Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 29.10.2015, Az. 3 StR 342/15

3. Strafsenat | REWIS RS 2015, 3092

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Entscheidungstext


Formatierung

Dieses Urteil liegt noch nicht ordentlich formatiert vor. Bitte nutzen Sie das PDF für eine ordentliche Formatierung.

PDF anzeigen

[X.]:[X.]:[X.]:2015:291015B3STR342.15.0

BUN[X.]SGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 342/15
vom
29. Oktober 2015
in der Strafsache
gegen

wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes
hier:
Anfragebeschluss

-
2
-
Der 3. Strafsenat des [X.] hat nach Anhörung des [X.] und des Beschwerdeführers am 29. Oktober 2015 beschlossen:
Der [X.] beabsichtigt zu entscheiden:
Dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil kommt im Rah-men der Strafzumessung bei Taten des sexuellen Missbrauchs eines Kindes die gleiche Bedeutung zu wie bei anderen Strafta-ten.

Der [X.] fragt bei den anderen Strafsenaten an, ob an (gegebe-nenfalls) entgegenstehender Rechtsprechung festgehalten wird.

Gründe:
[X.] Das [X.] hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 35 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Der Angeklagte wendet sich mit verfahrens-
und materiellrechtlichen Beanstandungen gegen seine Verurteilung.
Nach den vom [X.] getroffenen Feststellungen entblößte der An-geklagte in dem [X.]raum vom 1. März 1990 bis zum 1. März 1994 in [X.] 35 Fällen beim Zubettbringen seiner am 1. März 1985 geborenen Tochter sein Geschlechtsteil vor dem Kind und veranlasste dieses, seinen Penis zu [X.]. Das Mädchen nahm hierbei das Glied des Angeklagten in eine oder 1
2
-
3
-
beide Hände, warf dieses zwischen den Händen hin und her oder umschloss es mit der ganzen Hand. Der Penis des Angeklagten war nicht in allen Fällen eri-giert; in mindestens einem Fall kam es
jedoch zu einem Samenerguss. [X.] einmal berührte der Angeklagte mit dem Finger die entblößte Scheide des Kindes; in einem weiteren Fall demonstrierte er den Geschlechtsverkehr zwischen [X.] und Frau, indem er sein Geschlechtsteil an der Scheide des
Mädchens rieb. Während der Taten erklärte der einen offenen und liberalen Erziehungsstil pflegende Angeklagte, dass dies "dazu gehöre" und eine "gute Tochter das so mache". Allerdings schärfte er seiner Tochter auch ein, sie [X.] niemandem von den Geschehnissen berichten, da er sonst "ins Gefängnis müsse".
Nach Auffassung des [X.]s dringen die Verfahrensbeanstandungen aus den in der Antragsschrift des [X.] ausgeführten Grün-den nicht durch. Der Schuldspruch hält [X.] Überprüfung stand. Die Feststellungen beruhen auf einer nicht zu beanstandenden Beweiswürdi-gung; gegen die rechtliche Würdigung des Geschehens ist ebenfalls nichts zu erinnern. Der [X.] beabsichtigt allerdings, auf die Sachrüge den gesamten Strafausspruch aufzuheben. Anlass hierzu sowie zu dem Anfrageverfahren gibt die unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Rechtsprechung des [X.] ([X.], Beschluss vom 8. Februar 2006 -
1 [X.], [X.], 393) vorgenommene Wertung des [X.]s, zu Gunsten des Angeklagten spre-che zwar, dass die Taten inzwischen sehr lange zurück lägen; jedoch könne dieser Umstand vorliegend nicht in gleicher Weise Berücksichtigung finden wie bei anderen Straftaten, da der sexuelle Kindesmissbrauch im familiären Umfeld geschehen und die späte Anzeige der Tat hierdurch mitbedingt gewesen sei, so dass die gesetzgeberische Wertung des § 78b StGB tangiert werde. Es ist nicht auszuschließen, dass sowohl die Einzelstrafen als auch die Gesamtstrafe nied-3
-
4
