Bundesgerichtshof, Beschluss vom 04.08.2011, Az. 3 StR 235/11

3. Strafsenat | REWIS RS 2011, 4199

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Gegenstand

Strafverfahren wegen schwerer räuberischer Erpressung: Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen junge Straftäter und der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt bei bestehender Polytoxikomanie und dissozialer Persönlichkeitsstörung


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 11. März 2011 aufgehoben

a) im Ausspruch über die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung sowie

b) mit den zugehörigen Feststellungen, soweit das [X.] von der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt abgesehen hat.

2.   a) Die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung entfällt.

b) Im übrigen Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.]s zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen schwerer räuberischer Erpressung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Von der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt hat es abgesehen. Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der [X.] ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

2

Nach den Feststellungen des [X.]s begab sich der zur Tatzeit zweiundzwanzigjährige, in vollem Umfang geständige Angeklagte, der an einer dissozialen Persönlichkeitsstörung und einer [X.] leidet, vor dem 1. Januar 2011 innerhalb weniger Wochen zweimal in die Filiale einer [X.] Großbank und erzwang dort unter Vorhalt einer ungeladenen Schreckschusspistole die Herausgabe von mehreren tausend Euro.

3

1. Die Überprüfung des Schuld- und Strafausspruchs hat aus den vom [X.] in seiner Antragsschrift dargelegten Gründen keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

4

2. Die vom [X.] nach § 66 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 3 StGB in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung angeordnete Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung hält bereits für sich betrachtet sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand; denn sie erweist sich nach Maßgabe der neueren Rechtsprechung des [X.] ([X.], Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u.a., NJW 2011, 1931) als nicht mehr verhältnismäßig.

5

a) Nach der genannten Entscheidung des [X.] bedarf es wegen der derzeit verfassungswidrigen Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung einer "strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung", wenn sie gleichwohl angeordnet werden soll. Die Anordnung wird "in der Regel" nur verhältnismäßig sein, wenn "eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist" ([X.], Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u.a., NJW 2011, 1931 Rn. 172). Diese vom [X.] geforderte "strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung" ist dahin zu verstehen, dass bei beiden Elementen der Gefährlichkeit - mithin der Erheblichkeit weiterer Straftaten und der Wahrscheinlichkeit ihrer Begehung (vgl. auch [X.], Beschluss vom 25. Mai 2011 - 4 StR 164/11) - ein gegenüber der bisherigen Rechtsanwendung strengerer Maßstab anzulegen ist (vgl. im Einzelnen [X.], Urteil vom 4. August 2011 - 3 [X.]).

6

b) Zwar sind schwere räuberische Erpressungen im Sinne der §§ 249, 250 Abs. 1, §§ 253, 255 StGB wegen der dafür angedrohten Mindeststrafe von drei Jahren und den für die Tatopfer damit regelmäßig verbundenen psychischen Auswirkungen grundsätzlich als ausreichend "schwere Straftaten" im vorstehenden Sinn anzusehen (vgl. für Straftaten nach § 177 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB [X.], Urteil vom 4. August 2011 - 3 [X.]). Dies gilt auch dann, wenn der Täter - wie hier - die Voraussetzungen des § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. [X.] dadurch verwirklicht, dass er bei einem Banküberfall mit einer ungeladenen Schreckschusspistole droht.

7

c) Jedoch verstößt die Anordnung der Sicherungsverwahrung gleichwohl bei angemessener Berücksichtigung der konkreten Umstände des vorliegenden Falles mit Blick auf die Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung durch den Gesetzgeber, die einen Verstoß gegen das verfassungsrechtlich verbürgte [X.] begründet ([X.], Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u.a., NJW 2011, 1931 Rn. 172), gegen das Übermaßverbot. Dabei ist neben Art und Gewicht der vom [X.] prognostizierten Straftaten insbesondere das noch junge Alter des Angeklagten von Belang. Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung stellt für den bei Tatbegehung erst 22 Jahre alten Angeklagten einen besonders belastenden Eingriff dar. Bereits nach der früheren fachgerichtlichen Rechtsprechung war die Anordnung der Sicherungsverwahrung bei derart jungen [X.] zwar nicht ausgeschlossen; sie kam jedoch nur in Ausnahmefällen in Betracht ([X.], Beschluss vom 5. Oktober 1988  - 3 StR 406/88, [X.]R StGB § 66 Abs. 2 Gefährlichkeit 1; Beschluss vom 6. August 1997 - 2 [X.], juris Rn. 13). In Ermangelung einer umfassend als Gesamtkonzept ausgestalteten Regelung der Sicherungsverwahrung kann derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass die Anordnung der Sicherungsverwahrung eine erhöhte Resozialisierungschance des Angeklagten bewirkt (zu den Defiziten beim Zugang zu sozialtherapeutischen Anstalten aus dem regulären Strafvollzug vgl. [X.], Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u.a., NJW 2011, 1931 Rn. 121). Zu beachten ist schließlich der Ausnahmecharakter des § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB, der eine frühere Verurteilung und eine frühere Strafverbüßung des [X.] nicht voraussetzt.

8

d) Der Senat schließt aus, dass ein neues Tatgericht Tatsachen feststellen könnte, die bei Beachtung der neueren Rechtsprechung des [X.] die Anordnung der Sicherungsverwahrung rechtfertigen könnten. Er entscheidet deshalb selbst in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO dahin, dass die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung entfällt.

