Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 15.12.2015, Az. VI ZR 6/15

VI. Zivilsenat | REWIS RS 2015, 707

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[X.]:[X.]:[X.]:2015:151215UVIZR6.15.0

BUN[X.]SGERI[X.]HTSHOF

IM NAMEN [X.]S VOLKES

Teil-Anerkenntnisurteil und URTEIL

VI [X.]
Verkündet am:

15. Dezember 2015

Böhringer-Mangold

Justizamtsinspektorin

als Urkundsbeamtin

der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit

Nachschlagewerk:
ja
[X.]Z:
nein
[X.]R:
ja
ZPO § 286 [X.]; [X.] § 1 Abs. 2, § 9 Abs. 5
Die für die Anwendung eines Anscheinsbeweises gegen einen Rückwärts[X.]den erforderliche Typizität des [X.] liegt regelmäßig nicht vor, wenn beim rückwärtigen Ausparken von zwei Fahrzeugen aus Parkbuchten eines Parkplatzes zwar feststeht, dass vor der Kollision ein Fahrzeugführer rückwärts gefahren ist, aber nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein Fahr-zeug im Kollisionszeitpunkt bereits stand, als der andere -
rückwärtsfahrende
-
Unfallbeteiligte mit seinem Fahrzeug in das Fahrzeug hineingefahren ist.

[X.], Urteil vom 15. Dezember 2015 -
VI [X.] -
LG [X.] (Oder)

[X.]

-

2

-

Der VI.
Zivilsenat des [X.] hat auf die mündliche Verhandlung vom
15.
Dezember 2015 durch den Vorsitzenden [X.], [X.], die Richterin von [X.], [X.] und die Richterin Dr.
Oehler
für Recht erkannt:
Auf die Revision des [X.] wird das Urteil der 6. Zivilkammer des [X.]s [X.] (Oder) vom 8.
Dezember 2014 aufge-hoben.
Die Beklagten werden unter teilweiser Abänderung des Urteils des [X.] vom 3. Juli 2014 als Gesamtschuldner

Im Übrigen wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entschei-dung, auch über die Kosten des [X.],
an das Be-rufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Tatbestand:
Der Kläger macht Schadensersatzansprüche nach
einem Verkehrsunfall am 6.
Juni 2013 auf dem Parkplatz eines Baumarktes geltend.
Der Kläger parkte mit seinem PKW rückwärts aus einer Parkbucht
aus. Es kam zu einem Zusammenstoß in der zwischen zwei Parkbuchtreihen befind-lichen Gasse mit dem bei der Beklagten zu
2 haftpflichtversicherten PKW des 1
2
-

3

-

Beklagten zu
1, der ebenfalls rückwärts aus einer gegenüberliegenden Park-bucht
herausfuhr. [X.] regulierte die Beklagte zu
2 die von ihr aner-kannten Schadenspositionen des [X.] im Umfang von 50
%. Der Kläger [X.] eine Erstattung von 100
% der von ihm angemeldeten
Schäden. [X.] macht er auch einen höheren als den erstatteten [X.] sowie nicht erstattete Kosten einer ergänzenden Stellungnahme des von ihm beauftragten Sachverständigen geltend.
Der Kläger hat behauptet, sein Fahrzeug habe nach dem Ausparken [X.] in Fahrtrichtung gestanden, als der Beklagte zu
1 mit seinem Fahrzeug in das stehende Fahrzeug hineingefahren sei. Die Beklagten haben behauptet, beide Fahrzeuge hätten sich im [X.]punkt des [X.] befunden.
Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Das [X.] hat die Be-rufung des [X.] zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelasse-nen Revision verfolgt der Kläger seine Ansprüche weiter.

Entscheidungsgründe:
I.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht dem Kläger über den von der Beklagten zu
2 regulierten Teilbetrag hinaus weder aus §
7 Abs.
1, §
17 Abs.
1,
2 [X.] noch aus §
823 Abs.
1 BGB, §
115 [X.]
ein weiterer [X.] zu. Das Amtsgericht sei zu Recht von einer Haftungsquote der am Unfall beteiligten Fahrzeuge von jeweils
50
% ausgegangen. Gemäß der in der obergerichtlichen Rechtsprechung überwiegend vertretenen Auffassung streite der aus §
9 Abs.
5 [X.] hergeleitete Anscheinsbeweis grundsätzlich 3
4
5
-