-
riger ausgefallen wären, hätte das Tatgericht diesen Gesichtspunkt nicht in die Abwägung eingestellt.
I[X.] Der 1. Strafsenat hat in der genannten Entscheidung ausgeführt, dem langen Abstand zwischen Tat und Urteil komme bei [X.] nicht eine gleich hohe Bedeutung wie in anderen Fällen zu. Dies gelte insbesondere in den Fällen, in denen ein Kind vom im selben Familien-verband lebenden (Stief-)Vater missbraucht werde und erst im Erwachsenenal-ter [X.] zu einer Aufarbeitung des Geschehens mit Hilfe einer Strafanzeige finde. Deshalb habe der Gesetzgeber auch die besondere Verjährungsregelung in § 78b StGB getroffen.
Demgegenüber hatte der 5. Strafsenat zuvor in einem Fall, der die Ver-gewaltigung eines zur Tatzeit 14 Jahre alten Mädchens betraf, -
nicht tragend -
darauf hingewiesen, der Umstand, dass der Angeklagte erst 18 Jahre nach der Tat strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden sei, stelle einen strafmil-dernd zu berücksichtigenden Gesichtspunkt dar, auch wenn Fälle der vorlie-genden Art aus tatsächlichen Gründen vielfach lange Jahre unbekannt blieben und der Gesetzgeber diesem Umstand durch § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB dadurch Rechnung getragen habe, dass die Verjährung bei diesen Delikten bis zur Voll-endung des 18. Lebensjahres des Opfers ruhe ([X.], Beschluss vom 29.
September 1997 -
5 [X.], [X.], 207).
Der [X.] vermag sich der Ansicht des 1. Strafsenats, der ein Teil der Literatur gefolgt ist (SK-StGB/[X.], [X.]., § 176 Rn. 13; LK/Hörnle, StGB, 12.
Aufl., § 176 Rn.
55; S/[X.], StGB,
29. Aufl., § 176 Rn. 29; aA
Fischer, StGB, 63. Aufl., § 46 Rn. 61; § 176 Rn.
35; MüKoStGB/[X.], 2.
Aufl., § 176 Rn. 66), nicht anzuschließen; denn sie vermischt in sachlich 4
5
6
-
5
-
nicht gerechtfertigter Weise Gesichtspunkte der Strafzumessung mit solchen
der Verjährung.
1. Die Strafe soll eine angemessene staatliche Reaktion auf die Bege-hung einer Straftat sein. Ihre Bemessung erfordert eine einzelfallorientierte Ab-wägung der strafzumessungsrelevanten Umstände. Grundlagen der Strafzu-messung sind dabei die Schwere der Tat in ihrer Bedeutung für die verletzte Rechtsordnung und der Grad der persönlichen Schuld des [X.], § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB ([X.], Urteil vom 4. August 1965 -
2 StR 282/65, [X.]St 20, 264, 266). Daneben ist die Resozialisierung des [X.] der zentrale Gesichtspunkt der Strafzumessung, denn das Tatgericht hat bei der konkreten Strafbemes-sung die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Strafe für das künftige Le-ben des [X.] in der Gesellschaft zu erwarten sind, § 46 Abs. 1 Satz 2 StGB. Nach diesen Maßgaben kann ein langer zeitlicher Abstand zwischen Tat und Urteil eine Strafmilderung gebieten. Der Ablauf der [X.] mindert zwar nicht die [X.], doch kann er Tat und Täter in einem günstigeren Licht erscheinen lassen, als es bei schneller Ahndung der Fall gewesen wäre; dies gilt insbeson-dere, wenn sich die Tat durch den [X.]ablauf als einmalige Verfehlung des [X.] erwiesen, er sich inzwischen jahrelang einwandfrei geführt und der [X.] die Folgen der Tat überwunden hat ([X.], StGB, 12. Aufl., § 46 Rn.
240). Ein langer [X.]ablauf nach der Tat führt deshalb nicht nur zu einer Minderung des Sühneanspruchs, weil das Strafbedürfnis allgemein abnimmt ([X.], Beschluss vom 17. Januar 2008 -
GSSt 1/07, [X.]St 52, 124, 141 f.), sondern erfordert auch eine gesteigerte Prüfung der Wirkungen der Strafe für den Täter ([X.], Beschluss vom 20. Februar 1998 -
2 StR 20/98, [X.]R StGB § 46 Abs. 1 Schuldausgleich 35).
7
-
6
-

