelassen.

Auf die Revision des Beklagten wird der vorgenannte Beschluss aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens einschließlich der Kosten der Nichtzulassungsbeschwerde, an das [X.] zurückverwiesen.

Wert: 60.000 €

Gründe

I.

1

Der [X.] [X.]det sich gegen die Verwerfung seines Einspruchs gegen ein Versäumnisurteil.

2

Die Kläger nehmen den [X.]n nach dem Scheitern der Übernahme einer Gaststätte auf Rückzahlung von 60.000 € nebst Zinsen in Anspruch. Das [X.] hat den [X.]n antragsgemäß durch Versäumnisurteil zur Zahlung verurteilt. Gegen dieses - nach der [X.] an [X.] (erster Vorname und Familienname des [X.]n) adressierte und am 14. Mai 2022 in den „zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung“ eingelegte - Versäumnisurteil hat der [X.] am 1. Juni 2022 Einspruch eingelegt.

3

Das [X.] hat den Einspruch des [X.]n gegen das Versäumnisurteil wegen Versäumung der Einspruchsfrist verworfen. Die hiergegen gerichtete Berufung des [X.]n hat das [X.] durch Beschluss zurückgewiesen. Dagegen [X.]det sich der [X.], der seinen Klageabweisungsantrag weiterverfolgt, mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde.

II.

4

Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Zulassung der Revision und zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses sowie zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das [X.].

5

1. Das [X.] hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, mit der [X.] sei bewiesen, dass dem [X.]n das Versäumnisurteil am 14. Mai 2022 durch Einwurf in den zu seiner Wohnung gehörenden Briefkasten zugestellt worden sei. Die Beweiskraft der [X.] hinsichtlich des Adressaten sei nur dann aufgehoben, [X.]n aufgrund der Bezeichnung unklar bleibe, an welche von mehreren gleichnamigen Personen zugestellt sein solle. Es sei aber nicht ersichtlich, dass eine zweite Person mit dem im Adressfeld der [X.] angegebenen Namen an der Zustelladresse wohne. Die bloße Gleichheit des Nachnamens [X.] führe nicht zur Unklarheit darüber, an [X.] zugestellt sei. Der [X.] habe die Beweiskraft der [X.] mit seinem erstinstanzlichen Vorbringen auch nicht entkräftet. Sein Vortrag, das Versäumnisurteil habe sich erst am 28. oder 29. Mai 2022 in seinem mit dem Nachnamen und seinem zweiten Vornamen B. beschrifteten Briefkasten befunden, es sei möglicherweise vom Zusteller in einen der beiden anderen unter derselben Anschrift angebrachten Briefkästen mit der Beschriftung [X.] eingelegt und dann von dem anderen Hausbewohner dieses Namens bei ihm eingeworfen worden, habe lediglich die Möglichkeit eines anderen als des beurkundeten Ablaufs aufgezeigt. In welchen anderen Briefkasten das Schreiben zuvor eingeworfen worden sein sollte und warum es erst am 28. oder 29. Mai 2022 in den Briefkasten des [X.]n gelangt sei, habe dieser im landgerichtlichen Verfahren dagegen nicht vorgetragen. Der [X.] habe sich insoweit auch nicht in Beweisnot befunden, weil er die namensgleichen Nachbarn hätte befragen und dann Beweis antreten können.

6

Soweit der [X.] - auf den Hinweis nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO - im Berufungsverfahren vorgetragen habe, seine Ermittlungen hätten ergeben, dass die Mitbewohnerin seines Nachbarn mit dem Namen V. [X.] das Schreiben Mitte Mai 2022 in dessen Briefkasten gefunden und dem Nachbarn ausgehändigt habe, der seinerseits das Schreiben Ende Mai 2022 auf den Briefkasten gelegt habe, wo ein anderer Nachbar es gefunden und in seinen - des [X.]n - Briefkasten eingeworfen habe, sei dies nach § 531 Abs. 2 ZPO nicht berücksichtigungsfähig. Der Vortrag sei neu, weil es sich hierbei nicht lediglich um eine Konkretisierung des erstinstanzlichen Vorbringens handele, und die Voraussetzungen für eine Berücksichtigung neuen Vortrags lägen nicht vor.

