Bundesfinanzhof, Beschluss vom 04.04.2024, Az. V B 12/23

5. Senat | REWIS RS 2024, 1874

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Gegenstand

Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch das Finanzgericht (FG)


Leitsatz

NV: Hat das FG einen Zeugen zur mündlichen Verhandlung geladen und will es von der Vernehmung des Zeugen absehen, muss es die Beteiligten vor Erlass des Urteils unmissverständlich darauf hinweisen. Unterbleibt dieser Hinweis, verletzt das FG den Anspruch auf rechtliches Gehör.

Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des [X.] vom 24.01.2023 - 5 K 5166/20 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Tatbestand

I.

1

[X.]er Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) betrieb im Streitjahr 2016 ein …-Unternehmen und machte den Vorsteuerabzug aus Rechnungen der N-GmbH geltend, den der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt --[X.]--) im [X.] an eine Umsatzsteuersonderprüfung durch Erlass eines geänderten [X.] versagte. Einen nach § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung gestellten Änderungsantrag lehnte das [X.] ab. [X.]er hiergegen eingelegte Einspruch blieb ohne Erfolg.

2

Im finanzgerichtlichen Verfahren wurde der Zeuge [X.] durch Beweisbeschluss vom 17.11.2022 zur mündlichen Verhandlung geladen, um zu dem Beweisthema "…-[X.]ienstleistungen der N-GmbH an den Kläger im Zeitraum Januar 2016 bis einschließlich September 2016" auszusagen. Trotz ordnungsgemäßer Ladung erschien der Zeuge nicht. In der mündlichen Verhandlung beantragte der Kläger hilfsweise, den Zeugen [X.] erneut zur Verhandlung zu laden und zu dem bereits benannten Beweisthema einzuvernehmen.

3

Aufgrund der mündlichen Verhandlung wies das Finanzgericht ([X.]) die Klage zum Streitpunkt des Vorsteuerabzugs aus Leistungen der N-GmbH ab. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision, mit der er unter Bezugnahme auf den Beschluss des [X.] ([X.]) vom 19.09.2014 - IX B 101/13, [X.]/NV 2015, 214 rügt, dass das [X.] verfahrensfehlerhaft im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) vor Erlass des Urteils nicht mitgeteilt habe, dass es nicht mehr beabsichtige, dem Beweisbeschluss nachzukommen.

Gründe

II.

4

[X.]ie Beschwerde des [X.], die entgegen der Auffassung des [X.] den [X.]arlegungsanforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 [X.]O genügt, ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung gemäß § 116 Abs. 6 [X.]O.

5

1. [X.]er vom Kläger geltend gemachte Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O) liegt vor. Hat das [X.] einen Zeugen zur mündlichen Verhandlung geladen und will es von der Vernehmung des Zeugen absehen, muss es die Beteiligten vor Erlass des Urteils unmissverständlich darauf hinweisen. Unterbleibt dieser Hinweis, verletzt das [X.] den Anspruch auf rechtliches Gehör.

6

a) Nach ständiger BFH-Rechtsprechung entsteht durch einen (förmlichen) Beweisbeschluss eine Verfahrenslage, auf welche die Beteiligten ihre Prozessführung einrichten dürfen. Sie können grundsätzlich davon ausgehen, dass das Urteil nicht ergehen wird, bevor der Beweisbeschluss vollständig ausgeführt ist. Zwar ist das Gericht nicht verpflichtet, eine angeordnete Beweisaufnahme in vollem Umfang durchzuführen. [X.] es von einer (weiteren) Beweisaufnahme absehen, muss es aber vor Erlass des Urteils die von ihm durch den Beweisbeschluss geschaffene Prozesslage wieder beseitigen. [X.]azu hat es für die Beteiligten unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen, dass es den Beweisbeschluss als erledigt betrachtet (vgl. [X.] vom 19.09.2014 - IX B 101/13, [X.], 214, Rz 8; vom 11.10.2016 - III B 21/16, [X.], 315, Rz 11; vom 29.10.2015 - X B 55/15, [X.], 218, Rz 12 und vom 11.05.2015 - XI B 29/15, [X.], 1257, Rz 20). [X.]asselbe gilt, wenn kein Beweisbeschluss ergangen ist, sondern ein Zeuge gemäß § 79 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 [X.]O zur mündlichen Verhandlung geladen wurde, wie es hier der Fall war. Auch in einem solchen Fall können die Beteiligten grundsätzlich davon ausgehen, dass das Gericht die Zeugenvernehmung als erforderlich erachtet und kein Urteil erlässt, bevor diese durchgeführt worden ist. [X.] das Gericht von der Vernehmung eines geladenen und beispielsweise zum Termin nicht erschienenen Zeugen absehen, muss es die Beteiligten vor Erlass des Urteils unmissverständlich darauf hinweisen; es sei denn, das Gericht kann aufgrund besonderer objektiver Umstände ausnahmsweise davon ausgehen, dass sich die Beweisaufnahme auch aus Sicht der Beteiligten zweifelsfrei erledigt hat, ohne dass es eines entsprechenden gerichtlichen Hinweises bedürfte. Unterbleibt ein danach gebotener Hinweis, verletzt das [X.] den Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß § 96 Abs. 2 [X.]O und Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes ([X.] vom 19.09.2014 - IX B 101/13, [X.], 214, Rz 9 und 11 sowie vom 11.10.2016 - III B 21/16, [X.], 315, Rz 9 und 12). [X.]er Hinweis kann schriftlich oder in der mündlichen Verhandlung mündlich erteilt werden. Ein mündlich erteilter Hinweis ist als wesentlicher Vorgang der Verhandlung in das Protokoll aufzunehmen (§ 94 [X.]O i.V.m. § 160 Abs. 2 der Zivilprozessordnung --ZPO--).

