Bundesgerichtshof, Urteil vom 20.10.2021, Az. 1 StR 136/21

1. Strafsenat | REWIS RS 2021, 1744

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Gegenstand

Unerlaubte Einfuhr von Betäubungsmitteln: Anforderungen an die Strafzumessung bei Ausschöpfung des Strafrahmens


Tenor

1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 3. Februar 2021 im jeweiligen Strafausspruch aufgehoben.

2. Die weitergehenden Revisionen werden verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das [X.] hat die Angeklagten wegen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt, und zwar den Angeklagten [X.]zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren sowie den Angeklagten [X.]zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren sechs Monaten. Daneben hat das [X.] die sichergestellten Betäubungsmittel und weitere Gegenstände eingezogen. Die gegen ihre Verurteilungen gerichteten Revisionen der Angeklagten, mit denen sie jeweils die Verletzung materiellen Rechts beanstanden, haben zum Strafausspruch Erfolg.

I.

2

Nach den Feststellungen des [X.]s ließen sich die Angeklagten von einem unbekannt gebliebenen Hintermann anwerben, um im [X.] zu übernehmendes Heroin über [X.] in die [X.] zu verbringen. Die Angeklagten, die sich während des Transports gegenseitig überwachen sollten, starteten am 24. Oktober 2019 ihre Reise in [X.]       und hielten sich länger in der [X.] auf. Am 16. November 2019 begaben sie sich von dort über den Grenzübergangsort „H.   “ bei [X.].    in die [X.] Grenzstadt [X.]. Dort übernahmen sie von einer nicht ermittelten Person 43.906 Gramm Heroin mit einer Wirkstoffmenge von 23.859,9 Gramm [X.]; das in 79 Päckchen gepresste Rauschgift mit einem Straßenverkaufswert von mindestens zehn Millionen Euro wurde in einem Hohlraum im Rückraum des Wagens versteckt. Auf der Rückreise fuhren die Angeklagten am 6. Dezember 2019 gegen 18.30 Uhr über den Grenzübergang [X.]        in das Gebiet der Bundesrepublik [X.]. Dort wurden sie einer Fahrzeugkontrolle unterzogen; die Betäubungsmittel wurden sichergestellt.

II.

3

1. Die Schuldsprüche begegnen aus den Erwägungen der Antragsschrift des [X.] keinen Bedenken.

4

2. Indes hält die Strafzumessung (im engeren [X.]nne) innerhalb des hier wegen Menge und Art des eingeführten Rauschgifts allein in Betracht kommenden Ausgangsstrafrahmens des § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG der - freilich eingeschränkten - sachlichrechtlichen Nachprüfung letztlich nicht stand. Die Erwägungen des [X.]s, das insbesondere bezüglich des Angeklagten [X.]   in Richtung der Ausschöpfung des eröffneten Strafrahmens (§ 38 Abs. 2 StGB) geht, lassen besorgen, dass es sich nahezu ausschließlich an Art, Menge und Wirkstoffgehalt der Betäubungsmittel orientiert hat; die außergewöhnlich hohen Strafen sind damit nicht rechtsfehlerfrei begründet. Im Einzelnen:

5

a) Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts, gleichwohl Rechtsanwendung und unterliegt insoweit der [X.] Überprüfung.

6

aa) Gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 StGB hat das Tatgericht bei der Strafzumessung die Umstände gegeneinander abzuwägen, die für oder gegen den Täter sprechen. Es ist seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den es in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des [X.] gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und hierbei gegeneinander abzuwägen. Ein Eingriff des [X.] ist nur möglich, wenn die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind oder von unzutreffenden Tatsachen ausgehen, das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstößt oder wenn sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein, so weit löst, dass sie nicht mehr innerhalb des eingeräumten Spielraums liegt. Das Gewicht der Strafzumessungstatsachen bestimmt in erster Linie das Tatgericht, dem hierbei von Rechts wegen ein weiter Entscheidungs- und Wertungsspielraum eröffnet ist. In Zweifelsfällen muss das Revisionsgericht die vom Tatgericht vorgenommene Bewertung bis an die Grenze des Vertretbaren hinnehmen. Dabei ist dieses lediglich verpflichtet, die für die Strafzumessung bestimmenden Umstände darzulegen (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO); eine erschöpfende Aufzählung aller Strafzumessungserwägungen ist weder vorgeschrieben noch möglich (st. Rspr.; zuletzt [X.], Urteil vom 24. Juni 2021 - 5 StR 545/20 Rn. 7 mit weiteren umfangreichen Nachweisen). Die Begründung des Urteils muss erkennen lassen, dass die wesentlichen Gesichtspunkte gesehen und in ihrer Bedeutung sowie ihrem Zusammenwirken vertretbar gewürdigt wurden; nur in diesem Rahmen kann das Gesetz verletzt sein (§ 337 Abs. 1 StPO; [X.], Urteil vom 9. Mai 2017 - 1 StR 265/16 Rn. 40 mwN).

