Bundessozialgericht, Beschluss vom 19.11.2019, Az. B 1 KR 72/18 B

1. Senat | REWIS RS 2019, 1434

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - keine Nachholung des Vorverfahrens - fehlende Identität zwischen beklagter Behörde und Widerspruchsbehörde


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 26. Juli 2018 geändert, soweit es die Klage als unzulässig erachtet hat. Die Sache wird insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde des [X.] gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des [X.] vom 26. Juli 2018 als unzulässig verworfen.

Gründe

1

I. Der bei der beklagten Krankenkasse ([X.]) versicherte Kläger ist mit seinem Begehren auf Kostenübernahme für zahnärztliche Behandlungen - soweit hier streitig - bei der [X.] und in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Während des Klageverfahrens vor dem [X.] hat der Kläger einen weiteren Heil- und Kostenplan über 5341,78 [X.] eingereicht (2.11.2015) und die Klage um Versorgung mit dieser Behandlung erweitert. Die Beklagte hat diese Versorgung des [X.] abgelehnt (Schriftsatz 30.11.2015). Der Kläger hat die Behandlungen in der Folge teilweise durchführen lassen (Rechnungen vom 21.12.2015 und 16.2.2016 über insgesamt 3453,42 [X.]) und die Klage insoweit auf Kostenerstattung umgestellt. Das [X.] hat die Klage abgewiesen, hinsichtlich der im Klageverfahren erfolgten Ablehnung als unzulässig. Das L[X.] hat die Berufung zurückgewiesen und zur Begründung - unter teilweisem Verweis auf den Gerichtsbescheid des [X.] vom 30.3.2017 - ua ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf Kostenerstattung nach § 13 Abs 3 [X.]B V, da es an dem notwendigen [X.] zwischen der Leistungsablehnung der [X.] und der Selbstbeschaffung fehle. Hinsichtlich der erst während des Klageverfahrens durchgeführten Behandlungen sei die Klage mangels durchgeführten Vorverfahrens bereits unzulässig (Urteil vom 26.7.2018).

2

Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im L[X.]-Urteil. Er rügt ua, das L[X.] hätte das Gerichtsverfahren zur Durchführung des Vorverfahrens gegen die während des Klageverfahrens erfolgte Ablehnung der Kostenerstattung für die 2015/2016 durchgeführten Zahnbehandlungen aussetzen müssen.

3

II. Die zulässige Beschwerde des [X.] ist insoweit begründet, als das L[X.] die Berufung auch gegen den Teil des Klagebegehrens zurückgewiesen hat, den das [X.] als unzulässig abgewiesen hat. Das L[X.]-Urteil beruht insoweit auf einem Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G), den der Kläger entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G bezeichnet (dazu 1.) mit der Folge, dass die Sache insoweit zurückzuverweisen ist (dazu 2.). Im Übrigen ist die Beschwerde des [X.] unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 3 [X.]G zu verwerfen (dazu 3.).

