Bundessozialgericht, Urteil vom 03.09.2020, Az. B 14 AS 55/19 R

14. Senat | REWIS RS 2020, 2594

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

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Gegenstand

Grundsicherung für Arbeitsuchende - Hilfebedürftigkeit - Zusammenleben mit Verwandten in Haushaltsgemeinschaft - Vermutung von Unterstützungsleistungen - Einkommens- und Vermögensberücksichtigung - sozialgerichtliches Verfahren - Einbeziehung neuer Verwaltungsakte nach Klageerhebung


Leitsatz

1. Bei den in einer Haushaltsgemeinschaft vermuteten Unterstützungsleistungen handelt es sich (stets) um Einnahmen des - ansonsten - hilfebedürftigen Angehörigen.

2. Eine wechselseitige Vermögensberücksichtigung findet in einer Haushaltsgemeinschaft nicht statt.

3. Im Streit um die Höhe der zu bewilligenden Leistungen wird ein nach Klageerhebung ergehender Aufhebungs- und Erstattungsbescheid kraft Gesetzes Gegenstand des Klageverfahrens.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 14. November 2018 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Streitig sind die vollständige Rücknahme der [X.] für den Zeitraum 2.4. bis 30.9.2013 sowie die Festsetzung einer entsprechenden Erstattungsforderung durch das beklagte Jobcenter gegenüber der Klägerin.

2

Die Klägerin lebte zusammen mit ihrem Ehemann und zwei gemeinsamen Kindern. Ihr Ehemann stellte im Januar 2013 einen Antrag auf Leistungen nach dem [X.] Dabei verneinte er Fragen danach, ob Wertpapiere oder Bausparverträge bei den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft vorhanden seien. Er verstarb Ende März/Anfang April 2013; das genaue Todesdatum ist nicht bekannt. Der Beklagte bewilligte Leistungen ua für die Monate April bis September 2013, ohne in diesem Zeitraum Vermögen zu berücksichtigen (zuletzt mit Bescheiden vom 23.4.2013; Widerspruchsbescheid vom 10.6.2013).

3

Während des zunächst auf höhere Leistungen gerichteten Klageverfahrens vor dem [X.] hat der Beklagte durch einen Datenabgleich von einem im gesamten streitgegenständlichen Zeitraum vorhandenen Bausparvermögen der Tochter in Höhe von 5293,45 Euro sowie weiterem Vermögen der Klägerin erfahren. Nach dem Inhalt des [X.] unterhielt die Klägerin zudem ein Aktiendepot, von dem streitig ist, ob es dem Vermögen ihres [X.] zuzurechnen ist. Nach erfolgter Anhörung hat der Beklagte die Bewilligung von Leistungen für den Zeitraum 2.4. bis 30.9.2013 vollständig zurückgenommen und verlangt von der Klägerin eine Erstattung in Höhe von 3814,83 Euro (Bescheid vom 14.5.2014). Das [X.] hat die auf höhere Leistungen und auf Aufhebung des Bescheids vom 14.5.2014 gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 10.1.2017). Das L[X.] hat die zuletzt allein gegen die Rücknahme und Festsetzung der Erstattungsforderung gerichtete Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 14.11.2018). Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 14.5.2014 sei nach § 96 [X.]G Gegenstand des Klageverfahrens geworden. Die Klägerin sei nicht hilfebedürftig gewesen. Es könne offenbleiben, ob die Klägerin selbst über Vermögen, insbesondere in Form von Aktienvermögen, verfügt habe. Denn das Vermögen der Tochter übersteige die Freibeträge und sei der Klägerin über die Vermutungsregelung nach § 9 Abs 5 [X.]B II zuzurechnen. Die Klägerin habe mit ihrer Tochter in einer [X.] gelebt. Die Erbringung von Unterhaltsleistungen könne erwartet werden. Soweit das Bausparguthaben nicht geschützt sei, könne aus ihm der Bedarf der Tochter und der Klägerin gedeckt werden. Tatsachen, die geeignet seien, Zweifel an der Richtigkeit der Vermutung zu begründen, seien von der Klägerin nicht dargetan und auch sonst aus den Akten nicht ersichtlich. Die Klägerin könne sich nicht auf Vertrauensschutz berufen, weil sie sich die wissentlich falschen Angaben ihres verstorbenen Ehemannes zurechnen lassen müsse.