7

bb) Bei Betäubungsmitteldelikten prägen Art und Menge des Rauschgifts den Unrechtsgehalt der Tat; sie sind deshalb nicht nur "bestimmende Umstände" (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO), sondern regelmäßig vorrangig in die Abwägung einzustellen. Gleichwohl verlieren die allgemeinen Grundsätze der Strafzumessung nach den §§ 46 ff. StGB im Bereich der [X.] nicht ihre Bedeutung. Danach ist auch bei [X.] die Strafe nach dem Maß der individuellen Schuld zuzumessen. Eine reine „Mengenrechtsprechung“ wäre mit diesen Grundsätzen nicht zu vereinbaren (vgl. [X.], Urteil vom 14. November 2019 - 3 [X.] Rn. 6; Beschlüsse vom 9. Dezember 2012 - 2 StR 455/11, [X.]R BtMG § 29 Strafzumessung 38 Rn. 5 und vom 1. März 2011 - 3 StR 28/11 Rn. 8; vgl. aber auch [X.], Beschlüsse vom 9. Juni 2011 - 3 [X.] Rn. 5 und vom 25. Oktober 2016 - 5 StR 408/16).

8

cc) Auf gleicher Linie liegen die vom [X.] gestellten Anforderungen an den [X.], wenn die verhängten Strafen auffällig hoch sind (vgl. etwa [X.], Urteil vom 20. März 2019 - 1 StR 632/18 Rn. 8 mwN). Dies gilt erst recht, wenn sie sich gar der oberen Strafrahmengrenze nähern (vgl. nur [X.], Urteile vom 18. Juni 2009 - 3 [X.] Rn. 8; vom 29. Juni 2005 - 1 StR 149/05 Rn. 5; vom 20. September 2000 - 2 StR 186/00 Rn. 17; vom 22. März 1995 - 3 [X.] Rn. 6 und vom 20. März 1985 - 2 StR 44/85 Rn. 14; Beschlüsse vom 11. November 2014 - 3 [X.] Rn. 5; vom 8. Februar 2005 - 3 StR 500/04 Rn. 2; vom 12. April 1994 - 4 StR 74/94, [X.]R StGB § 54 Abs. 1 Bemessung 8 und vom 30. August 1983 - 5 StR 587/83 Rn. 4), also den eröffneten Strafrahmen ausschöpfen. Außergewöhnlich hohe Strafen bedürfen einer Rechtfertigung in den Urteilsgründen, die das Abweichen vom Üblichen vor dem Hintergrund der Besonderheiten des jeweiligen Falles verständlich macht ([X.], Beschlüsse vom 21. Dezember 2020 - 1 [X.] Rn. 5; vom 20. September 2010 - 4 StR 278/10 Rn. 5; vom 11. Oktober 1985 - 2 StR 518/85 Rn. 4 und vom 19. März 1982 - 2 StR 30/82 Rn. 3).

9

dd) Nur vereinzelt hat der [X.] in - hier einschlägigen - Kurierfällen allein aufgrund der Art sowie der Menge und der Wirkstoffmenge des gehandelten Rauschgifts in die den Tatgerichten zugewiesene Strafzumessung unter dem Gesichtspunkt des nicht mehr gerechten Schuldausgleichs eingegriffen, sei es, dass die Strafe unvertretbar milde war ([X.], Urteile vom 1. September 1993 - 2 [X.] Rn. 3, [X.]R BtMG § 29 Strafzumessung 25 und vom 14. Juni 2007 - 3 [X.] Rn. 4; siehe aber auch, [X.], Urteil vom 4. September 1996 - 2 StR 299/96 Rn. 3, 15) oder unvertretbar hoch ([X.], Beschluss vom 23. Februar 2010 - 5 StR 548/09 Rn. 13; siehe aber auch [X.], Urteil vom 25. Februar 1993 - 1 StR 808/92 Rn. 3, 8).

b) Nach diesen Maßstäben begegnen die unzulänglichen Strafzumessungserwägungen des [X.]s durchgreifenden Bedenken.