4

1. Nach § 160 Abs 2 [X.] [X.]G ist eine Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. So verhält es sich hier, soweit das L[X.] die Klage als unzulässig erachtet hat. Es hat hinsichtlich der erstmals im Verfahren vor dem [X.] vorgelegten Rechnungen verfahrensfehlerhaft das Fehlen eines Vorverfahrens beanstandet, ohne dem Kläger die Möglichkeit zu geben, durch Aussetzung des gerichtlichen Verfahrens (§ 114 Abs 2 [X.]G analog) ein gebotenes Vorverfahren (§ 78 [X.]G) nachzuholen (stRspr, vgl zB B[X.] Beschluss vom 1.7.2014 - [X.] KR 99/13 B - juris Rd[X.] 12 ff; B[X.] [X.] 1500 § 78 [X.] mwN; B[X.] [X.] 3-5540 Anl 1 § 10 [X.] 1; B[X.] [X.] 3-5868 § 85 [X.] S 41; [X.] in Zeihe/[X.], [X.]G, Stand März 2019, § 114 [X.] und 19 aa; [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 12. Aufl 2017, § 78 Rd[X.]a mwN und [X.], aaO, § 114 Rd[X.] 5). Vor Erhebung der Anfechtungsklage sind Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts in einem Vorverfahren nachzuprüfen (§ 78 Abs 1 Satz 1 [X.]G). Der maßgebliche, vom Kläger angegriffene Verwaltungsakt (§ 31 [X.]B X) lag darin, dass die Beklagte den Antrag des [X.] während des [X.]-Verfahrens in der Sache abgelehnt hat (30.11.2015). Die Beklagte hat der [X.] zugestimmt, denn sie hat sich auf die [X.] rügelos zur Sache eingelassen (§ 99 Abs 2 [X.]G; vgl zB B[X.] [X.] 4-2500 § 132a [X.] 1). Es lag auch keiner der in § 78 Abs 1 Satz 2 [X.]G genannten Ausnahmefälle vor, die ein obligatorisches Vorverfahren entbehrlich machen. Die Beklagte hat das Vorverfahren auch nicht dadurch konkludent nachgeholt, dass sie der Klage entgegengetreten ist. Die beklagte prozessführende Behörde ist nämlich mit der zur Entscheidung berufenen Widerspruchsbehörde (vgl § 85 Abs 2 Satz 1 [X.] 2 [X.]G) nicht identisch (vgl dazu zB B[X.]E 112, 170 = [X.] 4-1500 § 54 [X.] 27, Rd[X.] 13 f). Der Zulässigkeit der Klage steht auch nicht entgegen, dass der Kläger die Klage nach (teilweiser) Selbstbeschaffung der geforderten Leistungen (Rechnungen vom 21.12.2015 und 16.2.2016 über insgesamt 3453,42 [X.]) auf Kostenerstattung umgestellt hat (vgl zur Zulässigkeit einer Klageumstellung auf Kostenerstattung zB B[X.]E 125, 283 = [X.] 4-2500 § 137c [X.] 10, Rd[X.] mwN).

5

Das L[X.] hat insoweit zu Unrecht die Berufung als unbegründet zurückgewiesen und die Abweisung der Klage als unzulässig durch das [X.] bestätigt, obwohl eine Sachentscheidung im [X.] an ein [X.] Widerspruchsverfahren hätte ergehen müssen (vgl B[X.]E 25, 66, 68 = [X.] [X.] 4 zu § 1538 RVO; B[X.]E 20, 199, 201 = [X.] [X.] 11 zu § 79 [X.]G; B[X.] [X.] 1500 § 160a [X.] 55). Es ist nicht gänzlich ausgeschlossen, dass nach Abschluss des Vorverfahrens unter Berücksichtigung weiterer Beweiserhebungen hinsichtlich der Behandlungen durch Dr. P. ein Anspruch auf Erstattung oder ggf Übernahme der Kosten nach Maßgabe des § 13 Abs 3 [X.]B V in Betracht kommen kann.

6

2. Nach § 160a Abs 5 [X.]G kann das B[X.] in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G vorliegen, was - wie ausgeführt - hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

7

3. Im Übrigen entspricht die Begründung der Beschwerde nicht den aus § 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der geltend gemachten Revisionszulassungsgründe der Divergenz (§ 160 Abs 2 [X.] 2 [X.]G) und des Verfahrensfehlers (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]G).