4

Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 9 Abs 5 und § 12 [X.]B II. Sie habe das Vermögen der Tochter nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts nicht für den eigenen Unterhalt verwerten dürfen. Im Übrigen sei eine Verwertung nicht erfolgt.

5

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des [X.] vom 14. November 2018 aufzuheben, das Urteil des [X.] vom 10. Januar 2017 zu ändern sowie den Bescheid des Beklagten vom 14. Mai 2014 aufzuheben.

6

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

7

Die zulässige Revision der [X.]lägerin ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das [X.] begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 [X.]). Auf der Grundlage der Feststellungen des [X.] kann der Senat nicht abschließend darüber entscheiden, ob die [X.]lägerin einen Anspruch auf [X.] hatte und der Aufhebungs- und [X.] deshalb rechtswidrig ist.

8

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid vom 14.5.2014. Streitbefangen ist der Zeitraum 2.4. bis 30.9.2013, weil die [X.]lägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem [X.] nur die Aufhebung des diesen Zeitraum regelnden Bescheids vom 14.5.2014 beantragt hat. Die [X.]lägerin verfolgt ihr Begehren zutreffend mit der reinen Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Var 1 [X.]).

9

2. Prozessuale Hindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Der nach [X.]lageerhebung ergangene Aufhebungs- und [X.] vom 14.5.2014 ist kraft Gesetzes Gegenstand des [X.]lageverfahrens geworden, weil er die ursprünglich streitgegenständlichen Bescheide vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.] ersetzt hat (§ 96 [X.]). Eine ggf unzutreffend erfolgte Einbeziehung eines Verwaltungsakts nach § 96 [X.] ist im Revisionsverfahren von Amts wegen zu berücksichtigen (BSG vom 9.12.2003 - B 2 U 54/02 R - [X.], 287 Rd[X.] = [X.]-2700 § 160 [X.] Rd[X.]7; [X.] in [X.]/[X.], [X.], § 96 RdNr 5a, Stand März 2019).

a) Nach § 96 Abs 1 [X.] (idF des [X.]/ArbGGÄndG vom [X.], [X.]) wird ein neuer Verwaltungsakt nur dann Gegenstand des [X.]lageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheids ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Die Vorschrift verfolgt die Ziele, eine schnelle, erschöpfende Entscheidung über das gesamte [X.] in einem Verfahren zu ermöglichen, divergierende Entscheidungen zu vermeiden und den [X.]läger vor Rechtsnachteilen zu schützen, die ihm daraus erwachsen, dass er im Vertrauen auf den eingelegten Rechtsbehelf bezüglich weiterer Verwaltungsakte rechtliche Schritte unterlässt (BT-Drucks 16/7716 S 18 f; zum Gesetzeszweck BSG vom 7.11.2017 - B 1 [X.]R 24/17 R - [X.], 251 = [X.]-2500 § 13 [X.], Rd[X.]2). Durch die im Jahr 2008 erfolgte Neuregelung ("nur dann") trat der Gesetzgeber einer extensiven Auslegung entgegen. Neue Verwaltungsakte sollen nicht schon deswegen in das Verfahren einbezogen werden, weil der neue Verwaltungsakt mit dem anhängigen Streitgegenstand in irgendeinem tatsächlichen oder rechtlichen Zusammenhang steht (BT-Drucks 16/7716 S 18 f).