aa) Das [X.] benennt allein als straferschwerend, dass die Schwelle zur nicht geringen Menge um das 15.906fache überschritten ist und es sich bei Heroin um eine gefährliche Droge handelt. Nur dies lässt die verhängten Strafen nicht ohne Weiteres als nachvollziehbar erscheinen, auch nicht unter Beachtung der - auch gegenüber etwa Kokain - gefährlicheren Wirkung von Heroin. An den besonderen objektiven Umständen, die nicht vom - allein der Autonomie des Tatgerichts unterliegenden - persönlichen Eindruck von den Angeklagten aus der Hauptverhandlung abhängen, gemessen, namentlich an der sich über rund sechs Wochen erstreckenden Dauer der Kurierhin- und -rückfahrt, begleitet von Geldüberweisungen, der durchaus auffällig langen [X.] von rund 8.800 Kilometern und des besonders präparierten, zuvor offensichtlich von einer anderen internationalen Gruppierung benutzten Schmuggelfahrzeugs, erscheint der verfahrensgegenständliche Fall nicht - jedenfalls nicht ohne weitere Begründung - als derart außergewöhnlich, als dass die Einordnung in die Kategorie der denkbar schwersten Fälle gerechtfertigt wäre. Hinzu kommt, dass auch Milderungsgründe wie die [X.]cherstellung des Rauschgifts und das bisherige (nahezu) unbescholtene Vorleben der Angeklagten sich erheblich zu ihren Gunsten auswirken mussten.

Grundsätzlich erfordert die individuelle Strafzumessung eine Wertung der für die Strafzumessung maßgeblichen Umstände, weil die gesetzliche Vorgabe eines Strafrahmens grundsätzlich bedeutet, dass innerhalb des Rahmens nur für die denkbar schwersten Fälle die Höchststrafe verhängt werden darf (vgl. [X.], Beschluss vom 26. Februar 2013 - [X.], [X.]St 58, 158 Rn. 56). Dies schließt, um eine Wertung innerhalb des Strafrahmens vornehmen zu können, den Vergleich mit eher "durchschnittlichen" Fällen notwendigerweise mit ein. Dabei haben freilich bei der individuellen Strafzumessung fremde hypothetische Sachverhalte ebenso außer Betracht zu bleiben wie von anderen Gerichten verhängte Strafen. Maßstab sind das durch den Straftatbestand geschützte Rechtsgut und der Grad seiner schuldhaften Beeinträchtigung.

bb) Vor allem darf bei [X.] das Strafengefüge der §§ 30, 30a BtMG nicht außer Blick geraten. Nach der gesetzlichen Konzeption kommt [X.] wie etwa der Bandenmitgliedschaft (§ 30a Abs. 1 Variante 4 BtMG) oder des Beisichführens einer Waffe (§ 30a Abs. 2 Nr. 2 Variante 2 BtMG) erheblich straferschwerendes Gewicht zu; dies zeigt sich an der gegenüber der in § 30 Abs. 1 BtMG normierten Strafrahmenuntergrenze von zwei Jahren Freiheitsstrafe signifikant höheren des § 30a Abs. 1, 2 BtMG mit einer solchen von fünf Jahren Freiheitsstrafe. Demnach wären - etwa neben einem Sachverhalt, in dem das Rauschgift nicht sichergestellt wird oder der Täter mehrere Einfuhrtaten begeht (§ 54 Abs. 2 Satz 1 StGB; vgl. dazu [X.], Urteil vom 11. September 2003 - 1 [X.]) - solche Konstellationen als schwerer zu gewichten, in denen der Kurier Bandenmitglied ist (vgl. auch dazu [X.] aaO) oder bei der Einfuhr eine Waffe bei sich führt.

3. Die aufgezeigten Erörterungsfehler lassen die Feststellungen unberührt (§ 353 Abs. 2 StPO). Ergänzende Feststellungen sind möglich, sofern sie den bisherigen nicht widersprechen.

Raum     

        

Bellay     

        

Fischer

        

Hohoff     

        

Leplow     

        

Meta

1 StR 136/21

20.10.2021

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Traunstein, 3. Februar 2021, Az: 6 KLs 150 Js 43824/19

§ 30 Abs 1 Nr 4 BtMG, § 30a Abs 1 Alt 4 BtMG, § 30a Abs 2 Nr 2 Alt 2 BtMG, § 38 Abs 2 StGB, § 46 Abs 2 S 1 StGB, §§ 46ff StGB, § 54 Abs 2 S 1 StGB, § 267 Abs 3 S 1 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 20.10.2021, Az. 1 StR 136/21 (REWIS RS 2021, 1744)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 1744

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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