Bundessozialgericht, Urteil vom 25.06.2015, Az. B 14 AS 30/14 R

14. Senat | REWIS RS 2015, 9096

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Untersuchungsgrundsatz - sozialrechtliches Verwaltungsverfahren - Rücknahme der Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende - Hilfebedürftigkeit - fehlende Feststellungen zum Einkommen und Vermögen des Partners in der Bedarfsgemeinschaft - Unzulässigkeit des Nachschiebens von Gründen - verfassungskonforme Auslegung


Leitsatz

Ein Gericht ist aufgrund des Untersuchungsgrundsatzes nicht verpflichtet, bei einer reinen Anfechtungsklage Ermittlungen nachzuholen, die die beklagte Behörde unterlassen hat, um die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts selbst festzustellen.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 13. Juni 2013 geändert.

Die Berufung der Klägerin wird als unzulässig verworfen, soweit die Aufhebung des Bescheids vom 27. September 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Juni 2007 auch hinsichtlich ihres [X.] beantragt wurde.

Im Übrigen wird die Revision des Beklagten zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin 3/4 der Kosten des Rechtsstreits in allen drei Rechtszügen zu erstatten.

Tatbestand

1

Umstritten ist die Rücknahme einer Leistungsbewilligung ab dem 1.10.2006. Das beklagte Jobcenter bewilligte der Klägerin und ihrem minderjährigen [X.] mit Bescheid vom [X.] Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem [X.] ([X.]) vom 1.7. bis zum 31.12.2006 in Höhe von 592,23 Euro monatlich. In ihrem Leistungsantrag hatte die Klägerin angegeben, mit ihrem geschiedenen Ehemann [X.] als Mitmieter in einer gemeinsam ab dem [X.] angemieteten Wohnung zu leben. [X.] erklärte nach Antragstellung, er und die Klägerin bildeten keine Bedarfsgemeinschaft. Zugleich legte er Verdienstbescheinigungen für die Monate Oktober 2005 bis April 2006 vor. Nach einem im August 2006 durchgeführten Hausbesuch in der Wohnung der Klägerin ging der Beklagte vom Vorliegen einer eheähnlichen Gemeinschaft zwischen der Klägerin und ihrem geschiedenen Ehemann aus und forderte beide mit Schreiben vom [X.] unter Hinweis auf ihre Mitwirkungspflicht nach §§ 60 ff Sozialgesetzbuch [X.] ([X.]) auf, bis zum 26.9.2006 die Verdienstabrechnungen des [X.] für Mai bis August 2006 sowie seine Kontoauszüge der letzten drei Monate einzureichen. Nach einem Aktenvermerk des Beklagten vom [X.] hatte die Klägerin auf dieses Schreiben telefonisch mitgeteilt, dass [X.] seine Unterlagen nicht vorlegen wolle, da keine eheähnliche Gemeinschaft zwischen ihnen bestehe.

2

Daraufhin hat der Beklagte mit Bescheid vom [X.] die Leistungen ab 1.10.2006 wegen Nichterfüllung der Mitwirkungspflicht nach §§ 60 ff [X.] eingestellt und den Bewilligungsbescheid ab dem 1.10.2006 aufgehoben. Den eingelegten Widerspruch hat der Beklagte nach einem Anhörungsschreiben zu einer Änderung der Rechtsgrundlage mit Widerspruchsbescheid vom [X.] zurückgewiesen. Der Bewilligungsbescheid sei zu Recht nach § 45 [X.] ([X.]) aufgehoben worden, da bei dessen Erlass nicht bekannt gewesen sei, dass die Klägerin und [X.] eine Bedarfsgemeinschaft bildeten. Die Klägerin habe nicht darlegen können, dass sie hilfebedürftig sei. Es sei davon auszugehen, dass die Bedarfsgemeinschaft in der Lage sei, den notwendigen Lebensunterhalt aus dem vorhandenen Einkommen zu bestreiten.