Voraussetzung für die Anwendung des § 96 Abs 1 [X.] ist danach eine zumindest teilweise Identität der Regelungsgegenstände beider Verwaltungsakte, die ähnlich wie der Streitgegenstand durch einen Vergleich beider Verfügungssätze sowie des zugrunde liegenden Sachverhaltes zu ermitteln sind; ein bloßer Sachzusammenhang genügt nicht (vgl nur BSG vom 28.10.2014 - [X.] [X.]/13 R - [X.]-1300 § 44 [X.] Rd[X.]1 mwN).

b) Danach hat der Bescheid vom 14.5.2014, soweit er die (vollständige) Aufhebung der ursprünglichen Bewilligung von Leistungen verfügt hat, diese Bewilligungsentscheidungen ersetzt. Ein Bescheid, der eine angegriffene Leistungsbewilligung aufhebt, ersetzt diese iS des § 96 Abs 1 [X.] und wird deshalb Gegenstand des [X.]lageverfahrens (vgl nur BSG vom 17.12.2015 - [X.] [X.] 14/14 R - Rd[X.]1; [X.] in jurisP[X.]-[X.], 2017, § 96 RdNr 30; [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.], 13. Aufl 2020, § 96 RdNr 5). Die Bewilligungsentscheidung enthält nicht nur die Regelung, dass der [X.] zur Zahlung verpflichtet ist. Vielmehr enthält jede endgültige Bewilligung (in Abgrenzung zur vorläufigen Entscheidung nunmehr nach § 41a [X.]) zugleich die Regelung, dass der Leistungsempfänger die erhaltenen Zahlungen auch behalten darf. In diesem Sinne bildet die Bewilligungsentscheidung den von der materiellen Rechtslage unabhängigen Rechtsgrund für das Behaltendürfen der Leistung (vgl nur [X.] in [X.]/[X.], [X.], 9. Aufl 2018, § 35 Rd[X.]2; zur Abgrenzung gegenüber einer vorläufigen Entscheidung bereits BSG vom 17.10.1990 - 11 [X.] - [X.] 3-1300 § 45 [X.]), der durch die Aufhebung als genau gegenläufige Regelung beseitigt wird.

c) Neben der Aufhebung ändert auch der [X.], der hier entsprechend der Soll-Regelung des § 50 Abs 3 Satz 2 [X.] mit der Aufhebungsentscheidung verbunden worden ist, die Entscheidung über die Bewilligung ab. Dies hat das BSG bislang nur im Hinblick auf die Einbeziehung neuer Verwaltungsakte im Widerspruchsverfahren (§ 86 [X.]) entschieden (ausführlich BSG vom 28.8.2018 - [X.] [X.] 31/16 R - [X.]-1500 § 86 [X.] Rd[X.]5; kritisch hierzu Senger jurisP[X.]-[X.], § 86 RdNr 23.1, Stand 25.4.2019). Es gilt aber auch dann, wenn der [X.] erst im Laufe des [X.]lageverfahrens gegen die Bewilligung ergeht und damit der Anwendungsbereich des § 96 [X.] eröffnet ist. Ob § 96 [X.] auch dann Anwendung findet, wenn allein die Aufhebungsentscheidung angefochten ist und im Laufe dieses [X.]lageverfahrens der [X.] ergeht, ist vorliegend nicht entscheidungserheblich (hiergegen [X.], NZS 2011, 732, 734).