8

a) Wer sich - wie hier der Kläger - auf den Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 [X.] 2 [X.]G) beruft, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze in der Entscheidung des Berufungsgerichts einerseits und in einem Urteil des B[X.], des [X.] oder des [X.] andererseits gegenüberstellen und Ausführungen dazu machen, weshalb beide miteinander unvereinbar sein sollen (stRspr, vgl zB B[X.] Beschluss vom 19.9.2007 - [X.] KR 52/07 B - juris Rd[X.] 6) und die Berufungsentscheidung auf dieser Divergenz beruht (vgl B[X.] Beschluss vom [X.] - [X.] KR 21/07 B - juris Rd[X.] 9). Erforderlich ist, dass das L[X.] bewusst einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt und nicht etwa lediglich fehlerhaft das Recht angewendet hat (vgl zB B[X.] Beschluss vom 15.1.2007 - [X.] KR 149/06 B - Rd[X.] 4; B[X.] [X.] 3-1500 § 160 [X.] 26 S 44 f mwN). Der Beschwerdeführer hat dies schlüssig darzulegen (vgl zB B[X.] Beschluss vom [X.] - [X.] KR 41/16 B - juris Rd[X.] 7). Dabei dürfen die Anforderungen an den Vortrag des Beschwerdeführers nicht überspannt werden, wenn eine offenkundige Abweichung von Rspr des B[X.] vorliegt, auf der das Urteil beruht, das L[X.] jedoch entgegen § 160 Abs 2 [X.] 2 [X.]G die Revision - objektiv willkürlich - nicht zulässt (vgl B[X.] [X.] 4-1500 § 160a [X.]7 Rd[X.] 6; vgl zum Ganzen [X.] in Zeihe/[X.], [X.]G, Stand März 2019, § 160a [X.] 21). Die Beschwerdebegründung wird diesen Anforderungen nicht gerecht. Der Kläger benennt bereits keinen Rechtssatz des L[X.], sondern trägt lediglich vor, "die Rechtsauffassung" des L[X.] sei mit einem (näher benannten) Urteil des B[X.] unvereinbar.

9

b) Nach § 160 Abs 2 [X.] [X.]G ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 [X.]G und § 128 Abs 1 Satz 1 [X.]G (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 [X.]G (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das L[X.] ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Um einen Verfahrensmangel in diesem Sinne geltend zu machen, müssen die Umstände bezeichnet werden, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (vgl zB B[X.] [X.] 1500 § 160a [X.] 14, 24, 36).

Wer sich auf eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht nach § 103 [X.]G stützt, muss ua einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrag bezeichnen, die Rechtsauffassung des L[X.] wiedergeben, aufgrund der bestimmte Tatsachen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen und die von dem betreffenden Beweisantrag berührten Tatumstände darlegen, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben hätten (stRspr; vgl zB B[X.] Beschluss vom 20.7.2010 - [X.] KR 29/10 B - Rd[X.] 5 mwN; B[X.] Beschluss vom 1.3.2011 - [X.] KR 112/10 B - juris Rd[X.] mwN; B[X.] Beschluss vom 14.10.2016 - [X.] KR 59/16 B - juris Rd[X.] 5). Hierzu gehört nach ständiger Rspr des B[X.] die Darlegung, dass ein anwaltlich vertretener Beteiligter - wie hier der Kläger - einen Beweisantrag bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung gestellt und noch zumindest hilfsweise aufrechterhalten hat (vgl dazu B[X.] Beschluss vom 14.6.2005 - [X.] KR 38/04 B - juris Rd[X.] 5; B[X.] Beschluss vom 10.7.2019 - [X.] KR 52/18 B - juris Rd[X.] mwN). Der Tatsacheninstanz soll dadurch nämlich vor Augen geführt werden, dass der Betroffene die gerichtliche Sachaufklärungspflicht noch nicht als erfüllt ansieht. Der Beweisantrag hat Warnfunktion (vgl B[X.] [X.] 1500 § 160 [X.] 67; B[X.] Beschluss vom 10.4.2006 - [X.] KR 47/05 B - juris Rd[X.] 9 mwN).

Der Vortrag des [X.] entspricht nicht diesen Anforderungen. Er benennt schon keinen Beweisantrag, den er bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung zumindest hilfsweise aufrechterhalten hat; vielmehr weist er lediglich auf schriftsätzlich gestellte Beweisanträge hin. Außerdem enthält sein Vortrag keine Ausführungen zur Rechtsauffassung des L[X.], auf deren Grundlage bestimmte Tatsachen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen.

4. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 [X.]G).

5. Die Kostenentscheidung bleibt dem L[X.] vorbehalten.

Meta

B 1 KR 72/18 B

19.11.2019

Bundessozialgericht 1. Senat

Beschluss

Sachgebiet: KR

vorgehend SG Frankfurt, 30. März 2017, Az: S 34 KR 869/14, Gerichtsbescheid

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 78 Abs 1 SGG, § 85 Abs 2 SGG, § 99 Abs 2 SGG, § 114 Abs 2 SGG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 19.11.2019, Az. B 1 KR 72/18 B (REWIS RS 2019, 1434)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 1434

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