Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 12.01.2006, Az. 1 StR 466/05

1. Strafsenat | REWIS RS 2006, 5677

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[X.]BESCHLUSS 1 StR 466/05 vom 12. Januar 2006 in der Strafsache gegen wegen gefährlicher Körperverletzung hier: Anfrage gemäß § 132 Abs. 3 [X.] - 2 - Der 1. Strafsenat des [X.] hat am 12. Januar 2006 beschlos-sen: Der Senat beabsichtigt zu entscheiden: [X.] im Sinne von § 274 [X.] ist für das Revisionsgericht auch dann beachtlich, wenn aufgrund [X.] hinsichtlich einer vom Angeklagten zulässig erhobenen Verfahrensrüge zu Ungunsten des Ange-klagten die maßgebliche Tatsachengrundlage entfällt. Der Senat fragt bei den anderen Strafsenaten an, ob an ent-gegenstehender Rechtsprechung festgehalten wird. Gründe: [X.] Das [X.] hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu der Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten ver-urteilt. Nach den Feststellungen des [X.] schlug der Angeklagte [X.] eines Streits über die Abgrenzung reservierter Sitzbereiche in einem Ok-toberfestzelt dem Geschädigten [X.]

mit einem 1,3 Kilogramm schweren gläsernen Bierkrug zweimal wuchtig auf den [X.] und einmal in den Be-reich des [X.]. Der Geschädigte wurde erheblich verletzt. Die Schläge wa-1 - 3 - ren darüber hinaus geeignet, das Leben des Geschädigten in Gefahr zu brin-gen. Die Revision rügt die Verletzung materiellen Rechts und erhebt eine Formalrüge. 2 Der Senat möchte die Revision des Angeklagten verwerfen, sieht sich daran jedoch - was die Verfahrensrüge anbelangt - durch die Rechtsprechung der anderen Senate gehindert. 3 I[X.] 1. Die Revision rügt mit ihrer am 5. Juli 2005 beim Landgericht einge-gangenen Revisionsbegründung die Nichtverlesung des Anklagesatzes - Ver-stoß gegen § 243 Abs. 3 Satz 1 [X.]. 4 Die fertig gestellte Sitzungsniederschrift enthielt zunächst keinen Hinweis auf die Verlesung des Anklagesatzes. Unter dem 18. August 2005 ergänzten der Strafkammervorsitzende und die Urkundsbeamtin die Sitzungsniederschrift hinsichtlich des ersten Verhandlungstages in einer eigenen Niederschrift dahin-gehend, dass nach den Worten —Der Vorsitzende stellte weiter fest, dass die Staatsanwaltschaft [X.] gegen den Angeklagten am [X.] Anklage zum Schwurgericht des LG [X.] erhoben hat, die mit Eröffnungsbe-schluss der Kammer vom [X.] unverändert zur Hauptverhandlung zugelas-sen [X.] der Satz angefügt wurde: —Der Vertreter der Staatsanwaltschaft verlas den [X.] 5 Auch in der Revisionsgegenerklärung der Staatsanwaltschaft wird unter Vorlage entsprechender dienstlicher Äußerungen von Verfahrensbeteiligten 6 - 4 - vorgetragen, dass der Anklagesatz in Wirklichkeit verlesen wurde. Er löste, wie sich der [X.] der Staatsanwaltschaft erinnerte, Unmutsäußerungen im Publikum aus, da die Anklage auf den Vorwurf des versuchten Totschlags gerichtet war. Selbst der Verteidiger in der Hauptverhandlung, der die Revision nicht selbst begründet hat, stellte in seiner Stellungnahme die Verlesung nicht in Abrede, wenn er schreibt: —An den entsprechenden Verfahrensabschnitt kann ich [X.] nicht konkret erinnern; die Verlesung der Anklageschrift stellt einen Routinevorgang dar. Allerdings vermute ich, dass ich [X.] hieran erinnern könnte, wenn die Anklageschrift nicht verlesen worden wäre, weil dies einen ungewöhnlichen Verfahrensablauf darstellen würde. Auch diese Überlegung führt aber nicht zu einer konkreten Erinnerung. Aufgrund dieses [X.] erscheint es [X.] aber durchaus möglich, dass die Erinnerung der [X.] zutreffend ist.fi [X.] verwies auf einen bei der Fertigung der [X.] übersehenen Übertragungsfehler aus der teilweise stenogra-fischen Aufzeichnung während der Hauptverhandlung, in der der Hinweis auf die Verlesung des Anklagesatzes noch enthalten war. Das entsprechende Blatt der vorläufigen Aufzeichnungen hatte die Protokollführerin ihrer dienstlichen Erklärung beigefügt. 