3

Auf ihre am [X.] erhobene Klage hat das Sozialgericht ([X.]) [X.] als Zeugen vernommen und die Klage abgewiesen (Urteil vom [X.]). Im von der Klägerin angestrengten Berufungsverfahren hat [X.] dem [X.] ([X.]) Einkommensunterlagen zugeschickt mit dem Hinweis, dass diese lediglich für das Gericht bestimmt seien. Daraufhin hat der Beklagte in der mündlichen Verhandlung vor dem [X.] hilfsweise beantragt, Beweis darüber zu erheben, dass [X.] im streitigen Zeitraum monatlich weiterhin 1700 Euro brutto an Einkünften gehabt habe, durch die von [X.] bei Gericht eingereichten Unterlagen und das Zeugnis des [X.] Das [X.] hat das Urteil des [X.] sowie den Bescheid vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids aufgehoben, weil die Voraussetzungen des § 45 [X.] nicht erfüllt seien (Urteil vom 13.6.2013). Der Beklagte trage die Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts nach der genannten Vorschrift und sei verpflichtet gewesen, die Auskünfte bei [X.] selbst unmittelbar nach § 60 Abs 4 [X.] einzufordern. Da der Beklagte dies unterlassen habe, "greife" sein in der mündlichen Verhandlung hilfsweise gestellter Beweisantrag nicht. Eine Leistungsentziehung gegenüber der Klägerin wegen fehlender Mitwirkung komme in einem solchen Fall nicht in Betracht; für die Annahme einer fehlenden Hilfebedürftigkeit sei der Beklagte mangels Umkehr der Beweislast beweispflichtig geblieben. Im Übrigen sei die Aufhebungsentscheidung nicht ausreichend iS von § 35 Abs 1 [X.] begründet worden, da lediglich von dem Vorliegen einer Bedarfsgemeinschaft ausgegangen worden sei; dies allein führe jedoch nicht zur Rechtswidrigkeit der bewilligten Leistungen.

4

Gegen dieses Urteil wendet sich der Beklagte mit seiner vom Senat zugelassenen Revision. Er rügt eine Verletzung von § 103 Sozialgerichtsgesetz ([X.]G), weil das [X.] dem hilfsweise gestellten Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt sei. [X.] sei insbesondere, dass das [X.] nicht mitgeteilt habe, warum es den Beweisantrag abgelehnt habe. Im Hinblick auf die Aktenlage sei die Tatsachenbehauptung aufgestellt worden, dass der geschiedene Ehemann der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum [X.] von 1700 Euro gehabt habe. Die Höhe seiner angenommenen Einkünfte ergebe sich aus den von ihm vorgelegten Unterlagen, wonach er zwischen November 2005 und April 2006 konstante Bruttoeinkünfte ("Festlohn") von 1700 Euro gehabt habe, teilweise zuzüglich Urlaubsgeld. Das [X.] habe, ausgehend von seiner Auffassung, dass ihm - dem Beklagten - die Beweislast für das Vorliegen der notwendigen Voraussetzungen einer Rücknahme des Leistungsbescheids, also insbesondere die mangelnde Hilfebedürftigkeit, oblegen habe, dem Beweisantrag nachgehen müssen. Außerdem verletze das Urteil des [X.] Bundesrecht, weil es die Voraussetzungen für eine Aufhebung nach § 45 [X.] mit Wirkung nur für die Zukunft verkannt habe.

5

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen [X.]s vom 13. Juni 2013 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des [X.] vom 21. Juli 2010 zurückzuweisen.

6

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

7

Sie hält das Urteil des [X.] für zutreffend. Dieses sei nicht vom Vorliegen einer Bedarfsgemeinschaft ausgegangen, weshalb das [X.] (B[X.]) über die Sache ohne Zurückverweisung an das [X.] abschließend entscheiden könne.

Entscheidungsgründe

8

Die zulässige Revision des Beklagten ist nur zum Teil begründet, insofern ist das Urteil des [X.] vom 13.6.2013 zu ändern (§ 170 Abs 2 Satz 1 [X.]G), im Übrigen ist die Revision als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 [X.]G).

9

Die Revision ist begründet und das Urteil des [X.] ist zu ändern, soweit in ihm der angefochtene Bescheid vom [X.] in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.] auch hinsichtlich des [X.] der Klägerin aufgehoben wurde. Die Berufung der Klägerin war hinsichtlich der vom Beklagten aufgehobenen Einzelansprüche des [X.] als unzulässig zu verwerfen, weil nur die anwaltlich vertretene Klägerin sich gegen den Bescheid gewandt hat, der [X.] an dem Klageverfahren von Anfang an nicht beteiligt war und die Übergangsfrist bis zum [X.] (vgl [X.] B 7b [X.] - [X.], 217 = [X.]-4200 § 22 [X.], Rd[X.]1) zur [X.] der Klageerhebung am [X.] abgelaufen war. Der Bescheid des Beklagten ist insoweit bestandskräftig geworden.