4

-

auch dann für ein Verschulden des [X.], wenn dieser zum Kollisi-onszeitpunkt bereits zum Stehen gekommen sei, gleichwohl aber
-
wie hier
-
ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang mit dem Zurücksetzen vorliege.
Danach komme es nicht darauf an, ob das
Fahrzeug
des [X.]
im rechten Winkel zu seiner Parkbucht
gestanden habe und das Beklagtenfahrzeug auf sein stehendes Fahrzeug aufgefahren sei.
Nicht zu beanstanden sei die vom Amtsgericht gemäß §
287 ZPO vorge-nommene Schätzung des [X.] des klägerischen Fahr-zeugs abzüglich des [X.] auf 730

Kosten des Ergänzungsgutachtens des vom Kläger beauftragten [X.] nicht als erstattungsfähig angesehen. Die alleinige Begutachtung des klägerischen Fahrzeugs sei wenig aussagekräftig gewesen und es komme auf die Frage, ob das klägerische Fahrzeug im Kollisionszeitpunkt gestanden habe, nicht an.

II.
Das angefochtene Urteil hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts streitet nach den bishe-rigen Feststellungen ein
Anscheinsbeweis nicht für ein (Mit-)Verschulden des [X.]. Nicht frei von [X.] sind auch die Ausführungen zur Schät-zung des Wiederbeschaffungsaufwands des klägerischen Fahrzeugs.
1. Die Revision ist unbeschränkt zulässig. Die Entscheidungsformel des Berufungsurteils enthält keinen Zusatz, der die dort ausgesprochene Zulassung der Revision einschränkt. Eine Beschränkung der Revisionszulassung ergibt sich auch nicht aus der vom Berufungsgericht genannten Begründung der Zu-6
7
8
-

5

-

lassung, eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung zur Haftungsverteilung bei Unfällen zwischen rückwärts [X.] PKW zu ermöglichen. Eine Be-schränkung der Revisionszulassung ist nur im Hinblick auf einen tatsächlich und rechtlich
selbständigen Teil des [X.] zulässig, nicht aber auf einzelne Rechtsfragen (vgl. [X.], Urteil vom 28. Oktober 2015 -
IV
ZR 526/14, [X.], 2292 Rn. 13; Beschluss vom 10. Februar 2011 -
VII
ZR 71/10, NJW 2011, 1228 Rn. 11 mwN).
Hier ergibt sich eine Beschränkung auf den [X.] nicht eindeutig aus der Benennung des [X.], zumal die angesprochene Rechtsfrage nach der Begründung des Berufungsurteils auch für den Ersatz der
im [X.] von den Beklagten anerkannten
Kosten des Ergänzungsgutachtens erheblich sein konnte.
2. [X.] nicht zu beanstanden ist
der Ausgangspunkt des
Berufungsgerichts,
wonach sowohl der Kläger als auch die Beklagten grund-sätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gemäß §
7 Abs.
1 [X.], §
115 Abs.
1 [X.] einzustehen haben, weil die Unfallschäden beim
Betrieb von
Kraftfahrzeugen
entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwend-bares Ereignis
im Sinne des §
17 Abs.
3 [X.] darstellte.
3. Im Rahmen der hiernach gemäß §
17 Abs.
1, 2 [X.] gebotenen Ab-wägung der beiderseitigen Mitverursachungs-
und Verschuldensanteile hat das Berufungsgericht jedoch rechtsfehlerhaft angenommen, dass der [X.] für ein Verschulden des [X.] spricht, obwohl nicht auszuschließen ist, dass das Fahrzeug des [X.] im [X.]punkt der Kollision bereits stand.
a) Die Regeln der Straßenverkehrsordnung ([X.]) sind auf dem -
hier vorliegenden
-
öffentlich zugänglichen Parkplatz grundsätzlich anwendbar
(vgl. [X.], Urteil vom 4.
März 2004 -
4 [X.], [X.], 128;
[X.] in Hent-9
10
11
-