2. Nach der bisherigen, ständigen Rechtsprechung des [X.] (seit [X.]St 2, 125 [126], zur Entwicklung der Rechtsprechung vgl. unten) muss die Protokollberichtigung unberücksichtigt bleiben, da sie der Revisions-begründung des Angeklagten zu dessen Nachteil die Tatsachengrundlage ent-zieht. 7 [X.]enso wenig können nach der Rechtsprechung des [X.] übereinstimmende Erklärungen der [X.] den Inhalt des [X.] in Einzelpunkten zum Nachteil des Angeklagten in Frage stellen ([X.]St 8, 283; 10, 342 [343]; 13, 53 [59]; 22, 278 [280]; [X.]R [X.] § 274 Beweiskraft 8 - 5 - 3, 6, 8, 11, 29; [X.], 375; 1986, 39 [40]; 1992, 4; 1993, 94; 2000, 214; 2003, 218; 2005, 281 [282]; [X.], 287 [288]; 2002, 183, 530; 2004, 297; [X.], Beschluss vom 30. Mai 2001 - 1 StR 99/01 -; Beschluss vom 11. August 2004 - 3 [X.]/04 -). Sie dürfen nicht einmal zur Auslegung [X.] Formulierungen im Protokoll herangezogen werden ([X.]St 13 [59]). Ob - und in welchen Fallkonstellationen - distanzierende Erklärungen der - oder einer der - [X.] dem Protokoll generell die formelle Beweiskraft entziehen und damit grundsätzlich den Weg zum Freibeweisverfahren eröffnen ([X.]St 4, 364 [365]; [X.] NStZ 1988, 85; [X.] in [X.] Kommentar zur [X.] 5. Aufl. § 274 Rdn. 6) oder nicht ([X.]R [X.] § 274 Beweiskraft 3; [X.] NStZ 2005, 281 [282]), kann hier dahinstehen (vgl. [X.]R [X.] [X.] 13; offen gelassen in [X.] NStZ 2002, 270 [272]; so weit sie zugunsten des Angeklagten wirken vgl. [X.]R [X.] § 274 Beweiskraft 8, 13, 28; [X.] NStZ 1988, 85; [X.] in Löwe/[X.] [X.] 25. Aufl. § 274 Rdn. 49 m.w.[X.]). Die Voraussetzungen für eine Ergänzung des Protokolls im Freibeweis-verfahren liegen auch sonst nicht vor. Die - noch nicht ergänzte - Sitzungsniederschrift ist eindeutig, sie leidet - für sich betrachtet - nicht an offensichtlichen Mängeln, ist weder unklar, erkennbar lückenhaft oder widersprüchlich (zum Wegfall der Beweiskraft bei entsprechenden Mängeln vgl. [X.], 408 [410]; [X.]St 16, 306 [308]; 17, 220 [221]; [X.]R [X.] § 274 Beweiskraft 12, 16, 24, 25, 27; [X.] NJW 1976, 977; [X.], 49; [X.], 293; [X.], 639; 2004, 297; [X.] 1961, 508; [X.] in [X.]/[X.] [X.] 25. Aufl. § 274 Rdn. 23 ff.). 9 Gemäß der - negativen - Beweiskraft (§ 274 [X.]) des Protokolls in [X.] ursprünglichen, unvollständigen Fassung stünde im vorliegenden Fall der Rechtsverstoß somit fest. 10 - 6 - Der Senat vermag in einem Fall wie dem vorliegenden auch nicht [X.], dass das Urteil auf dem Rechtsverstoß, der Nichtverlesung des An-klagesatzes beruht (zur Bedeutung der Verlesung des Anklagesatzes vgl. [X.], Gedanken zur Beweiskraft des tatrichterlichen Protokolls unter beson-derer Berücksichtigung der Rechtsprechung des [X.], in Fest-schrift aus Anlass des fünfzigjährigen Bestehens von [X.], [X.] und Rechtsanwaltschaft beim [X.], Seite 707 [724]). 11 3. Der Senat ist allerdings der Ansicht, dass - entgegen der bisherigen Rechtsprechung des [X.] - die formelle Beweiskraft des Proto-kolls gemäß § 274 [X.] auch hinsichtlich eines berichtigten Protokolls unein-geschränkt gilt, also auch dann, wenn einer zuvor vom Angeklagten erhobenen Rüge der Boden entzogen wird. 12 II[X.] Die Strafprozessordnung besagt weder in den §§ 271 bis 274 [X.] noch an anderer Stelle, etwas zur Zulässigkeit der Protokollberichtigung (im Gegen-satz zu § 164 ZPO) oder zur - relativen - Unbeachtlichkeit der Beweiskraft einer Protokollberichtigung für das Revisionsgericht. 