Dass im Streit über die Bewilligung neben der Aufhebung auch die Erstattungsfestsetzung in das [X.]lageverfahren einbezogen wird, folgt insbesondere aus dem Sinn und Zweck des § 96 [X.], über das gesamte [X.] in einem Verfahren zu entscheiden und divergierende Entscheidungen zu vermeiden. Hiermit stünde es im Widerspruch, wenn kraft Gesetzes allein der Aufhebungsbescheid, nicht aber der [X.] in das [X.]lageverfahren einbezogen wäre. Dem gesetzgeberischen Ziel, den Lebenssachverhalt einheitlich zu regeln, liefe dies zuwider. Daran ändert der Umstand, dass die Überprüfung der Rechtmäßigkeit des [X.]s in einzelnen Fällen eine eigenständige Prüfung erfordert, die über [X.] hinausgeht, nichts. Sollte eine Einbeziehung in das gerichtliche Verfahren verneint werden, würde sich zudem die Frage nach dem Erlass der Erstattungsforderung aus Gründen der sachlichen Unbilligkeit stellen (vgl § 44 [X.]; hierzu BSG vom [X.] - [X.] AS 15/17 R - [X.], 301 = [X.]-4200 § 40 [X.]4, RdNr 29), sollte der Aufhebungsbescheid später als rechtswidrig aufgehoben werden. Jedenfalls erscheint es schwer vorstellbar, dass die Behörde in einem solchen Fall unter Berufung auf seine Bestandskraft einen [X.] vollzieht, der materiell-rechtlich von dem Aufhebungsverwaltungsakt abhängig ist und dessen Wirksamkeit voraussetzt (vgl § 50 Abs 1 Satz 1 [X.]).

Der Wortlaut des § 96 [X.] steht der vorliegenden Auslegung nicht entgegen. Der hier streitgegenständliche Aufhebungs- und [X.] hat die ursprünglich streitgegenständlichen Bewilligungsentscheidungen insgesamt ersetzt. Einer entsprechenden Anwendung der Norm bedarf es nicht (gegen eine analoge Anwendung bei fehlender Teilidentität zuletzt BSG vom 24.6.2020 - B 4 AS 7/20 R - RdNr 20, vorgesehen für [X.]). Zwischen der Bewilligungsentscheidung [X.] und der Entscheidung über die Aufhebung und Erstattung andererseits besteht [X.] iS des § 96 [X.]; dies geht über einen bloßen Sachzusammenhang hinaus.

Bei dem Vergleich der den einzelnen Verwaltungsakten zugrunde liegenden Verfügungssätze ist zu beachten, dass die Rückforderung im Hinblick auf ihre verfügenden Anteile differenzierter geregelt ist als die Bewilligung, weil die Aufhebungsentscheidung einen Verwaltungsakt darstellt und der Erstattungsbetrag durch einen (weiteren) schriftlichen Verwaltungsakt festzusetzen ist (§ 50 Abs 3 Satz 1 [X.]), während sich an den Bewilligungsverwaltungsakt unmittelbar die Auszahlung als [X.] anschließt. Dieses gesetzliche Regelungskonzept dient Gründen der Rechtssicherheit (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zu einem Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - BT-Drucks 8/2034 [X.]). Die Frage, ob und inwieweit das sozialrechtliche Leistungsverhältnis rückabgewickelt wird, richtet sich aus Sicht des Betroffenen nicht allein anhand der Aufhebung der Bewilligung, die den Rechtsgrund für die Leistung beseitigt. Abschließend beantwortet wird sie erst mit der Festsetzung der zu erstattenden Leistung, die ihrerseits Leistungsbescheid für eine ggf einzuleitende Verwaltungsvollstreckung ist (vgl hierzu BSG vom 14.2.2018 - [X.] AS 12/17 R - [X.], 137 = [X.]-4200 § 44c [X.], Rd[X.]5; BSG vom 14.5.2020 - [X.] AS 28/19 R - vorgesehen für [X.] und [X.]).

3. Rechtsgrundlage des [X.] ist § 40 Abs 1 Satz 1, Abs 2 Nr 3 [X.] in der im Rücknahmezeitpunkt geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 13.5.2011 ([X.]; zur Maßgeblichkeit des im Zeitpunkt der Aufhebung geltenden Rechts vgl zuletzt BSG vom [X.] - [X.] AS 15/17 R - [X.], 301 = [X.]-4200 § 40 [X.]4, Rd[X.]0) iVm § 45 [X.] und § 330 Abs 2 [X.]I. Danach ist eine rechtswidrige begünstigende Bewilligung von Leistungen nach dem [X.] auch nach Unanfechtbarkeit mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn sie auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. Rechtsgrundlage der Erstattungsverfügung ist für die Leistungen für Regelbedarfe und Unterkunfts- und Heizkosten § 40 Abs 1 Satz 1 [X.] iVm § 50 Abs 1 Satz 1 [X.]. Die Erstattung der Beiträge zur [X.]rankenversicherung und Pflegeversicherung erfolgt nach § 40 Abs 2 Nr 5 [X.] iVm § 335 Abs 1 und Abs 5 [X.]I.