9

3. Auch die Ablehnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt begegnet durchgreifenden sachlichrechtlichen Bedenken.

a) Der [X.] hat in seiner Antragsschrift hierzu ausgeführt:

"Die [X.] hat diese Entscheidung unter Bezugnahme auf die Ausführungen des in der Hauptverhandlung gehörten psychiatrischen Sachverständigen - die jedoch insoweit nicht näher mitgeteilt werden - damit begründet, dass "trotz des Substanzmittelkonsums" des Angeklagten, der in den Monaten vor den beiden in Rede stehenden Taten vermehrt Alkohol trank und auch Kokain konsumierte ([X.] bis 5, 15 f.)‚ "die Feststellung eines Hanges im Sinne von § 64 StGB" nicht "mit hinreichender Sicherheit zu treffen" sei ([X.] f.). Diese äußerst knappen Ausführungen lassen besorgen, dass das [X.] die  Voraussetzungen eines Hanges gemäß § 64 S[atz] 1 StGB verkannt hat. Ein solcher ist nicht nur - wovon die [X.] möglicherweise ausgegangen ist - im Falle einer chronischen, auf körperlicher Sucht beruhenden (erheblichen) Abhängigkeit zu bejahen; vielmehr genügt bereits eine eingewurzelte, auf psychischer Disposition beruhende oder durch Übung erworbene intensive Neigung, immer wieder Rauschmittel im Übermaß zu sich zu nehmen, wobei noch keine physische Abhängigkeit bestehen muss ([X.]R StGB § 64 Abs. 1 Hang 5, Senat Beschluss vom 13. Juni 2007 - 3 [X.]; Beschluss vom 13. Januar 2011 - 3 [X.] Rdnr. 4; [X.], StGB, 58. Aufl. 2011,] § 64 Rdnr. 9 m.w.N.). Dass eine derartige Neigung beim Angeklagten besteht, liegt nach den getroffenen Feststellungen nahe, denn nach der Einschätzung des Sachverständigen, die sich die [X.] zu eigen gemacht hat, hat der Angeklagte zur Tatzeit im Hinblick auf Alkohol und Kokain eine "[X.] ([X.])" - mithin ein psychisch bedingtes Abhängigkeitssyndrom - entwickelt ([X.], 23). Mit diesem Umstand hätte sich das Tatgericht bei der Frage des Hanges nach § 64 StGB zwingend auseinandersetzen müssen.

… Außerdem hält die sachverständig beratene [X.] die in § 64 StGB normierten Anordnungsvoraussetzungen für nicht gegeben, weil "eine kausale Verknüpfung zwischen dem Alkohol- und Drogenkonsum und den aktuell zu beurteilenden Taten" nicht "eindeutig herzustellen" sei ([X.]). Auch dies stellt keine ausreichende Begründung dar. Ihr kann nicht entnommen werden, ob sich die [X.] bewusst war, dass der symptomatische Zusammenhang zwischen der Tatbegehung und dem Hang i.S.d. § 64 S[atz] 1 StGB auch dann zu bejahen ist, wenn der Hang zum Rauschmittelgenuss - neben anderen Umständen - mit dazu beigetragen hat, dass der Täter erhebliche rechtswidrige Taten begangen hat. Der Zusammenhang kann daher nicht allein deswegen verneint werden, weil außer der Sucht noch weitere [X.] - etwa die vorliegend bei dem Angeklagten zusätzlich zu seiner [X.] diagnostizierte dissoziale Persönlichkeitsstörung ([X.]) - eine Disposition für die Begehung von Straftaten begründen ([X.], Beschluss vom 9. Juni 2009 - 4 [X.]. 12 m.w.N.). Dass die festgestellte [X.] des Angeklagten für die in Rede stehenden Banküberfälle zumindest mitursächlich gewesen sein kann, ist hier jedenfalls nicht auszuschließen, denn er nutzte die erbeuteten Geldmittel in beiden Fällen jeweils - neben der Erfüllung von Verbindlichkeiten für Hotelkosten u.ä. - für seinen Alkohol- und Kokainkonsum ([X.], 13). Mithin steht zu besorgen, dass das [X.] auch das Vorliegen des symptomatischen Zusammenhangs zwischen Hang und [X.] i.S.v. § 64 S[atz] 1 StGB von zu engen Voraussetzungen abhängig gemacht hat."

Dem schließt sich der Senat an.

b) Aus den vom [X.] im Einzelnen dargelegten Gründen scheiden die übrigen Voraussetzungen für die Anordnung einer Unterbringung nach § 64 StGB nicht von vorneherein aus. Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert die Nachholung der Unterbringungsanordnung gemäß § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO nicht ([X.], Urteil vom 10. April 1990 - 1 StR 9/90, [X.]St 37, 5 ff.; Urteil vom 7. Oktober 1992 - 2 StR 374/92, [X.]St 38, 362 ff.). Der Beschwerdeführer hat die Nichtanwendung des § 64 StGB durch das Tatgericht nicht von seinem Rechtsmittelangriff ausgenommen. Über die Anordnung der Maßregel muss deshalb neu verhandelt und entschieden werden; hierzu werden unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246a StPO) neue Feststellungen zu treffen sein.

c) Der Strafausspruch wird durch die rechtsfehlerhafte Ablehnung der Maßregel nicht berührt und kann daher bestehen bleiben. Es ist [X.], dass das Tatgericht bei Anordnung der Unterbringung auf niedrigere Einzelstrafen oder eine geringere Gesamtstrafe erkannt hätte.

VRi[X.] [X.] befindet sich
im Urlaub und ist deshalb an
der Unterschriftsleistung gehindert.

Pfister      

Schäfer

Pfister

     Mayer     

Menges     

Meta

3 StR 235/11

04.08.2011

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Hannover, 11. März 2011, Az: 46 KLs 21/10 - 2303 Js 74800/10, Urteil

§ 64 StGB, § 66 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 04.08.2011, Az. 3 StR 235/11 (REWIS RS 2011, 4199)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 4199

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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