13 - 7 - a) Die Zulässigkeit der - unbefristeten - Protokollberichtigung wurde im Grundsatz vom [X.] (noch offen gelassen in [X.], 76 [77]) alsbald anerkannt: —Denn im allgemeinen wird es als eine Berufspflicht des [X.] anzusehen sein, Fehler der Beurkundung, von denen er sich nachträg-lich überzeugt hat, behufs der Verhütung von Rechtsverletzungen zur Anzeige zu bringen. Der Berücksichtigung einer solchen Anzeige, welche ein Audienz-protokoll betrifft, steht die Vorschrift in § 274 [X.], welche gegen den die [X.] betreffenden Inhalt des Protokolls nur den Nachweis der Fälschung zulässt, nach Ansicht des Senats nicht entgegen. Denn diese Vorschrift schließt gegenüber den [X.] nur den Gegenbeweis aus; eine Berichtigung oder Ergänzung des [X.] durch übereinstim-mende Erklärung des Vorsitzenden und des [X.] enthält jedoch einen Widerruf der früheren Beurkundung und entzieht derselben, soweit der Widerruf reicht, die Beweiskraft, sodass es eines Gegenbeweises nicht mehr [X.] ([X.], 367 [370]; entspr [X.], 394 [396]). —Dass ein Protokoll von den [X.] berichtigt (ergänzt) werden kann, ist unbestritten. Es muss sogar als Pflicht der Urkundsbeamten bezeichnet werden, erkannte [X.] der Beurkundung richtig zu stellen, um mögliche Rechtsnachteile Dritter zu [X.] ([X.] 1, 277 [278]). Davon geht auch der [X.] in ständiger Rechtsprechung aus (seit [X.]St 1, 259 und [X.]St 2, 125; 10, 145). 14 b) Der Grundsatz, dass eine Protokollberichtigung einer zugunsten des Angeklagten erhobenen Verfahrensrüge nicht den Boden entziehen darf (—[X.]), findet sich - aufbauend auf der Rechtsprechung der [X.] Obergerichte (vgl. [X.], 1 [10]) - schon zu Beginn der Reichsge-richtsrechtsprechung ([X.], 76 [77]) und bleibt ständige Rechtsprechung des [X.] bis zum Beschluss des [X.] vom 11. Juli 1936 ([X.], 241). Auch wenn diese Entscheidung sachliche Abwä-gungen enthält, darf sie nach Auffassung des Senats allerdings im Hinblick auf 15 - 8 - andere, im Zusammenhang mit nationalsozialistischem Gedankengut stehende Formulierungen keine weitere Beachtung mehr finden. Grundlegend war der Beschluss der Vereinigten Strafsenate des [X.] vom 13. Oktober 1909 ([X.], 1). Dieser Rechtsprechung (vgl. auch [X.], 29; 59, 429 [431]) folgten dann nach [X.] verschiedene Obergerichte (vgl. - Oberster Gerichtshof für die Britische Zone - [X.] 1, 277 [279] m.w.[X.]) und schließlich der [X.] (vgl. [X.]St 2, 125; 10, 342 [343]; 12, 270 [271]; 22, 278 [280]; 34, 11 [12]; [X.]R [X.] § 274 Beweiskraft 11, 13; [X.] NStZ 1984, 521; 1995, 200 [201]; [X.], 183; [X.], 281). Der Grundsatz, wonach eine Protokollberichtigung einer Verfahrensrüge des Angeklagten nicht die [X.] entziehen darf, wurde früher auch übertragen auf Änderungen in einem noch nicht fertig gestellten - unterschriebenen - Protokoll, die nach Eingang der Revi-sionsbegründung am Protokollentwurf vorgenommen wurden ([X.]St 10, 145 [147 f.]; 12, 270 [271 f.]). Nach Einführung des § 273 Abs. 4 [X.] ([X.] erst nach Protokollfertigstellung) durch das [X.] 1984 ist das nicht mehr tragfähig ([X.]R [X.] § 274 Beweiskraft 26). In diesen Fällen, in denen die Protokollberichtigung für das [X.] nicht beachtlich ist, führt das dazu, dass Sachverhalte, die aufgrund der formellen Rechtskraft des - unberichtigten - Protokolls als unwiderlegbar vermu-tet werden, der wahren Rechtslage nicht zu entsprechen brauchen ([X.], 1 [6]; [X.]St 26, 281 [283]; 36, 354 [358]). Abzustellen ist in diesen Fällen somit auf einen fiktiven Sachverhalt. 