4. In formeller Hinsicht ist der Bescheid vom 14.5.2014 nicht zu beanstanden. Zutreffend ist das [X.] davon ausgegangen, dass die [X.]lägerin im Verwaltungsverfahren ordnungsgemäß angehört worden ist (§ 24 [X.] ).

5. Ob die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Rücknahme der [X.]-Bewilligungen wegen Rechtswidrigkeit im Zeitpunkt ihres Erlasses aufgrund fehlender Hilfebedürftigkeit der [X.]lägerin vorlagen, kann der Senat auf der Grundlage der Feststellungen des [X.] nicht abschließend entscheiden.

Rechtsgrundlage für die Bewilligung von [X.] an die [X.]lägerin ist § 19 iVm §§ 7, 9, 11, 20 ff [X.]; zuletzt in der Fassung des [X.] zum [X.] durch das Gesetz zur Änderung des [X.] und anderer Gesetze vom [X.] ([X.] 1167; zur Maßgeblichkeit des zum damaligen Zeitpunkt geltenden Rechts in Rechtsstreitigkeiten über schon abgeschlossene Bewilligungszeiträume - Geltungszeitraumprinzip - vgl BSG vom 19.10.2016 - [X.] [X.]/15 R - [X.]-4200 § 11 [X.] Rd[X.]5 mwN). Maßgebend für die Hilfebedürftigkeit der [X.]lägerin - die nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des [X.] die (weiteren) Grundvoraussetzungen des § 7 Abs 1 Satz 1 [X.] und keinen [X.] erfüllte - war danach § 9 Abs 1 [X.], wonach hilfebedürftig ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält.

Ob die [X.]lägerin ihren Lebensunterhalt in dem streitgegenständlichen Zeitraum durch zu berücksichtigendes Vermögen sichern konnte, kann nicht abschließend entschieden werden. Inwieweit sie selbst über Vermögen verfügte, hat das [X.] im Hinblick auf das [X.] ausdrücklich offengelassen. Vermögen ihrer Tochter kann bei der [X.]lägerin schon deshalb nicht gemäß § 9 Abs 2 [X.] und die insoweit geltenden Regelungen über die Vermögensanrechnung in einer Bedarfsgemeinschaft berücksichtigt werden, weil die gesetzliche Vorschrift eine Berücksichtigung des [X.]indesvermögens bei seinen Eltern innerhalb der Bedarfsgemeinschaft nicht zulässt. Insoweit kommt es auf die Frage, ob die Tochter Mitglied der Bedarfsgemeinschaft ist, nicht an.

6. Entgegen der Ansicht des [X.] entfiel eine Hilfebedürftigkeit der [X.]lägerin nicht deshalb, weil gemäß § 9 Abs 5 [X.] vermutet werden konnte, dass sie Leistungen von ihrer Tochter erhielt. Es kann im Ergebnis dahinstehen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Eintritt der gesetzlichen Vermutung vorliegend erfüllt sind (a). Nach dem vom [X.] festgestellten Sachverhalt ist die Vermutung jedenfalls widerlegt (b). § 9 Abs 5 [X.] bestimmt: "Leben Hilfebedürftige in [X.] mit Verwandten oder Verschwägerten, so wird vermutet, dass sie von ihnen Leistungen erhalten, soweit dies nach deren Einkommen und Vermögen erwartet werden kann."