Im Verhältnis zur Klägerin ist die Revision des Beklagten unbegründet, weil die Voraussetzungen für die Rücknahme des [X.] vom [X.] durch den angefochtenen Bescheid vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.] nach § 45 [X.]B X nicht erfüllt sind.

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind neben dem Urteil des [X.], mit dem das für den Beklagten günstige Urteil des [X.] aufgehoben worden ist, der Bescheid des Beklagten vom [X.] in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.], mit dem die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts mit Wirkung ab dem 1.10.2006 eingestellt, der zuvor ergangene Bewilligungsbescheid vom [X.] für die Klägerin und ihren [X.] für die [X.] ab dem 1.10.2006 aufgehoben und ein gesonderter Bescheid hinsichtlich der Rücknahme der Bewilligung für den [X.]raum von Juli bis September 2006 sowie ein Erstattungsbescheid angekündigt worden sind. Sowohl die Klägerin als auch ihr minderjähriger [X.] waren in dem Bewilligungsbescheid namentlich im Rahmen einer Bedarfsgemeinschaft aufgeführt, gegen sie richtete sich sowohl der ursprüngliche Bescheid vom [X.] als auch der Widerspruchsbescheid vom [X.] (im Folgenden: Rücknahmebescheid).

2. Verfahrensrechtliche Hindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Gegen den genannten Rücknahmebescheid geht die Klägerin zu Recht mit einer reinen Anfechtungsklage nach § 54 Abs 1 Satz 1 Alt 1 [X.]G vor. Eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage war vorliegend nicht notwendig, denn wenn der Rücknahmebescheid durch das Gericht aufgehoben wird, bleibt es bei der ursprünglichen Leistungsbewilligung des Bescheids vom [X.] für den [X.]raum vom 1.10.2006 bis 31.12.2006.

3. Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom [X.] in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.] ist formell rechtmäßig. Insbesondere wurde die Klägerin im Laufe des Widerspruchsverfahrens zu einer Rücknahme nach § 45 [X.]B X gemäß § 24 [X.]B X angehört. Ebenso wenig fehlt es dem Bescheid iS von § 35 [X.]B X deshalb an einer Begründung, weil der Beklagte lediglich Ausführungen zum Vorliegen einer eheähnlichen Gemeinschaft gemacht hat und im Übrigen davon ausgegangen ist, die Bedarfsgemeinschaft sei in der Lage, den notwendigen Unterhalt aus vorhandenem Einkommen zu bestreiten. Selbst wenn diese Begründung unzureichend oder fehlerhaft ist, würde sich dies als bloßer Begründungsmangel oder Begründungsfehler bei einem gebundenen Verwaltungsakt nicht auf dessen formelle Rechtmäßigkeit selbst auswirken (vgl B[X.] Urteil vom 29.6.2000 - B 11 [X.] 85/99 R - B[X.]E 87, 8 = [X.]-4100 § 152 [X.] mwN).

4. Zutreffend hat das [X.] entschieden, dass die Feststellungen des Beklagten (zur Ermittlungspflicht des [X.] unter 5.) die aufgeführten [X.] nicht tragen. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob der Beklagte, der nach § 85 Abs 2 [X.]G iVm § 44b Abs 1 Satz 3 und § 6d [X.]B II für die Widerspruchsentscheidung zuständig war, im Rahmen seiner umfassenden Prüfungskompetenz (siehe nur [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 11. Aufl 2014, § 85 Rd[X.]a) die im Ausgangsbescheid vom [X.] angeführte Rechtsgrundlage im Widerspruchsbescheid durch eine andere Rechtsgrundlage ersetzen durfte. Jedenfalls liegen die Voraussetzungen von § 40 Abs 1 Satz 1 [X.]B II in der in der strittigen [X.] geltenden Fassung sowie von § 45 Abs 1 und Abs 2 Satz 3 [X.] 3 [X.]B X als der in dem Widerspruchsbescheid genannten Rechtsgrundlage für den in die Zukunft gerichteten Rücknahmebescheid nicht vor.