16 Anfänglich stellte sich noch die Frage, ob das Verbot, einer zugunsten des Angeklagten erhobenen Rüge die Grundlage zu entziehen, dann doch - insoweit - schon eine Protokollberichtigung verbietet. So zu Beginn noch das [X.] ([X.], 76; 19, 323 [324]). Später wird nicht mehr klar unter-schieden, verwischt sich die Terminologie, auch in den grundlegenden [X.] - 9 - scheidungen [X.], 1 und [X.]St 2, 125 (vgl. auch [X.], 429 [431]). Dort wird zwar in den Leitsätzen auf die Nichtberücksichtigung einer Berichti-gung abgestellt, während in den Begründungen dann von der Unzulässigkeit bereits der Protokollberichtigung die Rede ist ([X.], 1 [6]; [X.]St 2, 125 [127 f.]). Heute ist anerkannt, dass das Protokoll auch in diesen Fällen - sofern die [X.] übereinstimmend einen Fehler erkannt haben - zu berich-tigen ist (vgl. [X.]St 10, 342 [343]; 12, 270 [271 f.]; 34, 11; [X.]R [X.] 274, Beweiskraft 8, 13; [X.] [X.], 281; [X.] NStZ 1992, 49; so auch schon [X.] 1, 278). Denn der Sitzungsniederschrift kann über das Revisionsverfah-ren hinaus Bedeutung zukommen (etwa in einem Strafverfahren zur Frage, ob eine Vereidigung stattgefunden hat oder nicht), wenn auch nicht mit der formel-len Beweiskraft des § 274 [X.]. Eine Protokollberichtigung ist immer zu berücksichtigen, wenn sie zu-gunsten des Angeklagten wirkt ([X.]St 1, 259 [261 f.]) oder wenn sie - bei ei-nem einheitlichen Vorgang - teilweise zugunsten, teilweise zu Ungunsten einer Rüge vorgenommen worden ist ([X.], 29; [X.] aaO). [X.]liche Grenzen für die Protokollberichtigung gibt es nicht. 18 c) Folgende Argumente werden für die Rechtsprechung, wonach eine Protokollberichtigung einer Rüge nicht den Boden zum Nachteil des Angeklag-ten entziehen darf, vorgetragen: 19 - Mit dem Eingang der [X.] erwerbe der Beschwerdeführer ein prozessuales Recht auf Beibehaltung der Grundlage seiner Rüge für die Revisionsinstanz, zumal er selbst praktisch keine Möglichkeit habe, die Berichtigung des Protokolls zu erzwingen ([X.]St 2, 125 [126]; [X.], 1 [9]; 59, 429 [431]). Da der Beschwerdeführer zur Begründung seiner Verfahrensrüge - 10 - nur das Protokoll in der vorliegenden Form verwerten dürfe, [X.] ihm das Recht zustehen, sich nachträglichen Änderungen zu seinen Lasten zu widersetzen ([X.] 1, 277 [280]), müsse er gegen eine nachträgliche Beseitigung des Mangels durch Proto-kollberichtigung gesichert sein ([X.]St 2, 125 [127]). - Der Gesetzgeber habe mit § 274 [X.] eine Norm geschaffen, die der Zweckmäßigkeit den Vorrang vor der absoluten Wahrheit ein-räume ([X.]St 2, 125 [128]; 26, 281 [283]; [X.] in Fest-schrift für [X.] 595 [603 f.]). Der Gesetzgeber habe die mögliche Ausnutzung einer prozessrechtlich zulässigen Be-fugnis zu wahrheitswidrigen Zwecken gesehen und in Kauf ge-nommen ([X.], 1 [6]; [X.] 1, 277 [282]). Die Neugestaltung des § 274 [X.] sei eine Sache des Gesetzgebers ([X.], [X.] vom 30. Mai 2001 - 1 StR 99/01; [X.] 1, 277 [280]). - Mit zunehmender [X.] lasse das Erinnerungsvermögen (der Ur-kundspersonen) nach. Die Gefahr fehlerhafter Berichtigungen sei nicht auszuschließen ([X.], 1 [5]; [X.] 1, 277 [281]; [X.]St 2, 125 [128]). - Bei uneingeschränkter Berücksichtigung nachträglicher [X.] bestehe die Gefahr, dass die Sitzungsniederschrift nicht mehr mit äußerster Sorgfalt abgefasst wird. d) Die Rechtsprechung, wonach eine Protokollberichtigung einer bereits erhobenen Rüge des Angeklagten nicht zu seinen Ungunsten die Grundlage entziehen darf, fand auch Kritik. 