6

-

schel/[X.]/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl., §
1 [X.] Rn.
15).
Teilwei-se wird hieraus gefolgert, §
9 Abs.
5 [X.], wonach sich der
Fahrzeugführer beim Rückwärtsfahren so verhalten muss, dass eine Gefährdung anderer [X.] ausgeschlossen ist,
und er sich erforderlichenfalls einweisen lassen muss, sei auch auf Parkplätzen unmittelbar anwendbar
(vgl. [X.], [X.], 559; [X.], Beschluss vom 21.
Januar 2009 -
10
S 107/08, juris Rn.
5; [X.], Urteil vom 11. November 2009 -
5
[X.]/09,
juris Rn. 13; [X.], Urteil vom 17.
Februar 2010 -
20
[X.] 389/09, juris Rn. 15). Die wohl überwiegende Auffassung stellt indes darauf ab, dass die Vorschrift primär dem Schutz des fließenden und deshalb typischerweise schnelleren Verkehrs dient und mithin bei einem [X.] nicht unmittelbar anwendbar ist (vgl. [X.], [X.], 84; [X.], NJW 2004, 2255, 2256; [X.], [X.], 432; [X.],
[X.], 152;
OLG [X.], NJW-RR 2015, 223
Rn.
29
ff.;
LG [X.], NJW-RR 2013, 541
f.; [X.], 520, 521; NJW-RR 2014, 1310; [X.], aaO, §
8 [X.] Rn.
31a mwN). Auf Parkplätzen ohne eindeutigen Straßencharakter sei anstelle des §
9 Abs.
5 [X.] das Gebot der allgemeinen Rücksichtnahme (§
1 Abs.
2 [X.]) zu [X.]. Danach muss sich ein Verkehrsteilnehmer so verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr als unvermeidbar behindert oder belästigt wird. Nach dieser Auffassung soll die Vorschrift des §
9 Abs.
5 [X.] bei [X.] auf Parkplätzen allerdings
mittelbar anwendbar oder deren Wertung im Rahmen der [X.] nach §
1
Abs. 2
[X.] zu berücksichtigen sein. Da auf Parkplätzen stets mit [X.] und [X.] zu rechnen sei, müssten Kraftfahrer hier so vorsichtig fahren, dass sie jederzeit anhalten könnten (vgl. [X.], [X.], 719; KGR
Berlin 2000, 401, 404
und VRS 104, 24, 26; [X.], [X.], 349,
350; [X.], [X.], 70, 71; LG [X.], NJW-RR 2012, 476, 477
und
NJW-RR 2013, 541, 542; [X.], [X.], 73, 77; [X.],
aaO, § 8 [X.] Rn. -

7

-

31a
und
§ 9
[X.]
Rn. 51). Das gelte
in besonderem Maße für den [X.] Verkehrsteilnehmer. Bei ihm sei
die besondere Gefährlichkeit des Rückwärtsfahrens
mit einzubeziehen, die wegen des eingeschränkten Sichtfel-des des [X.] für den rückwärtigen Verkehr bestehe. Entspre-chend der Wertung des § 9 Abs.
5 [X.] müsse
er sich deshalb so
verhalten, dass er sein Fahrzeug notfalls sofort anhalten könne
(vgl. LG [X.], NJW-RR 2012, 476, 477
mwN).
Der Senat schließt sich der zuletzt genannten Auffassung an. Sie wird den Unterschieden zwischen dem fließenden Verkehr einerseits und der besonderen Situation auf einem Parkplatz andererseits bes-ser gerecht.
b) Nach der Rechtsprechung zu §
9 Abs.
5 [X.] spricht der [X.] gegen den [X.], wenn es in einem engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Rückwärtsfahren zu einem Zusammen-stoß kommt (vgl. etwa OLGR
[X.]elle 2007, 585; [X.], [X.] 2010, 174; [X.], Urteil vom 27.
Mai 2010 -
10
U 4431/09, juris
Rn.
17
f.; LG [X.], [X.], 520, 521; Burmann in Burmann/[X.]/
[X.]/Janker, Straßenverkehrsrecht, 23.
Aufl., §
9 [X.] Rn.
69; [X.], aaO,
§
9 [X.] Rn.
55). Dieser
Grundsatz wird teilweise
-
wie auch im angefochtenen Urteil
-
auf Unfälle auf Parkplätzen übertragen. Dies
soll auch dann gelten, wenn der [X.] zum Unfallzeitpunkt bereits steht. Der [X.] soll erst entfallen, wenn der [X.] zum Unfallzeitpunkt längere [X.] zum Stehen gekommen war
(vgl. KG, [X.], 255; [X.], [X.], 123, 124; [X.], Urteil vom 27.
September 2005 -
5
S 58/05, juris
Rn. 14; [X.], [X.], 559; [X.], Beschluss vom 21.
Januar 2009 -
10
S 107/08, juris
Rn. 6; [X.], Urteil vom 11. November 2009 -
5 [X.]/09,
juris Rn.
13; Burmann, aaO,
Rn.
69; [X.],
aaO, §
9 [X.] Rn.
55; a.M. LG [X.], [X.], 520, 521 f.; [X.], [X.], 73, 77
ff.).
Dafür spreche, dass die mit der Rückwärtsfahrt typischerweise ver-12
-