a) Die Vermutung knüpft tatbestandlich an das Vorliegen einer [X.] mit Verwandten oder Verschwägerten (hierzu BSG vom 27.1.2009 - [X.] [X.]/08 R - [X.]-4200 § 9 [X.] Rd[X.]5 ff) an, ohne dass eine Bedarfsgemeinschaft zwischen den Angehörigen vorliegt (vgl zum Vorrang der Einkommens- und Vermögensberücksichtigung nach § 9 Abs 2 [X.] BT-Drucks 15/1516 [X.]; BSG vom [X.] - B 4 [X.]7/11 R - Rd[X.]7). Darüber hinaus setzt der Eintritt der Rechtsvermutung voraus, dass die Unterstützung des Hilfebedürftigen nach dem Einkommen und Vermögen des Angehörigen erwartet werden kann (so bereits die Begründung zum Entwurf eines [X.], [X.]/1799 [X.] zu der später in § 16 [X.] geregelten Vorläuferregelung des § 9 Abs 5 [X.], BT-Drucks 15/1516 [X.]). Diesem Tatbestandsmerkmal kommt eine Doppelfunktion zu (vgl [X.] in jurisP[X.]-[X.], 5. Aufl 2020, § 9 Rd[X.]60). Einerseits bestimmt es, wann die Annahme der Vermutung gerechtfertigt ist (vgl BSG vom 19.2.2009 - B 4 [X.]8/07 R - [X.] 102, 258 = [X.]-4225 § 1 [X.], Rd[X.]4; in diesem Sinne auch Ziffer 9.23 der Fachlichen Hinweise der [X.] zu § 9, Stand 20.6.2014). Andererseits bestimmt es den Umfang der vermuteten Unterstützungsleistungen.

Die gesetzliche [X.]onzeption bringt es mit sich, dass der Anwendungsbereich der Rechtsvermutung beschränkt ist. Steht fest, dass ein Hilfebedürftiger Unterstützungsleistungen erhält, sind diese ggf als Einkommen iS des § 11 [X.] zu berücksichtigen (BSG vom [X.] - [X.] AS 32/08 R - [X.]-4200 § 9 [X.] RdNr 20); einer Vermutungsregelung bedarf es nicht. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Steht fest, dass keine Unterstützung geleistet wurde, ist die Rechtsvermutung widerlegt. Nur wenn der Verbleib von Einkommen oder Vermögen unklar ist, hat § 9 Abs 5 [X.] eine rechtliche Bedeutung. Dann ist Raum für eine auf allgemeiner Lebenserfahrung gestützte Vermutung, wonach leistungsfähige Verwandte ihre hilfebedürftigen Angehörigen unterstützen, wenn "aus einem Topf" gewirtschaftet wird.

Es bedarf vorliegend keiner abschließenden Entscheidung, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 9 Abs 5 [X.] erfüllt sind. Insbesondere erscheint zweifelhaft, ob vorliegend erwartet werden kann, dass die [X.]lägerin aus dem Vermögen ihrer Tochter unterstützt wird. Hiergegen spricht zwar nicht schon, dass die [X.]lägerin keinen Unterhaltsanspruch gegenüber ihrer minderjährigen Tochter hat, weil sich § 9 Abs 5 [X.] gerade von unterhaltsrechtlichen Maßstäben löst (BSG vom 19.2.2009 - B 4 [X.]8/07 R - [X.] 102, 258 = [X.]-4225 § 1 [X.], RdNr 22). Dies ändert aber nichts daran, dass [X.]e Bindungen gleichwohl zu beachten sind. Die gesetzliche Regelung "erwartet" nicht, was [X.] nicht erlaubt ist. Deshalb sind im Hinblick auf die Frage, in welchem Umfang Unterstützungsleistungen erwartet werden können, die Grenzen der elterlichen Vermögenssorge (vgl § 1626 Abs 1 Satz 2 [X.]) zu beachten. Diese ist fremdnützige Verwaltung mit dem grundsätzlichen Ziel der Bewahrung des [X.]indesvermögens zum Nutzen des [X.]indes, weshalb es [X.] grundsätzlich als pflichtwidrig angesehen wird, wenn Eltern Geld des [X.]indes für eigene Zwecke gebrauchen (vgl nur [X.] in [X.], [X.], 2016, § 1642 RdNr 7, 11 mwN; [X.], [X.] 2015, 198, 199; vgl zu den Voraussetzungen für die Verwendung - lediglich - der Vermögenseinkünfte für den elterlichen Unterhalt auch § 1649 Abs 2 [X.]). Inwieweit ua dies dem Eintritt der Rechtsvermutung hier entgegensteht, bedarf keiner abschließenden Entscheidung, weil die Vermutung jedenfalls widerlegt ist.