20 - 11 - Anders als das [X.] judizierte schon das Reichsmilitärgericht ([X.] 9, 35 - Urteil vom 24. Juni 1905 -; entsprechend [X.] 15, 282). Der Auf-fassung des [X.] wollte sich der I[X.] Strafsenat des Reichsge-richts anschließen. Dies führte zu der oben genannten Entscheidung der Verei-nigten Senate vom 13. Oktober 1909 ([X.], 1), die allerdings die bisherige Rechtsprechung des [X.] festschrieb. [X.] kritisierte dies heftig und äußerte seinerzeit die Hoffnung, im —wissenschaftlichen Kampf zwi-schen [X.] und [X.] werde es im Laufe der [X.] gelin-gen, die Auffassung des [X.] zu ändern (vgl. [X.], Rechtsprechung des [X.] vom 6. Oktober 1902 bis 19. April 1912, in der [X.]-schrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Band 38, 1917, Seite 612 [632 ff.]). 21 Auch in der Rechtsprechung des [X.] finden sich Vorbe-halte: 22 Ob eine Protokollberichtigung einer bereits erhobenen Rüge die [X.] entziehen darf, wird vom Senat offen gelassen in [X.] NJW 1982, 1057, sowie vom 5. Strafsenat in [X.]R [X.] § 274 Beweiskraft 22 (Berichtigung des Namens einer Dolmetscherin bei offensichtlicher Namensverwechslung ist zu-lässig; vgl. auch [X.] NStZ-RR 1997, 73). Kritisch der 2. Strafsenat in [X.]St 36, 354 [358]: —Sachverhalte, die auf Grund der formellen Beweiskraft der [X.] unwiderlegbar zu vermuten sind, brauchen der wahren Sachlage nicht zu entsprechen (vgl. [X.], 1 [6]; [X.]St 26, 281 [283]). Das ist eine bedenkliche Konsequenz der Vorschrift des § 274 [X.], von der [X.]. [X.] (Lehrkomm. [X.] II § 188 [X.]. 13) sagt, sie sei ‡ziemlich außergewöhn-lich™. – Die Regelung, die § 274 trifft, beruht allein auf pragmatischen Erwä-gungen ... . Diese Erwägungen widerstreiten dem grundsätzlich auch für das Revisionsgericht geltenden Gebot, die wahre Sachlage zu erforschen, wenn 23 - 12 - prozessual erhebliche Tatsachen (von Amts wegen oder weil sie Gegenstand einer Verfahrensrüge sind) der Klärung bedürfenfi. Zuletzt sprachen sich definitiv - in obiter dicta - für eine Änderung der Rechsprechung zur Berücksichtigung einer Protokollberichtigung trotz [X.] der 2. Strafsenat ([X.] NStZ 2005, 281 [282] - nach Zweifeln in [X.] NStZ 2002, 270 [272] und [X.] NJW 2001, 3794 [3796]) - und der 1. Strafsenat ([X.] vom 13. Oktober 2005 - 1 [X.] -) aus. 24 In der Literatur äußerte sich zuletzt kritisch [X.], Gedanken zur Beweiskraft des tatrichterlichen Protokolls unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des [X.], in Festschrift aus Anlass des fünfzigjährigen Bestehens von [X.], [X.] und Rechtsanwaltschaft beim [X.], Seite 707 [717 f.]. (So auch Det-ter, [X.] und die Wahrheitspflicht der Verfahrensbe-teiligten, StraFo 2004, 329. Demgegenüber - für die bisherige Rechtsprechung - [X.] in Festschrift für [X.], [X.]? S. 595, 603 f.). 25 IV. Der Senat ist unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung ([X.] NStZ 1984, 521 - 1 StR 344/84; [X.]St 34, 11 [12] [- 1 [X.] - nicht tra-gend]; [X.] NStZ 1995, 200 [201] [1 StR 641/94 - nicht tragend]) der [X.], dass die formelle Beweiskraft des Protokolls gemäß § 274 [X.] unein-geschränkt gilt, auch dann, wenn eine Protokollberichtigung einer bereits erho-benen Rüge zum Nachteil des Angeklagten die Tatsachengrundlage entzieht. 