8

-

bundenen Gefahren, die den Fahrzeugführer gemäß § 9 Abs. 5 [X.] dazu ver-pflichteten, eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen, nicht sogleich mit dem Stillstand des Fahrzeugs endeten und anderenfalls die [X.] von der Frage abhinge, ob es dem [X.] (zufällig) noch gelinge, sein Fahrzeug vor dem Zusammenstoß zum Stillstand zu bringen. Es bestehe
auch dann noch ein spezifischer Bezug zum Rückwärtsfahren, wenn das Fahrzeug erst kurzzeitig stehe. Wird das Fahrzeug vorwärts aus der Park-bucht
gefahren, bestehe
eine deutlich bessere und frühzeitigere Sichtmöglich-keit als dies beim Rückwärtsfahren der Fall sei (vgl. [X.], aaO; LG
Kleve, aaO; Nugel, [X.] 1/2010, [X.] 3).
c)
Die hieraus abgeleitete Anwendung des Anscheinsbeweises zu Lasten des [X.] steht nicht in Einklang mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats.
aa) Danach
setzt die Anwendung des Anscheinsbeweises auch bei [X.] voraus, bei denen sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluss aufdrängt, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt hat; es muss sich um Tatbestände handeln, für die nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch ist (vgl. Senatsurteile vom 30.
November 2010 -
VI
ZR 15/10, [X.], 234 Rn.
7; vom 13.
Dezember 2011 -
VI
ZR 177/10, [X.]Z 192, 84
Rn.
7 mwN). Demnach kann bei einem Unfall auf einem Parkplatz im Zusammenhang mit dem Rückwärtsfahren grundsätzlich der erste Anschein für ein Verschulden des [X.] sprechen. Es reicht [X.] allein das "Kerngeschehen"
-
hier: Rückwärtsfahren
-
als solches dann als Grundlage eines Anscheinsbeweises nicht aus, wenn weitere Umstände des [X.] bekannt sind, die als Besonderheiten gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen. Denn es muss das gesamte 13
14
-

9

-

feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür sein, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten im Rahmen des [X.], schuldhaft gehandelt hat. Ob der Sachverhalt in diesem Sinne im Einzelfall wirklich typisch ist, kann nur aufgrund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens beurteilt werden, die sich aus dem unstreitigen [X.] und den getroffenen Feststellungen ergeben (vgl. Senatsurteile vom 19.
November
1985
-
VI
ZR 176/84, [X.], 343, 344; vom 19.
März 1996
-
VI
ZR 380/94, [X.], 772; vom 13.
Dezember 2011 -
VI
ZR 177/10, aaO).
Zudem ist bei der Anwendung des Anscheinsbeweises grundsätzlich Zu-rückhaltung geboten, weil er es erlaubt, bei typischen Geschehensabläufen aufgrund allgemeiner Erfahrungssätze auf einen ursächlichen Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten zu schließen, ohne dass im konkreten Fall die Ursache bzw. das Verschulden festgestellt ist (vgl. Senatsurteil vom 13.
De-zember 2011 -
VI
ZR 177/10, aaO
Rn.
11; [X.], [X.], 129, 130; Hk-ZPO/
[X.], 6.
Aufl., §
286 Rn.
39; [X.]/[X.], ZPO, 31.
Aufl., vor §
284 Rn.
30c).
bb)
Nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen ist die Anwendung des Anscheinsbeweises gegen den [X.] auf einem Parkplatz nicht zu beanstanden, wenn feststeht, dass die Kollision beim Rückwärtsfahren des Verkehrsteilnehmers stattgefunden hat. Die geforderte Typizität liegt aber regelmäßig nicht vor, wenn zwar feststeht, dass -
wie hier
-
vor der Kollision ein Fahrzeugführer rückwärts gefahren ist, aber nicht ausgeschlossen werden kann, dass sein Fahrzeug im Kollisionszeitpunkt
bereits stand, als der
andere Unfallbeteiligte (hier:
Beklagter
zu 1)
mit seinem Fahrzeug in das stehende Fahrzeug hineingefahren ist. Denn es gibt keinen allgemeinen Erfahrungssatz, wonach sich der Schluss aufdrängt, dass auch der Fahrzeugführer, der sein Fahrzeug vor der Kollision auf dem Parkplatz zum Stillstand gebracht hat, die 15
-