b) Auf der Grundlage der vom [X.]n nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Tatsachenfeststellungen fehlt es an einem Erhalten von Leistungen der Tochter auf Seiten der [X.]lägerin.

Bei den in einer [X.] vermuteten Unterstützungsleistungen iS des § 9 Abs 5 [X.] handelt es sich (stets) um Einnahmen iS des § 11 [X.] des - ansonsten - hilfebedürftigen Angehörigen (vgl bereits BSG vom 19.2.2009 - B 4 [X.]8/07 R - [X.] 102, 258 = [X.]-4225 § 1 [X.], Rd[X.]8 - dort allerdings zu Einkommen und nicht zu Vermögen des Verwandten; [X.] in [X.]/[X.], [X.], [X.] § 9 Rd[X.]75, Stand August 2016; [X.] in jurisP[X.]-[X.], 5. Aufl 2020, § 9 Rd[X.]62; [X.]orte/[X.] in LP[X.]-[X.], 6. Aufl 2017, § 9 RdNr 56; [X.] in Eicher/[X.], 4. Aufl 2017, § 9 Rd[X.]02; [X.] in [X.], [X.], § 9 Rd[X.]4, Stand März 2016). Das Vermögen der Tochter als solches kann nicht als Vermögen der [X.]lägerin iS des § 12 [X.] berücksichtigt werden. Eine wechselseitige Vermögensberücksichtigung besteht nur innerhalb der Bedarfsgemeinschaft und ist im Verhältnis vom [X.]ind zu seinen Eltern im Übrigen ausgeschlossen (vgl § 9 Abs 2 Satz 2 [X.]). [X.] hat deshalb das [X.] das die Freibeträge übersteigende Vermögen der Tochter ohne Weiteres der [X.]lägerin zugeordnet und lediglich festgestellt, Tatsachen, die die Vermutung widerlegten, seien nicht ersichtlich.

Dem entspricht auch die Aussage des Senats in seinem Urteil vom [X.], dass es sich bei den Unterstützungsleistungen "in der Sache" um Einkommen iS von § 11 Abs 1 [X.] handelt (BSG vom [X.] - [X.] AS 32/08 R - [X.]-4200 § 9 [X.] Rd[X.]6), weil hiermit nur die dem § 9 Abs 5 [X.] eigentümliche [X.]onstruktion zusammengefasst wird, wonach auf Seiten des Angehörigen unter Umständen ein Einsatz von Vermögen (tatsächlich) erwartet wird und Folge des Eintritts der Rechtsvermutung ggf eine Berücksichtigung von Einkommen beim Hilfebedürftigen ist (vgl [X.] in [X.]/[X.], [X.], [X.] § 9 Rd[X.]76, Stand August 2016).

Dass es sich bei Leistungen nach § 9 Abs 5 [X.] um Einnahmen handelt, folgt aus dem Wortlaut, weil sich die Vermutung auf das Erhalten von (Unterhalts-)Leistungen bezieht, die Einkommen iS von § 11 Abs 1 [X.] sind. Hierfür spricht auch die Regelungsgeschichte. Nach § 16 [X.] als Vorläufervorschrift sollte öffentliche Hilfe erst geleistet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass Angehörige dem Hilfesuchenden den Lebensunterhalt nicht gewähren und sollte die Vermutungsregelung den Schluss zulassen, "ob und in welcher Höhe nach allgemeinen Lebenserfahrungen eine Unterhaltsleistung erwartet werden kann" ([X.]/1799 [X.]).