26 - 13 - Dem steht - soweit ersichtlich - jedenfalls folgende Rechtsprechung der anderen Senate entgegen: 27 2. Strafsenat: [X.]St 10, 145 [147] (2 StR 34/57) 28 3. Strafsenat: [X.]St 2, 125 (3 [X.]); [X.] [X.] (3 [X.]); [X.] Beschluss vom 9. Januar 1985 - 3 [X.]; [X.] NStE Nr. 7 zu § 344 [X.] (3 StR 63/88); [X.] [X.], 183 (3 [X.]); [X.] 1, 259 (3 [X.] - nicht tragend); [X.]R [X.] § 274 Beweiskraft 11 (3 StR 338/91 - nicht tragend), 13 (3 [X.] - nicht tragend) 29 4. Strafsenat: [X.]St 12, 270 (4 StR 408/58 - nicht tragend) [X.] NStZ 2002, 218 (4 StR 249/01 - wohl inzident - nicht tragend - 30 5. Strafsenat: [X.]St 10, 342 [343] (5 StR 197/57); [X.] NStZ 1993, 51 [52] (5 [X.]) - wohl inzident - nicht tragend -; (Beschluss vom [X.] 2003 - 5 [X.] - inzident - nicht tragend - [insoweit nicht abge-druckt in [X.], 451]) 31 Ausgangspunkt für die Anfrage des Senats ist Folgendes: 32 Auch die Revisionsgerichte sind der Wahrheit verpflichtet. Dies hält der Senat für entscheidend. 33 Dieses Argument erhält dadurch zusätzliches Gewicht, dass das Bun-desverfassungsgericht in letzter [X.] mehrfach —unmissverständlichfi darauf [X.] hat, die durch eine Revisionsentscheidung bedingte zusätzliche Ver-fahrensdauer sei bei der Berechnung der Überlänge eines Verfahrens zwar nicht stets, aber immer dann zu berücksichtigen, wenn das Revisionsverfahren der Korrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers gedient hat ([X.] NJW 2003, 2897 [2898]; [X.]K 2, 239 [251] und zuletzt [X.], [X.] vom 5. Dezember 2005 - 2 BvR 1984/05 - Absatz Nr. 65). Auch der [X.] geht für den Fall der Aufhebung eines Urteils wegen eines der Justiz anzulastenden [X.] - 14 - rensfehlers von einer Einbeziehung des infolge der Durchführung des [X.] verstrichenen [X.]raums aus (vgl. [X.], 2856 [2857 Abs. 41]). Vor diesem Hintergrund der Wahrheitspflicht verstärkt durch das Verbot der - u.U. im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK unangemessenen (abzustel-len ist auf das [X.]) - Verfahrensverzögerung und des Gebots der Beschleunigung des Verfahrens insbesondere in Haftsachen ist es nicht mehr akzeptabel, Urteile aufgrund eines fiktiven Sachverhalts wegen eines [X.] aufzuheben, der nach dem Inhalt des - berichtigten - Protokolls tat-sächlich nicht vorliegt. 35 Demgegenüber sind die für die bisherige, letztlich von einem - nach [X.] des Senats nicht gerechtfertigten - Misstrauen in die Redlichkeit der Ur-kundspersonen getragenen Rechtsprechung vorgebrachten Gründe nicht ge-nügend tragfähig. 36 - Die Annahme, durch den Eingang der Revisionsbegründung werde ein besonderes prozessuales Recht auf Nichtberücksichtigung einer Proto-kollberichtigung begründet, findet im Gesetz keine Stütze. —Ein [X.] Recht der Prozessbeteiligten, dass etwas nicht Geschehenes be-urkundet oder etwas Geschehenes nicht beurkundet wird, gibt es [X.] (so schon [X.] 9, 35 [42]). Der [X.] kann zwar die Berichti-gung eines Protokolls nicht erzwingen. Er kann eine Änderung aber an-regen. [X.] sich dies mit der Erinnerung der [X.], wobei diese zur Unterstützung der Erinnerung auch auf Aufzeichnungen [X.] zurückgreifen dürfen, wird dies zur Protokollberichtigung führen, auch zugunsten des Angeklagten zur Untermauerung einer sonst aussichtslo-sen Verfahrensrüge (vgl. [X.] StV 1988, 45). - 15 - - Der Grundsatz, wonach einer erhobenen Verfahrensrüge durch eine Pro-tokollberichtigung nicht die Grundlage zum Nachteil des Angeklagten entzogen werden darf, beruht auf Rechtsprechung und kann durch Rechtsprechung geändert werden, eines Gesetzes bedarf es nicht. Dem vor einer Neuausrichtung einer Rechtsprechung in Betracht zu ziehende Wert der Beständigkeit der Rechtsordnung kommt hier geringeres Ge-wicht zu, da sich an der Pflicht der Instanzgerichte, dem tatsächlichen Ablauf entsprechende Protokolle zu fertigen, nichts ändert. - Berichtigung setzt bei beiden [X.] sichere Erinnerung [X.]