7

2. Die Revision ist gemäß § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen. Der [X.] beanstandet zu Recht, dass er durch die angefochtene Entscheidung in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt ist.

8

a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Die Nichtberücksichtigung erheblichen Sachvortrags oder hierfür erbrachter Beweisangebote verstößt dabei gegen Art. 103 Abs. 1 GG, [X.]n diese im Prozessrecht keine Stütze findet (vgl. [X.]sbeschluss vom 26. April 2023 - [X.]/22 - [X.], 501 Rn. 10 mwN). Die Schwelle einer solchen grundrechtsrelevanten Gehörsverletzung kann bei der Verwerfung eines Einspruchs gegen ein Versäumnisurteil als verfristet eher überschritten sein, als dies üblicherweise der Fall ist. Denn hiermit ist stets eine Präklusion des Verteidigungsvorbringens verbunden, durch die der [X.] in seiner Möglichkeit zur Wahrnehmung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Verfahren einschränkt ist (vgl. [X.] NJW-RR 2010, 421 Rn. 12 mwN; vgl. auch [X.] Beschluss vom 14. Mai 2019 - [X.] - NJW 2019, 2942 Rn. 6).

9

Liegen die Voraussetzungen für eine Ersatzzustellung einer Klage oder eines Versäumnisurteils nicht vor, ist der [X.] durch die Annahme einer wirksamen Zustellung in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Entsprechendes gilt für ein Urteil, mit dem der Einspruch des [X.]n gegen ein solches Versäumnisurteil verworfen wird, und für eine Entscheidung des Berufungsgerichts, mit der die Berufung des [X.]n gegen das den Einspruch verwerfende Urteil des Gerichts des ersten Rechtszugs zurückgewiesen wird. Denn durch derartige Entscheidungen wird die Verletzung des Anspruchs des [X.]n auf rechtliches Gehör perpetuiert, weil diesem die wirksame Möglichkeit einer Überprüfung des Versäumnisurteils auf dessen sachliche Richtigkeit genommen ist (vgl. [X.] Beschluss vom 14. Mai 2019 - [X.] - NJW 2019, 2942 Rn. 6 f. mwN).

b) Daran gemessen ist der [X.] durch die angefochtene Entscheidung in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Die Verwerfung des Einspruchs des [X.]n gegen das Versäumnisurteil als verfristet findet im Prozessrecht keine Stütze und hält daher rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Das [X.] hätte den erst im Berufungsverfahren eingeführten Vortrag des [X.]n zum genauen Weg der Sendung nach deren Einwurf in einen der Briefkästen an der Zustelladresse nicht nach § 531 Abs. 2 ZPO als verspätet zurückweisen dürfen. Denn auf die gemäß § 341 Abs. 1 ZPO von Amts wegen gebotene Prüfung der Zustellung eines Versäumnisurteils und der Fristwahrung des dagegen gerichteten Einspruchs (vgl. [X.] Urteil vom 20. Mai 2014 - [X.] - NJW-RR 2014, 1532 Rn. 7 mwN) ist § 531 Abs. 2 ZPO nicht an[X.]dbar (vgl. [X.] Beschluss vom 7. Juni 2018 - [X.]/17 - NJW 2018, 2894 Rn. 15 mwN; Urteil vom 21. Juni 1976 - [X.] - NJW 1976, 1940). Ungeachtet dessen hätte das [X.] den vom [X.]n erst auf den Hinweis nach § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO im Berufungsverfahren gehaltenen Vortrag zum Weg der Sendung nach deren Einwurf in einen Briefkasten an der Zustelladresse auch deshalb nicht als verspätet zurückweisen dürfen, weil die Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO nicht vorlagen. Das Vorbringen erst im Berufungsverfahren beruht jedenfalls nicht auf einer Nachlässigkeit des [X.]n (§ 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO), weil der [X.] entgegen der Ansicht des [X.]s im landgerichtlichen Verfahren nicht zu weiteren Nachforschungen verpflichtet gewesen wäre (vgl. [X.], Beschluss vom 14. Januar 2020 - [X.]/19 - NJW 2020, 1679 Rn. 8 mwN).