Hiermit korrespondiert, dass der leistungsfähige Angehörige nach § 9 Abs 5 [X.] nicht zu einem Vermögenseinsatz verpflichtet ist ([X.] in [X.]/[X.], [X.], [X.] § 9 Rd[X.]69, Stand August 2016; [X.] in jurisP[X.]-[X.], 5. Aufl 2020, § 9 Rd[X.]83; [X.]orte/[X.] in LP[X.]-[X.], 6. Aufl 2017, § 9 Rd[X.]3; [X.] in Eicher/[X.], [X.], 4. Aufl 2017, § 9 Rd[X.]02). Die Regelung vermutet eine Unterstützungsleistung und sie greift nicht, wenn es an dieser Unterstützung nachweisbar fehlt. Sie kann (naturgemäß) nicht den nicht hilfebedürftigen Angehörigen verpflichten, der an dem [X.] nicht teilhat und deshalb den Bindungen des [X.] nicht unterliegt, sofern sich dieses nicht, wie etwa nach § 60 [X.], Geltung für Dritte beimisst.

Voraussetzung für eine Widerlegung der Vermutung ist, dass die [X.]lägerin Tatsachen vorträgt, die geeignet sind, Zweifel an der Richtigkeit der Vermutung zu begründen (BSG vom 19.2.2009 - B 4 [X.]8/07 R - [X.] 102, 258 = [X.]-4225 § 1 [X.], Rd[X.]5; BSG vom [X.] - [X.] AS 32/08 R - [X.]-4200 § 9 [X.] Rd[X.]6). In dem Fall ist von Amts wegen zu ermitteln und Unterstützungsleistungen werden dann nicht berücksichtigt, wenn nachgewiesen ist, dass sie trotz entsprechender Leistungsfähigkeit tatsächlich nicht erbracht werden (BSG vom [X.] - [X.] AS 32/08 R - [X.]-4200 § 9 [X.] Rd[X.]6).

Nach diesen Maßstäben ist aufgrund der den Senat bindenden Feststellungen des [X.] (§ 163 [X.]) nachgewiesen, dass die Leistungen tatsächlich nicht erbracht wurden. Der [X.]ontostand des [X.] war über die gesamte streitbefangene Zeit unverändert und der Bausparvertrag im Übrigen nicht gekündigt worden. Der [X.] hat im Hinblick auf diese Feststellung keine zulässige Verfahrensrüge erhoben.

7. Aufgrund der Feststellungen des [X.] lässt sich nicht abschließend beurteilen, ob die [X.]lägerin einen Anspruch auf [X.] für den streitbefangenen Zeitraum hatte, weil es insbesondere darauf ankommt, ob das [X.] dem Vermögen der [X.]lägerin zuzuordnen ist. Dies hat das [X.] im Hinblick auf ggf notwendige weitere Ermittlungen ausdrücklich dahinstehen lassen.

Das [X.] wird auch über die [X.]osten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 14 AS 55/19 R

03.09.2020

Bundessozialgericht 14. Senat

Urteil

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Duisburg, 10. Januar 2017, Az: S 6 AS 2498/13, Urteil

§ 9 Abs 5 SGB 2, § 9 Abs 1 SGB 2, § 9 Abs 2 S 2 SGB 2, § 11 Abs 1 SGB 2, § 12 Abs 1 SGB 2, § 96 Abs 1 SGG, § 45 Abs 1 SGB 10, § 45 Abs 2 S 3 SGB 10, § 50 Abs 1 S 1 SGB 10, § 50 Abs 3 S 1 SGB 10, § 50 Abs 3 S 2 SGB 10

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 03.09.2020, Az. B 14 AS 55/19 R (REWIS RS 2020, 2594)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2594

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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