. Ist diese nicht vorhanden, dann kann das Protokoll nicht (mehr) be-richtigt werden. Ein Argument gegen die Berücksichtigung einer Berichti-gung durch das Revisionsgericht ist die Erfahrung nachlassender Erinne-rung nicht. Häufig kann eine Urkundsperson auch auf andere Unterlagen als Erinnerungsstütze zurückgreifen, wie im vorliegenden Fall auf die unmittelbar während der Verhandlung getätigten Aufzeichnungen, die Grundlage der Sitzungsniederschrift waren. Schließlich stammt der [X.] auf die nachlassende Erinnerungskraft aus einer [X.], als es die Vorschrift über die Urteilsabsetzungsfristen (§ 275 Abs. 1 [X.]) noch nicht gab. - Die Ausweitung der Rechtsprechung zum Wegfall der formellen [X.] wegen erkennbarer Mängel, wie Lücken und Widersprüchen hatte keine Auswirkungen auf die Sorgfalt bei der Protokollerstellung. Die [X.] schwankt von Gericht zu Gericht, mit der Rechtsprechung zum Umfang der Beweiskraft nach § 274 [X.] hat das nichts zu tun. Einer [X.], um die Tatgerichte zum Einhalten der Vorschriften zu veranlassen (vgl. [X.] DRiZ 1997, 471 - 16 - [474]), bedarf es nicht. Es ist nicht Aufgabe des [X.], den Tatrichter zu maßregeln (vgl. [X.] [X.], 1396). Die Berücksichtigung jeder Protokollberichtigung durch das [X.] könnte auch der Ausweitung der Rechtsprechung zur [X.] des Protokolls (vgl. etwa [X.]R [X.] § 274 Beweiskraft 25, 27; [X.] NStZ 2002, 270, mit kritischer Anmerkung Fezer, 272, kritische Anmerkung Köberer in [X.], 527; [X.], Beschluss vom 11. August 2004 - 3 [X.]/04; weitere Ent-scheidungen vgl. [X.]-Nack unter dem Registerstichwort: § 274 [X.] Freibe-weis) begegnen, eine Ausweitung zu der in der Literatur vorgebracht wird, die Senate suchten in Grenzfällen geradezu nach Möglichkeiten der Durchbre-chung der formellen Beweiskraft des Protokolls (vgl. Detter, [X.] und die Wahrheitspflicht der Verfahrensbeteiligten, StraFo, 2004, 329 [330]; Park, [X.] und die Wahrheitspflicht der [X.], StraFo 2004, 335, [338, 340]). Dementsprechend bedürfte es weniger Beweiserhebungen über den Ablauf des Verfahrens, der Rekonstrukti-on der Hauptverhandlung. Denn allein distanzierende dienstliche Erklärungen der [X.] - ohne Protokollberichtigung - führen nicht zum Wegfall der Beweiskraft, wenn dadurch einer vom Beschwerdeführer erhobenen Verfah-rensrüge der Boden entzogen wird ([X.]St 8, 283; 10, 342 [343]; 13, 53 [59]; 22, 278 [280]; [X.]R [X.] § 274 Beweiskraft 3, 6, 8, 11, 29; [X.], 375; 1986, 39 [40]; 1992, 4; 1993, 94; 2000, 214; 2003, 218; 2005, 281 [282]; [X.], 287 [288]; 2002, 183, 530; 2004, 297; [X.], Beschluss vom 30. Mai 2001 - 1 StR 99/01 -; Beschluss vom 11. August 2004 - 3 [X.]/04 -), während im umgekehrten Fall zugunsten des Angeklagten die Beweiskraft des Protokolls entfällt ([X.]St 4, 364, 365; [X.]R [X.] § 274 Beweiskraft 1; [X.] NStZ 1988, 85). 