Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 15.11.2022, Az. 9 C 19/21

9. Senat | REWIS RS 2022, 9534

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Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des [X.] für das [X.] vom 29. Juni 2021 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Tatbestand

1

Der Kläger wendet sich als Testamentsvollstrecker des verstorbenen Grundstückseigentümers gegen die Heranziehung zu [X.] auf den Erschließungsbeitrag für die Herstellung der Erschließungsanlage F.weg im Abschnitt zwischen [X.] bis [X.] im Stadtgebiet der Beklagten.

2

Dem vormaligen Eigentümer gehörten die Grundstücke F.weg ... und ..., die beide direkt an der Straße liegen, sowie ein Flurstück, das rückwärtig an das erstgenannte Grundstück angrenzt.

3

Mit der Herstellung der Verkehrsfläche des [X.] wurde auf der Grundlage einer nicht förmlich von einem politischen Gremium der Beklagten beschlossenen [X.]zeichnung im Jahre 1963 begonnen. In den Jahren 1964 - 1972 traten verschiedene Bebauungspläne in [X.], die eine Verbreiterung des [X.] über die [X.]zeichnung hinaus vorsahen. Für den Gehweg auf der nordwestlichen Straßenseite im Bereich zwischen den Einmündungen der [X.] und der [X.] sah die [X.]ung einen 1,80 m breiten Gehweg vor. Tatsächlich wurde der Gehweg im Rahmen der Bauarbeiten bis 1966 etwa auf Höhe der Häuser Nr. 48 - 56 jedoch lediglich in einer Breite von 1,25 m hergestellt, in einigen Bereichen vor den Häusern Nr. 40 - 46 in noch geringerer Breite. Nachdem im Einmündungsbereich zur [X.] im Jahre 1987 noch Straßenbauarbeiten vorgenommen worden waren und die Bepflanzung der Grünbeete dort im Januar 1988 abgeschlossen war, ist der bauliche Zustand des [X.] seitdem unverändert.

4

Mit Schreiben vom 10. November 2017 hörte die Beklagte die Beitragspflichtigen zur Erhebung von [X.] auf den endgültigen Erschließungsbeitrag an. Die Erschließungsanlage sei bisher nicht entsprechend dem ursprünglichen [X.] fertiggestellt, es sei jedoch nunmehr beabsichtigt, die [X.]ung durch einen Beschluss der Bezirksvertretung an den vorhandenen Ausbau anzupassen.

5

Mit Bescheiden vom 20. Dezember 2017 zog die Beklagte den vormaligen Eigentümer zu [X.] auf den Erschließungsbeitrag heran, wobei sie für zwei Flurstücke bereits erbrachte [X.] anrechnete, sodass die [X.] auf insgesamt 10 383,22 € lauteten. Mit der dagegen erhobenen Klage wurde im Wesentlichen geltend gemacht, dass eine Beitragserhebung wegen Verjährung, Verwirkung und dem Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit ausgeschlossen sei. Nach dem Tod des Grundstückseigentümers nahm der Kläger den Prozess als ernannter Testamentsvollstrecker auf.

6

Mit Urteil vom 6. April 2020 hob das [X.] die [X.] auf, weil eine endgültige Beitragserhebung zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit nicht mehr möglich gewesen sei.

7

Das [X.] wies die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung der Beklagten mit Urteil vom 29. Juni 2021 zurück. Die [X.], die bei ihrem Erlass dem Grunde nach rechtmäßig gewesen seien, seien nachträglich rechtswidrig geworden, weil der Beitrag zum Zeitpunkt des Entstehens der sachlichen Erschließungsbeitragspflicht nicht mehr habe erhoben werden können. Damit sei der Rechtfertigungsgrund für die Vorausleistung entfallen. Das [X.] Kommunalabgabengesetz verstoße gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit, weil und soweit es nach dem Eintritt der [X.] eine zeitlich unbegrenzte Beitragserhebung erlaube. Die Verfassungswidrigkeit komme jedoch nicht entscheidungserheblich zum Tragen, weil jedenfalls mehr als 30 Jahre nach Eintritt der [X.] eine Erhebung von [X.] in analoger Anwendung von § 53 VwVfG [X.] in Verbindung mit dem Grundsatz von [X.] und Glauben unzulässig sei. Dies sei hier der Fall, weil die [X.] spätestens mit Abschluss der letzten Bauarbeiten im Januar 1988 eingetreten sei.