c) Der Verstoß des [X.]s gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist entscheidungserheblich. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass sich das [X.] ohne die Gehörsverletzung keine Überzeugung von der Zustellung des Versäumnisurteils am 14. Mai 2022 hätte bilden können, es gemäß § 189 ZPO einen Beginn der Einspruchsfrist erst mit dem vom [X.]n behaupteten tatsächlichen Zugang des Versäumnisurteils am 29. Mai 2022 angenommen und den am 1. Juni 2022 eingegangenen Einspruch demzufolge als rechtzeitig angesehen hätte.

Die Entscheidung stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar. Insbesondere wäre dem [X.]n nicht unter dem Gesichtspunkt rechtsmissbräuchlichen Verhaltens versagt, sich auf einen Zustellungsmangel zu berufen. Zwar ist in der Rechtsprechung des [X.] anerkannt, dass die Geltendmachung eines Zustellungsmangels treuwidrig und damit rechtsmissbräuchlich sein kann, [X.]n der Mangel bewusst und zielgerichtet herbeigeführt worden ist (vgl. [X.] Beschluss vom 14. Mai 2019 - [X.] - FamRZ 2019, 1795 Rn. 11 mwN). Hierfür ist indes vorliegend nichts ersichtlich. Insoweit ist revisionsrechtlich zu unterstellen, dass der Briefkasten des [X.]n mit dem Namen [X.] beschriftet war, sich an der [X.] zwei weitere Briefkästen anderer Bewohner befanden, die ebenfalls mit dem Nachnamen [X.] gekennzeichnet waren, und die Sendung vom Zusteller in den Briefkasten eines gleichnamigen Nachbarn des [X.]n eingelegt wurde. Dass die Sendung in einen der nicht der Wohnung des [X.]n zuzuordnenden Briefkästen eingelegt wurde, würde unter diesen Umständen maßgeblich darauf beruhen, dass das [X.] den in der Klageschrift genannten zweiten Vornamen des [X.]n nicht in das Adressfeld des [X.] aufgenommen hat, und läge damit in der Sphäre des Gerichts.

3. Das angefochtene Urteil kann daher keinen Bestand haben. Der [X.] kann in der Sache nicht abschließend entscheiden, da er die erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann.

Für das weitere Verfahren weist der [X.] darauf hin, dass das [X.] nach freier Überzeugung zu beurteilen haben wird, ob die Beweiskraft der [X.] hinsichtlich der Person des Zustellungsadressaten (§§ 182 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Nr. 1, 418 Abs. 1 ZPO) - auch in Anbetracht der Beschriftung der Briefkästen an der Zustelladresse - ganz oder teilweise dadurch gemindert oder aufgehoben ist, dass im Adressfeld der [X.] nicht der vollständige Name des [X.]n angegeben war (vgl. [X.]/[X.] ZPO § 182 Rn. 18 mwN).

[X.]     

      

[X.]     

      

Botur 

      

Pernice     

      

Recknagel     

      

Meta

XII ZR 65/23

21.02.2024

Bundesgerichtshof 12. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZR

vorgehend OLG München, 23. März 2023, Az: 32 U 6877/22 e

§ 189 ZPO, § 341 Abs 1 ZPO, § 531 Abs 2 ZPO, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 21.02.2024, Az. XII ZR 65/23 (REWIS RS 2024, 1407)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2024, 1407

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X ZR 94/18

VI ZR 97/19

I ZB 57/17

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