a) Nach § 45 Abs 1 [X.]B X darf ein begünstigender Verwaltungsakt, soweit er rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückgenommen werden. Nach § 45 Abs 2 Satz 3 [X.] 3 [X.]B X kann sich der Begünstigte dabei nicht auf sein Vertrauen auf den Bestand des Verwaltungsakts berufen, wenn er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts nach der genannten Vorschrift setzt nach deren systematischen Stellung im Gefüge der §§ 44 ff [X.]B X voraus, dass eine ursprüngliche Rechtswidrigkeit vorlag, der Verwaltungsakt also bereits im [X.]punkt seines Erlasses rechtswidrig war (stRspr, vgl nur B[X.] Urteil vom [X.] - [X.] [X.] 76/05 R - B[X.]E 96, 285 = [X.]-4300 § 122 [X.], Rd[X.]3; ebenso Schütze in von [X.]/Schütze, [X.]B X, 8. Aufl 2014, § 45 Rd[X.] 31 mwN).

Diese Voraussetzungen für eine Rücknahme des [X.] vom [X.] sind dem Bescheid vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids nicht zu entnehmen. Der Beklagte hat zur Begründung der Rücknahme in dem Widerspruchsbescheid ausgeführt, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Leistungen nach dem [X.]B II gehabt habe, weil sie nicht habe nachweisen können, dass sie hilfebedürftig nach § 9 [X.]B II gewesen sei, da sie mit ihrem früheren Ehemann eine Bedarfsgemeinschaft iS des § 7 Abs 3 [X.]B II gebildet habe. Die Klägerin könne sich nicht auf Vertrauen berufen, da ihr die näheren Umstände ihres Zusammenlebens bekannt gewesen seien.

Diese Begründung trägt indes nicht die Rücknahme der Leistungsbewilligung, weil es an einer entscheidenden Voraussetzung für eine solche Rücknahme fehlt. Notwendig für die Verneinung der Hilfebedürftigkeit ist in derartigen Konstellationen nicht nur das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft, sondern ebenfalls, dass innerhalb der Bedarfsgemeinschaft ein ausreichendes zu berücksichtigendes Einkommen erzielt wird (§ 9 Abs 2 [X.]B II). Zur Höhe des zu berücksichtigenden Einkommens hat der Beklagte aber keine Feststellungen in den angefochtenen Bescheiden getroffen und insbesondere nicht ein Auskunftsverlangen nach § 60 Abs 4 Satz 1 [X.]B II gegen den früheren Ehemann [X.] der Klägerin eingeleitet, sondern nur ausgeführt, es sei davon auszugehen, dass die Bedarfsgemeinschaft in der Lage sei, den notwendigen Lebensunterhalt aus dem vorhandenen Einkommen zu bestreiten. Dies war keine Feststellung aufgrund von Ermittlungen, sondern eine bloße Vermutung, auf die jedoch ein Rücknahmebescheid nicht gestützt werden kann.

b) Dass es Aufgabe des beklagten [X.] ist, alle Tatsachen zu ermitteln, die zum Erlass eines Verwaltungsakts notwendig sind, folgt aus dem in § 20 [X.]B X festgeschriebenen Untersuchungsgrundsatz, dessen Reichweite sich nach dem jeweiligen Gegenstand des Verwaltungsverfahrens richtet (vgl [X.] in von [X.]/Schütze, [X.]B X, 8. Aufl 2014, § 20 Rd[X.]). Es müssen somit alle Tatsachen ermittelt werden, die für die Verwaltungsentscheidung wesentlich im Sinne von entscheidungserheblich sind. Ein Absehen von Ermittlungen ist nur zulässig, wenn es auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt, sie offenkundig ist oder als wahr unterstellt werden kann oder das Beweismittel unerreichbar ist (siehe [X.], aaO, § 20 Rd[X.]5; [X.] in jurisPK-[X.]B X, 2013, § 20 Rd[X.]3).