8

Gegen diese Entscheidung wendet sich die Beklagte mit ihrer vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision. Während des Revisionsverfahrens trat am 1. Juni 2022 das [X.] (BauGB-AG [X.]) vom 13. April 2022 (GV. [X.]. [X.]) in [X.], das mit dem neuen § 3 "Zeitliche Obergrenze für den Vorteilsausgleich von [X.] nach BauGB" Ausschlussfristen für die Erhebung von [X.] einführte.

9

Die Beklagte hält die Entscheidung des [X.] weiterhin für falsch und rügt insbesondere eine Verletzung der §§ 127 ff. BauGB in Verbindung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit, weil das Oberverwaltungsgericht im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung für den Eintritt der [X.] eine vollständige Umsetzung des Bauprogramms für nicht erforderlich erachtet habe. Zudem komme die angenommene Analogie zu § 53 VwVfG [X.] nicht in Betracht. Die Neuregelung des § 3 BauGB-AG [X.] habe keine Auswirkungen auf das vorliegende Verfahren. Es spreche schon einiges dafür, dass sie vorliegend nicht anwendbar sei, weil die Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung maßgeblich sein dürfte. Jedenfalls aber stehe sie der Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Bescheide nicht entgegen. Die in § 3 Abs. 2 BauGB-AG [X.] geregelte Ausschlussfrist sei nicht einschlägig, weil die [X.] erst mit Änderung der [X.]ung durch den Anpassungsbeschluss entstehen werde. Selbst wenn die Erhebung von [X.] infolge der Einführung des § 3 BauGB-AG [X.] nicht mehr möglich sein sollte, würde dies im Übrigen aufgrund der Regelung des § 3 Abs. 5 BauGB-AG [X.] nicht zur Rechtswidrigkeit der [X.] führen.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des [X.] für das [X.] vom 29. Juni 2021 und des [X.] vom 6. April 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angegriffene Entscheidung im Ergebnis für richtig. Die Neuregelung des § 3 BauGB-AG [X.] sei anwendbar, vorliegend greife jedenfalls die Ausschlussfrist des § 3 Abs. 2 BauGB-AG [X.] ein.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist unbegründet.

Mit Inkrafttreten der Neuregelung in § 3 des Gesetzes zur Ausführung des [X.]augesetzbuches in [X.] ([X.]), die auch dem vorliegenden Fall zugrunde zu legen ist (1.), ist zwar der entscheidungstragenden Argumentation des [X.] zum [X.]estehen einer [X.]widrigen Regelungslücke die Grundlage entzogen worden. Das Urteil erweist sich aber dennoch im Ergebnis als richtig, weil die angefochtenen [X.]escheide nunmehr wegen Eingreifens der Ausschlussfrist des § 3 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 [X.] rechtswidrig sind (2.); die Regelung über Vorausleistungen in § 3 Abs. 5 [X.] steht dem nicht entgegen (3.). Die Revision ist deshalb gemäß § 144 Abs. 4 VwGO zurückzuweisen.

1. Am 1. Juni 2022 ist das [X.] vom 13. April 2022 (GV. [X.]. [X.]) in [X.] getreten, durch das mit dem neuen § 3 [X.] eine Regelung über die "Zeitliche Obergrenze für den [X.] nach [X.]auG[X.]" eingeführt wurde. Die hier maßgeblichen [X.]estimmungen in § 3 Abs. 1 und 2 [X.] lauten (auszugsweise):

(1) Die Erhebung von [X.] nach § 127 des [X.]augesetzbuches ... durch die Gemeinden erfolgt auf der Grundlage des Kommunalabgabengesetzes für das [X.] ... mit der Maßgabe, dass ihre Festsetzung unabhängig vom Entstehen der [X.]eitragspflicht mit Ablauf des zehnten Kalenderjahres, das auf den Eintritt der [X.] folgt, ausgeschlossen ist.

(2)

Diese Neuregelung ist auch im vorliegenden Revisionsverfahren zu berücksichtigen.