2. Demgegenüber betreffen die Vorschriften über die [X.] ausschließlich die Verfolgbarkeit der Tat ([X.], Beschluss vom 31.
Januar 2000 -
2 BvR 104/00, [X.], 251); nach Ablauf der [X.] ist die Ahndung der Tat und die Anordnung von Maßnahmen nicht mehr möglich, § 78 Abs. 1 Satz 1 StGB. Das Rechtsinstitut
der Verjährung soll dem Rechtsfrieden dienen und einer etwaigen Untätigkeit der Behörden in je-dem Abschnitt des Verfahrens entgegenwirken ([X.], Urteil vom 26.
Juni 1958 -
4 [X.], [X.]St 11, 393, 396; Beschluss vom 23. Januar 1959 -
4 [X.], [X.]St 12, 335, 337 f.). Zur Erreichung dieser Ziele hat der [X.] in den §§ 78 ff. StGB ein differenziert ausgestaltetes System normiert, in-nerhalb dessen die Dauer der Verjährungsfrist im Ausgangspunkt unabhängig von den konkreten Umständen des Einzelfalles maßgeblich vom Höchstmaß der durch die betreffende Strafvorschrift allgemein angedrohten Strafe be-stimmt wird, vgl. § 78 Abs. 3 StGB.
3. Aus diesen unterschiedlichen Zwecken und Ausgestaltungen der Strafzumessung und der Verfolgungsverjährung folgt einerseits, dass für die Frage der Verjährung nicht von Bedeutung ist, ob mit Blick auf die Strafzumes-sungsmaximen Schuld und Spezialprävention eine staatliche Reaktion auf die Begehung einer Straftat in Form einer Sanktionierung des [X.] (noch) [X.] und gegebenenfalls welche angemessen erschiene. Andererseits spielt die Dauer der Verjährungsfrist für die Strafzumessung und die dort zu bewer-tenden Umstände keine Rolle. Das Gewicht, mit dem der zeitliche Abstand zwi-schen einer noch verfolgbaren Tat und dem Urteil in die Bemessung der Strafe einzustellen ist, hängt nicht von der Länge der zunächst nach §§ 78, 78a StGB zu bestimmenden Verjährungsfrist ab. Es wird auch nicht dadurch beeinflusst, dass die Tat gegebenenfalls länger verfolgbar ist, weil die Voraussetzungen eines der Tatbestände gegeben sind, bei deren Erfüllung die Verjährung nach 8
9
-
7
-
§
78b StGB ruht oder gemäß § 78c StGB unterbrochen wird. Dies gilt etwa auch für die Ruhensregelung des § 78b Abs. 4 StGB, die an die Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem [X.] und das Bestehen besonders schwerer Fälle anknüpft, die bei bestimmten Delikten als strafschärfende Umstände ge-setzlich normiert sind.
Gründe dafür, hiervon für die Fälle des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB abzu-weichen und dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil dort generell ein geringeres Gewicht zuzumessen, sind nicht ersichtlich. In § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB hat der Gesetzgeber -
erstmals mit dem [X.] vom 23. Juni 1994 ([X.] I [X.]310) -
eine deliktsspezifische Bestimmung zum Ruhen der Verfolgungsverjährung getroffen, die den Besonderheiten bei zum Nachteil von jungen Menschen begangenen Sexualstraftaten Rechnung tragen soll. Der Gesetzgeber hat hierzu in der Gesetzesbegründung ausgeführt, Sexu-alstraftaten an Kindern und Jugendlichen würden den [X.] häufig erst bekannt, wenn die Taten bereits viele Jahre zurückliegen, weil sie überwiegend von Familienangehörigen begangen und die Opfer von den [X.] häufig dahin beeinflusst würden, die Übergriffe zu verschweigen. Wenn die Opfer erst lange [X.] nach der Tat in der Lage seien, Strafanzeige zu erstat-ten, sei eine Strafverfolgung wegen Verjährung