Dementsprechend durfte es der Beklagte bei seiner Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 45 [X.]B X für eine Rücknahme des Leistungsbescheids vorlagen, nicht dahingestellt sein lassen, ob und ggf in welcher Höhe Einkommen vorhanden war, das für die Deckung der Bedarfe der Bedarfsgemeinschaft ganz oder teilweise ausgereicht hätte. Im Ausgangspunkt noch zutreffend ist der Beklagte seiner Ermittlungspflicht hier insoweit nachgekommen, als er nach einem durchgeführten Hausbesuch und Abwägung weiterer Tatsachen, wie der [X.]dauer des Zusammenlebens der Klägerin und des [X.] und der Übernahme finanzieller Forderungen, zu der Folgerung gelangt ist, dass zwischen der Klägerin und dem [X.] eine eheähnliche Gemeinschaft und eine Bedarfsgemeinschaft vorgelegen habe. Es kam dann bei der folgenden Prüfung aber nicht - wie der Beklagte im Widerspruchsbescheid nochmals ausgeführt hat - darauf an, ob die Klägerin ihre Hilfebedürftigkeit darlegen konnte, sondern in der Rücknahmesituation war der Beklagte gehalten, die erforderlichen Ermittlungen zum zu berücksichtigenden Einkommen und der sich daraus ergebenden Folgen für die Hilfebedürftigkeit der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft anzustellen, wozu er zunächst das angesprochene Verfahren nach § 60 Abs 4 Satz 1 [X.]B II gegenüber dem [X.] hätte einleiten müssen.

c) Nach den allgemeinen Regeln für die Darlegungs- und Beweislast gilt, dass derjenige die objektiven Tatsachen darlegen muss, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen. Dies betrifft sowohl das Vorhandensein von positiven, als auch das Fehlen von negativen Tatbestandsvoraussetzungen (vgl allgemein bereits B[X.] Urteil vom 24.10.1957 - 10 RV 945/55 - B[X.]E 6, 70). Damit trägt der Beklagte nicht nur die objektive Beweislast für die belastende Rücknahmeentscheidung (siehe nur B[X.] Urteil vom 13.9.2006 - B 11a [X.] 13/06 R - Rd[X.]8; B[X.] Urteil vom [X.] - [X.]/7 [X.] 102/04 R - [X.]-1500 § 103 [X.] Rd[X.]3 ff; B[X.] Urteil vom [X.] - [X.] U 25/07 R - [X.]-1300 § 45 [X.] 8), sondern er ist bereits im vorherigen Verfahrensstadium verpflichtet, die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Norm, auf die er seine Verwaltungsentscheidung stützt, zu ermitteln und entsprechend festzustellen, damit sich der Leistungsberechtigte im Verfahren mit seiner Argumentation auf die die Entscheidung tragenden Gründe einrichten kann.

Das ist auch ausnahmsweise deshalb nicht unbeachtlich, weil von Ermittlungen abgesehen werden konnte, da die ungeklärte Tatsache nicht oder nur unter unzumutbar erschwerten Bedingungen zu erreichen war. Vielmehr stand dem Beklagten gerade für Sachverhalte wie dem vorliegenden, bei dem das Bestehen einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft bestritten wird und mit einer Weigerung des Partners, die geforderte Auskunft über die Einkommens- und Vermögenssituation zu erteilen, einhergeht (§ 60 Abs 4 [X.]B II), die Möglichkeit zur Verfügung, sich zur Ermittlung des Vorliegens der tatsächlichen Voraussetzungen des Leistungsanspruchs unmittelbar an den [X.] zu wenden. Der Beklagte kann auf der Grundlage des § 60 Abs 4 Satz 1 [X.] [X.]B II einen Verwaltungsakt erlassen und bei unterbliebener oder pflichtwidriger Erfüllung der Auskunftspflicht durch den [X.] die Rechte und Befugnisse nach den §§ 62 und 63 [X.]B II (Schadenersatz, Ordnungswidrigkeitenrecht) in Anspruch nehmen, zudem wäre ein vollstreckungsrechtlicher Zwangsgeldbescheid gemäß § 40 Abs 6 [X.]B II nach Erlass des Auskunftsverwaltungsakts gemäß § 60 Abs 4 [X.]B II zu erwägen (vgl [X.] in Eicher, [X.]B II, 3. Aufl 2013, § 60 Rd[X.]6 ff mwN).