7

b) [X.]as [X.] hat demnach dadurch den Anspruch des [X.] auf rechtliches Gehör (§ 96 Abs. 2 [X.]O) verletzt, dass es die Vorentscheidung erlassen hat, ohne die Beteiligten zuvor unmissverständlich darauf hingewiesen zu haben, dass es nicht mehr beabsichtige, den [X.] zu vernehmen, nachdem das [X.] den [X.] unter Angabe des [X.] zur mündlichen Verhandlung geladen hatte. [X.]er Kläger durfte deshalb davon ausgehen, dass das [X.] vor der Vernehmung des Zeugen kein Urteil erlassen werde. Ein schriftlicher Hinweis findet sich nicht in den Akten; ein mündlich erteilter Hinweis ist dem Protokoll nicht zu entnehmen. [X.]as Original des [X.] erbringt insofern auch den negativen Beweis (§ 94 [X.]O i.V.m. § 165 ZPO), dass der Hinweis unterblieben ist.

8

Ein unmissverständlicher Hinweis darauf, dass der Zeuge [X.] nicht mehr habe vernommen werden sollen, war auch nicht entbehrlich. Weder aus den Akten noch aus der Sitzungsniederschrift ist ersichtlich, dass es auch aus der Sicht der Beteiligten zweifelsfrei gewesen sei, dass sich die zunächst beabsichtigte Vernehmung des [X.] erledigt habe. [X.]ass dieser Zeuge zur mündlichen Verhandlung entschuldigt nicht erschienen war, begründete für sich genommen keine Erledigung einer Beweisaufnahme durch Vernehmung des Zeugen ([X.] vom 17.10.2013 - II B 31/13, [X.], 68, Rz 12).

9

c) Auf dem Verfahrensmangel kann das Urteil beruhen (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O). Bei Annahme einer Gehörsverletzung ergibt sich dies unmittelbar aus § 119 Nr. 3 [X.]O. Aber selbst, wenn § 119 Nr. 3 [X.]O nicht anwendbar wäre, ist das Beruhen zu bejahen, da hierfür die vorliegend zu bejahende Möglichkeit ausreicht, dass die Entscheidung bei Erhebung des Beweises anders ausgefallen wäre (vgl. [X.] vom 19.09.2014 - IX B 101/13, [X.], 214, Rz 13). [X.]abei berücksichtigt der Senat, dass das [X.] seine Entscheidung auch mit ernstlichen Zweifeln an der tatsächlichen Leistungserbringung begründet und den Kläger dabei zudem als "feststellungsbelastet" angesehen hat ([X.]-Urteil S. 8, zweiter Absatz). Insoweit besteht zumindest die Möglichkeit, dass eine Beweiserhebung zum Beweisthema "…-[X.]ienstleistungen der N-GmbH an den Kläger" zu einer anderen Beurteilung geführt hätte. Hat das [X.] somit --aufgrund der von ihm durch die Ladung geschaffenen [X.] die von ihm als entscheidungserheblich angesehene Leistungserbringung verfahrensfehlerhaft verneint, kommt es auf die weiteren Überlegungen des [X.] zur Unzulässigkeit eines Zeugenbeweises zu "materiellen Vorsteuerabzugsvoraussetzungen" nicht an.

d) [X.]er Kläger hat auch entgegen der Ansicht des [X.] nicht wirksam auf die Zeugenvernehmung des von ihm benannten [X.] verzichtet und kann sich deshalb auf den Verfahrensmangel berufen. Ein Rügeverzicht (entsprechend § 295 ZPO) kommt vorliegend bereits grundsätzlich nicht in Betracht, da die Beteiligten ohne einen ausdrücklichen Hinweis des Gerichts mit einem Wechsel in der erklärten Auffassung des Gerichts nicht zu rechnen brauchen (vgl. [X.] vom 19.09.2014 - IX B 101/13, [X.], 214, Rz 14). Zudem hat der Kläger ausdrücklich in der mündlichen Verhandlung hilfsweise die Vernehmung des [X.] beantragt, wie sich aus dem Sitzungsprotokoll ergibt.

2. Ob darüber hinaus ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht vorliegen könnte ([X.] vom 12.06.2012 - V B 128/11, [X.], 1804, Rz 9 und vom 24.07.2014 - V B 1/14, [X.], 1763, Rz 8 ff.), den das [X.] verneint, ist nicht zu entscheiden.

3. [X.]er Senat hält es für sachgerecht, nach § 116 Abs. 6 [X.]O zu verfahren, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen.

4. [X.]ie Übertragung der Kostenentscheidung auf das [X.] beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

V B 12/23

04.04.2024

Bundesfinanzhof 5. Senat

Beschluss

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 24. Januar 2023, Az: 5 K 5166/20, Urteil

§ 96 Abs 2 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 116 Abs 6 FGO, § 119 Nr 3 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 04.04.2024, Az. V B 12/23 (REWIS RS 2024, 1874)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2024, 1874

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