der Taten in vielen Fällen nicht mehr möglich (vgl. BT-Drucks. 12/2975 [X.]; 12/3825 [X.]; 12/6980 [X.];
Hervorhebung nicht im Original). Deshalb solle die Verjährung bis zu dem [X.]-punkt ruhen, bis zu dem das Opfer in der Lage sei, das Erlebte in seiner ge-samten Dimension zu erfassen und auf dieser Grundlage über das Für und [X.] einer Strafanzeige zu entscheiden (vgl. BT-Drucks. 12/6980 S. 4). Diese Erwägungen belegen eindeutig, dass der Gesetzgeber lediglich den Willen hat-te, die Verfolgbarkeit von bestimmten Straftaten auch über die bis dahin gel-tenden Verjährungsregelungen hinaus zu ermöglichen. Den [X.]
-
8
-
lien ist demgegenüber an keiner Stelle zu entnehmen, dass es ihm auch darauf ankam, über diesen Gesichtspunkt hinaus die in den §§ 46 ff. StGB geregelten und von Rechtsprechung und Literatur entwickelten Strafzumessungskriterien sowie deren Gewichtung zu modifizieren. Dies gilt auch für die nachfolgenden Änderungen der Vorschrift, durch die der Deliktskatalog erweitert und das Ru-hen der Verjährung bis mittlerweile zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers angeordnet worden ist (vgl. etwa BT-Drucks. 15/350 [X.]3; 16/13671 S.
24; 18/2601 [X.]4, 22 f.).
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die letzte Erhöhung der Alters-grenze
bewirkt, dass schwere Sexualdelikte frühestens mit Vollendung des 50. Lebensjahres des Opfers verjähren, wobei sich diese Frist durch [X.] bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres des Opfers ver-längern kann (BT-Drucks. 18/2601 S. 23). Diese Wertung des Gesetzgebers ist zwar trotz der sich hieraus für die Rechtspraxis ergebenden Probleme hinzu-nehmen. Der [X.] würde es jedoch -
ungeachtet der bereits dargelegten Be-denken -
in solchen Fällen für regelmäßig als in der Sache unangemessen [X.], den Abstand zwischen Tat und Urteil von gegebenenfalls mehreren Jahrzehnten bei der Strafzumessung nur eingeschränkt zu Gunsten eines mög-licherweise in der Zwischenzeit [X.] [X.] zu gewichten.
11
-
9
-
II[X.] Der [X.] fragt deshalb an beim 1. Strafsenat, ob an der entgegen stehenden Rechtsprechung festgehalten wird, und bei den anderen Strafsena-ten, ob ggf. an entgegenstehender Rechtsprechung festgehalten wird, § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG.
Becker Hubert Schäfer

Mayer

Spaniol
12

Meta

3 StR 342/15

29.10.2015

Bundesgerichtshof 3. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 29.10.2015, Az. 3 StR 342/15 (REWIS RS 2015, 3092)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 3092

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

3 StR 342/15 (Bundesgerichtshof)


3 StR 342/15 (Bundesgerichtshof)


3 StR 342/15 (Bundesgerichtshof)


GSSt 2/17 (Bundesgerichtshof)

Auswirkung des zeitlichen Abstands zwischen Tat und Verurteilung auf die Strafzumessung bei Missbrauch von Kindern


GSSt 2/17 (Bundesgerichtshof)


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

3 StR 342/15

1 StR 631/13

1 ARs 5/16

2 ARs 67/16

4 StR 239/16

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.