5. Das [X.] war aufgrund seiner Amtsermittlungspflicht nach § 103 [X.]G nicht verpflichtet, die vom Beklagten unterlassene Ermittlung des zu berücksichtigenden Einkommens als Voraussetzung für seinen Rücknahmebescheid hinsichtlich des [X.] nachzuholen.

a) Die Gerichte sind grundsätzlich verpflichtet, den angefochtenen Verwaltungsakt in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend nachzuprüfen (vgl § 54 Abs 2 Satz 1, § 103 [X.]G); die beklagte Behörde kann deshalb im Laufe des Gerichtsverfahrens neue Tatsachen und Rechtsgründe "nachschieben" (stRspr: B[X.]E 3, 209, 216; B[X.]E 9, 277, 279 f; zuletzt etwa B[X.] Urteil vom 24.2.2011 - B 14 [X.]/09 R - B[X.]E 107, 255 = [X.]-4200 § 60 [X.]; vgl zudem B[X.] Urteil vom [X.] - B 11 [X.] 7/00 R - B[X.]E 87, 132, 139 = [X.]-4100 § 128 [X.]0 S 87 f: nicht nur "Kassation", sondern auch "[X.]"). Hinsichtlich eines solchen Nachschiebens von Gründen gibt es jedoch bei belastenden Verwaltungsakten, die im Wege der reinen Anfechtungsklage angefochten werden, Einschränkungen, wenn die Verwaltungsakte dadurch in ihrem Wesen verändert werden und der Betroffene infolgedessen in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt werden kann (B[X.]E 3, 209, 216; B[X.]E 9, 277, 279 f; B[X.]E 29, 129, 132; B[X.]E 38, 157, 159; B[X.]E 87, 8, 12; vgl [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 11. Aufl 2014, § 54 Rd[X.] 35 f mwN; Kischel, Folgen von Begründungsfehlern, 2004, 189 ff). Da die Aufrechterhaltung eines Verwaltungsakts mit einer völlig neuen tatsächlichen Begründung dem Erlass eines neuen Verwaltungsakts gleichkommt, würde das Gericht andernfalls entgegen dem Grundsatz der Gewaltentrennung (Art 20 Abs 2 Satz 2 Grundgesetz) selbst aktiv in das [X.] eingreifen (B[X.]E 9, 277, 280). Eine solche Änderung des "Wesens" eines Verwaltungsakts, das in Anlehnung an den Streitgegenstand eines Gerichtsverfahrens bestimmt werden kann (vgl dahingehend schon B[X.]E 9, 277, 280 sowie [X.]/[X.], VwGO, 21. Aufl 2015, § 113 Rd[X.] 69), ist ua angenommen worden, wenn die Regelung auf einen anderen Lebenssachverhalt gestützt wird, [X.] bei einem Streit um die Höhe einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung im Laufe des Gerichtsverfahrens ein weiteres Element der Rentenberechnung vom Rentenversicherungsträger in Abrede gestellt wird (B[X.]E 38, 157, 159; B[X.] [X.] 1500 § 77 [X.]6), oder wenn auf eine andere Rechtsgrundlage zurückgegriffen werden soll, die einem anderen Zweck dient (B[X.] Urteil vom 24.2.2011 - B 14 [X.]/09 R - B[X.]E 107, 255 = [X.]-4200 § 60 [X.], Rd[X.]6).

b) Neben dieser Entwicklung der Rechtsprechung hat der Gesetzgeber einerseits in § 41 Abs 2 [X.]B X die Heilungsmöglichkeiten für Verfahrens- und Formfehler der Behörde bei Erlass eines Verwaltungsakts bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines gerichtlichen Verfahrens erleichtert (vgl dazu kritisch und zum Verhältnis von Verwaltung und Gericht: Dolderer, [X.], 104 ff) und andererseits die Möglichkeit der Zurückverweisung vom Gericht an die Behörde eingeführt, wenn diese Ermittlungen unterlässt (§ 131 Abs 5 [X.]G), sowie dem Gericht das Recht eingeräumt, der Behörde die Kosten einer von ihr unterlassenen und vom Gericht nachgeholten Ermittlung aufzuerlegen (§ 192 Abs 4 [X.]G). Hierdurch sind die Heilungs- und Nachbesserungsmöglichkeiten der Behörde in formeller Hinsicht erweitert worden, während sie auf der anderen Seite ihre Ermittlungsarbeit nicht auf die Gerichte verlagern soll, weil diese für die materielle Entscheidung von zentraler Bedeutung ist und deren Kern und damit das Wesen des erlassenden Verwaltungsakts bestimmt. Ausgehend von diesen Konkretisierungen des Gesetzgebers und der zuvor dargestellten Rechtsprechung ist in reinen Anfechtungssachen das Nachschieben eines Grundes durch die Behörde regelmäßig unzulässig (vgl zur gesetzlich ausdrücklich angeordneten Pflicht der Gerichte zur Nachermittlung neuer Sachverhalte im Asylrecht etwa BVerwG Urteil vom 29.6.2015 - 1 C 2/15 - juris Rd[X.]4 f), wenn dieser umfassende Ermittlungen seitens des Gerichts erfordert, die Behörde ihrerseits insofern keine Ermittlungen angestellt hat und der Verwaltungsakt hierdurch einen anderen Wesenskern erhält, weil dann der angefochtene Verwaltungsakt - bei einem entsprechenden Ergebnis der Ermittlungen - mit einer wesentlich anderen Begründung bestand hätte (vgl Kischel, Folgen von Begründungsfehlern, 2004, 190 f).