10

-

ihn treffenden Sorgfaltspflichten verletzt hat. Anders als im fließenden Verkehr mit seinen
typischerweise schnellen Verkehrsabläufen, bei denen der Verkehrs-teilnehmer grundsätzlich darauf vertrauen darf, dass sein Verkehrsfluss nicht durch ein rückwärtsfahrendes Fahrzeug gestört wird, gilt in der Situation auf dem Parkplatz ein solcher Vertrauensgrundsatz nicht
(vgl. [X.], [X.], 123; [X.], aaO, § 8 [X.] Rn. 31a mwN). Hier muss der [X.] jederzeit damit rechnen, dass rückwärtsfahrende oder ein-
und auspar-kende Fahrzeuge seinen Verkehrsfluss stören. Er muss daher, um der Ver-pflichtung zur gegenseitigen Rücksichtnahme nach §
1 Abs.
1 [X.] genügen zu können, von vornherein mit geringer Geschwindigkeit und bremsbereit [X.], um jederzeit anhalten zu können (vgl. oben unter 3a). Hat ein Fahrer diese Verpflichtung erfüllt und gelingt es ihm, beim Rückwärtsfahren vor einer Kollisi-on
zum Stehen zu kommen, hat er grundsätzlich seiner Verpflichtung zum [X.] Anhalten genügt, so dass für den Anscheinsbeweis für ein Ver-schulden des [X.] kein Raum bleibt.
4. Nach den vorstehenden Ausführungen ist die Sache bereits wegen der fehlerhaften Anwendung des Anscheinsbeweises an das
Berufungsgericht zu-rückzuverweisen.
Für das weitere Verfahren weist der Senat insoweit darauf hin, dass auch dann, wenn der Beweis des ersten Anscheins nicht für ein Ver-schulden des [X.] spricht, die Betriebsgefahr seines Fahrzeugs und weitere Umstände, aus denen auf ein Verschulden des ursprünglich rückwärtsfahren-den [X.] geschlossen werden kann, im Rahmen der Abwägung berücksich-tigt
werden können.
5. Zudem sind aber auch die Ausführungen des Berufungsgerichts zur Schätzung des Wiederbeschaffungsaufwands des klägerischen Fahrzeugs nicht frei von [X.].
16
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-

11

-

Nach § 287 Abs. 1 Satz 2 ZPO steht allerdings der Umfang einer Be-weisaufnahme im Ermessen des Gerichts; es ist insoweit an Beweisanträge nicht gebunden. Das Revisionsgericht hat nur zu prüfen, ob das Gericht die Grenzen des Ermessens beachtet hat. Auch bei freier Überzeugungsbildung nach § 287 ZPO bedarf es aber, wenn auf Sachverständige verzichtet wird, der Ausweisung der entsprechenden Sachkunde des Gerichts. Das gilt auch, wenn das Gericht von den Feststellungen eines Sachverständigen abweichen will (vgl. Senatsurteil vom 15. März 1988 -
VI
ZR 81/87, [X.], 837, 838
mwN).
Hier verweist die Revisionsbegründung darauf, dass der vom Kläger [X.] Sachverständige in seinem Ergänzungsgutachten vom 6. August 2013 detailliert begründet hat, warum er einen höheren Wiederbeschaffungswert als die Beklagte und das Berufungsgericht angenommen hat. Er hat dabei auch darauf hingewiesen, dass die von der Beklagten vorgelegte Internet-Recherche, auf welche das Berufungsgericht seine Schätzung gründet, keine tragfähige Grundlage für eine Schätzung nach § 287 ZPO sei. Unter diesen Umständen

18
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-

12

-

durfte das Berufungsgericht nicht ohne Darlegung einer eigenen Sachkunde von der
Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens absehen.
Galke
[X.]
von [X.]

[X.]
Oehler

Vorinstanzen:
[X.], Entscheidung vom 03.07.2014 -
24 [X.] 29/14 -

LG [X.] (Oder), Entscheidung vom 08.12.2014 -
16 [X.]/14 -

Meta

VI ZR 6/15

15.12.2015

Bundesgerichtshof VI. Zivilsenat

Sachgebiet: ZR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 15.12.2015, Az. VI ZR 6/15 (REWIS RS 2015, 707)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 707

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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VI ZR 6/15

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