37 - 17 - [X.]enso wären mit der Berücksichtung der - umfassenden - Protokollbe-richtigung durch das Revisionsgericht der Erfolgsaussicht bewusst unwahrer Verfahrensrügen neue Grenzen gesetzt (zum Diskussionsstand hierzu vgl. [X.], [X.] in der Form? in Festschrift für [X.], 595 ff.; [X.] 2004, 329 [334]; Park Stra-Fo 2004, 335 [337]. Die prozessuale Wirksamkeit auch einer bewusst unwahren Verfahrensrüge wurde von der Rechtsprechung trotz erkennbaren Unbehagens und geäußerter Zweifel (vgl. [X.]R [X.] § 274 Beweiskraft 21, 22, 24) letztlich nie verneint (vgl. [X.], 1; [X.]R [X.] § 274 Beweiskraft 21, 22, 27; [X.] NStZ 2002, 270 [272]; [X.], Beschluss vom 3. Dezember 2003 - 5 [X.] -, insoweit nicht abgedruckt in [X.], 297). Allerdings galt das Erheben einer - bewusst - unwahren Verfahrensrüge (die Protokollrüge genügt ja nicht) - un-abhängig von ihrer prozessualen Wirksamkeit - früher als standeswidrig (vgl. [X.], [X.], [X.]. 1950/51, 90 ff.; —Der Rechtsanwalt hat hier wie überall nur dem Recht und der Wahrheit zu dienen. Es ist ihm nie erlaubt, zur Wahrheit in Widerspruch zu treten. Die wahrheitswidrige Verfah-rensrüge ist eine standesrechtliche Verfehlungfi [S. 90]. —Der Zweck [Aufhebung eines Fehlurteils] heiligt auch hier nicht die [X.] [S. 91]. —– der Anwalt, der die hier wiedergegebenen Grundsätze nicht anerkennt, muss mit der Einleitung eines ehrengerichtlichen Verfahrens seitens des Generalstaatsanwalts [X.]]), während es heute fast schon als anwaltlicher Kunstfehler gelten könnte, sich eines Fehlers im Protokoll jedenfalls nicht in der Weise zu bedie-nen, dass ein anderer Verteidiger die Revision begründet (vgl. hierzu m.w.[X.]: [X.], Gedanken zur Beweiskraft des tatrichterlichen Protokolls unter [X.] Berücksichtigung der Rechtsprechung des [X.], in Festschrift aus Anlass des fünfzigjährigen Bestehens von [X.], [X.] und Rechtsanwaltschaft beim [X.], Seite 707 [727]; zur Zulässigkeit der unwahren Verfahrensrüge kommt nunmehr [X.] - 18 - stützt auf die Rechtsprechung des [X.] auch das Handbuch des Strafverteidigers von [X.], von der 1. Auflage 1969, Rdn. 754, bis zur [X.]. [ab 4. Auflage [X.] jun.] 2005, Rdn. 918: —– braucht der Verteidiger sich nicht zu scheuen, von dem durch das Protokoll ‡geschaffenen™ unverrückbaren Tatbestand als ‡Wahrheit[X.] einen scheinbaren Ausweg bietet die Beauftragung eines neuen Verteidigers für die Revisionsbegründung, der —dann vielleicht im Zustand der ‡Unberührtheit™ gehalten werden kannfi ([X.] aaO Rdn. 920), denn dieser hat sich [X.] beim Instanzverteidiger über den Verfahrensablauf kundig zu machen [vgl. [X.], Beschluss vom 23. November 2004 - 1 StR 379/04 -; Verfassungsbe-schwerde dagegen nicht zur Entscheidung angenommen mit Beschluss des [X.] vom 22. September 2005 - 2 BvR 93/05 - unter Hinweis auf den Grundsatz der Einheitlichkeit eines über mehrere Instanzen geführten Verfahrens). Auch diese Entwicklung spricht dafür, die Zurückhaltung bei der umfassenden Berücksichtigung der formellen Beweiskraft des Protokolls gemäß § 274 [X.] aufzugeben, auch wenn mit der Berichtigung der Sitzungs-niederschrift einer bereits zugunsten des Angeklagten erhobenen Rüge die [X.] entzogen wird. Dies ist im Gegensatz zur Unzulässigkeit einer unwahren Verfahrensrüge der einzige zweifelsfrei mit der formellen Beweiskraft des Protokolls gemäß § 274 [X.] zu vereinbarende Weg, um einer derartigen Rüge den Erfolg zu verwehren (vgl. [X.] aaO 727). - 19 - V. Der Senat fragt deshalb bei den anderen Senaten an, ob entgegenste-hende Rechtsprechung aufgegeben wird. 39 [X.]Schluckebier Kolz Hebenstreit [X.]

Meta

1 StR 466/05

12.01.2006

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 12.01.2006, Az. 1 StR 466/05 (REWIS RS 2006, 5677)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2006, 5677

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