c) Nach diesen Voraussetzungen zielte der Beweisantrag des Beklagten auf eine Wesensänderung des angefochtenen Rücknahmebescheids in der Gestalt des Widerspruchsbescheids ab, weil dieser ausschließlich auf das Vorliegen einer Bedarfsgemeinschaft zwischen der Klägerin und [X.] sowie die nicht nachgewiesene Hilfebedürftigkeit der Klägerin gestützt und mangels weiterer Ermittlungen des Beklagten zum Einkommen des [X.] offenkundig rechtswidrig war. Erst wenn das [X.] dem gestellten Beweisantrag des Beklagten zur Ermittlung des Einkommens des [X.] nachgekommen wäre, hätte das Gericht die Grundlagen für die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts legen können. Trotz des Zusammenhangs zwischen dem Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft und der Erzielung von Einkommen innerhalb der Bedarfsgemeinschaft nach § 9 Abs 2 [X.]B II sind es grundlegend verschiedene Prüfungspunkte, bei denen eigenständige Ermittlungen erforderlich sind, wie [X.] die Auskunfts- und Mitwirkungspflichten nach § 60 [X.]B II zeigen. Es handelt sich also nicht nur um eine Ergänzung des Sachverhalts, auf den der Beklagte seine Entscheidung gestützt hat, sondern um die umfassende Prüfung einer weiteren Voraussetzung für den angefochtenen Rücknahmebescheid, die der Beklagte bisher nicht beachtet hatte und deren Prüfung und Aufklärung in tatsächlicher Hinsicht in erster Linie von ihm durchzuführen war. Außerdem wären hierdurch die Verteidigungsmöglichkeiten der Klägerin erheblich erschwert worden, weil - zumal im Stadium des Berufungsverfahrens - die gesonderte Prüfung der Rechtmäßigkeit des Auskunftsverlangens seitens des Beklagten gegenüber ihrem geschiedenen Ehemann hinsichtlich des auf der Grundlage von § 60 Abs 4 Satz 1 [X.]B II zu führenden Verfahrens entfallen wäre. Im Rahmen einer Anfechtungsklage der vorliegenden Art ist es Aufgabe des Gerichts, die Entscheidung der Verwaltungsbehörde zu überprüfen, nicht aber die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts erst zu schaffen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 [X.]G.

Meta

B 14 AS 30/14 R

25.06.2015

Bundessozialgericht 14. Senat

Urteil

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Schleswig, 21. Juli 2010, Az: S 22 AS 1451/07, Urteil

§ 103 SGG, § 40 Abs 1 S 1 SGB 2, § 45 Abs 1 SGB 10, § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB 10, § 7 Abs 1 S 1 Nr 3 SGB 2, § 7 Abs 3 Nr 3 Buchst c SGB 2, § 9 Abs 1 SGB 2, § 9 Abs 2 S 1 SGB 2, § 11 Abs 1 S 1 SGB 2, § 60 Abs 4 S 1 Nr 1 SGB 2, § 20 Abs 1 SGB 10, § 41 Abs 1 Nr 2 SGB 10, § 41 Abs 2 SGB 10, § 131 Abs 5 SGG, § 192 Abs 4 SGG, Art 20 Abs 2 S 2 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 25.06.2015, Az. B 14 AS 30/14 R (REWIS RS 2015, 9096)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 9096

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