Rechtsänderungen, die nach Erlass der [X.]erufungsentscheidung eintreten, sind im Revisionsverfahren dann beachtlich, wenn das [X.]erufungsgericht, entschiede es jetzt anstelle des [X.], sie seinerseits zu berücksichtigen hätte (stRspr, vgl. nur [X.]VerwG, Urteil vom 28. Juli 2016 - 7 C 7.14 - [X.] 451.91 Europ. [X.] Rn. 14 m. w. N.). Ob das der Fall ist, bestimmt sich unabhängig von der prozessualen Konstellation und der gewählten Klageart nach dem materiellen Recht. Dabei sind maßgeblich für die Entscheidung eines Gerichts diejenigen Rechtsvorschriften, die im Zeitpunkt der Entscheidung für die [X.]eurteilung des Klagebegehrens Geltung beanspruchen (vgl. [X.]VerwG, Urteile vom 3. November 1994 - 3 C 17.92 - [X.]VerwGE 97, 79 <81 f.> und vom 13. Mai 2009 - 9 C 7.08 - [X.] 401.61 Zweitwohnungssteuer Nr. 28 Rn. 19). Dies ist bei der vorliegend einschlägigen Ausschlussfrist des § 3 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 [X.] der Fall.

Die Fristenregelung in § 3 Abs. 2 [X.] findet ausdrücklich Anwendung auf noch nicht bestandskräftige [X.]bescheide (Satz 1) und erfasst [X.]n, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes bereits bestehen (Satz 2). Die damit verbundene Rückwirkung entspricht dem erklärten Willen des Gesetzgebers. Dieser wollte der Rechtsprechung des [X.] Rechnung tragen und den im [X.]eschluss vom 3. November 2021 - 1 [X.]vL 1/19 - ([X.] 159, 183) formulierten Anforderungen entsprechen, indem für das [X.] rückwirkend eine [X.]gemäße Rechtslage für alle noch nicht bestandskräftigen Entscheidungen hergestellt werden sollte (vgl. [X.]. 17/16553 S. 2, 9).

Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von § 3 Abs. 2 [X.] bestehen vor diesem Hintergrund nicht, die Rückwirkung der Regelung ist vielmehr [X.]rechtlich geboten (vgl. [X.], [X.]eschluss vom 3. November 2021 - 1 [X.]vL 1/19 - [X.] 159, 183 Rn. 92). Auch die Länge der Frist von 20 Jahren begegnet keinen [X.]edenken. Anknüpfungspunkt für den [X.]eginn dieser Frist ist, wie sich aus der Zusammenschau mit Absatz 1 ergibt, der Eintritt der [X.], so dass die Vorschrift entgegen den von der [X.]eklagten geäußerten [X.]edenken auch hinreichend bestimmt ist.

2. Die Entscheidung des [X.] erweist sich im Ergebnis als richtig, weil die angefochtenen [X.]escheide auch unter Zugrundelegung des § 3 [X.] rechtswidrig sind. Denn die Erhebung von [X.] ist nach § 3 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 [X.] ausgeschlossen. Die Annahme des [X.], dass die maßgebliche [X.] im Januar 1988 eingetreten ist (a), ist bundesrechtlich nicht zu beanstanden (b). Die zwanzigjährige Ausschlussfrist war daher bei Erlass der streitgegenständlichen [X.]escheide am 20. Dezember 2017 abgelaufen (c).

a) Mit der Neuregelung des § 3 [X.] hat der für die Festsetzung der Ausschlussfrist zuständige Landesgesetzgeber in [X.] jedenfalls für das [X.] die nach dem Gebot der [X.]elastungsklarheit und -vorhersehbarkeit [X.]rechtlich gebotene zeitliche [X.]egrenzung für die Erhebung vorteilsausgleichender kommunaler Abgaben geschaffen (vgl. dazu grundlegend [X.], [X.]eschluss vom 5. März 2013 - 1 [X.]vR 2457/08 - [X.] 133, 143). [X.] ist hier § 3 Abs. 2 [X.], der in Anknüpfung an den Eintritt der [X.] für "Altfälle", in denen bei Inkrafttreten der Regelung am 1. Juni 2022 [X.]bescheide noch nicht bestandskräftig waren (Satz 1) oder die [X.] bereits bestand (Satz 2), eine Frist von 20 Jahren nach Eintritt der [X.] bestimmt, nach deren Ablauf die Festsetzung von [X.] ausgeschlossen ist. Die Voraussetzungen dieser Regelung liegen vor, weil nach den zugrunde zu legenden Feststellungen des [X.] die [X.] im Januar 1988 eingetreten ist und die zwanzigjährige Ausschlussfrist daher bei [X.] im Jahr 2017 abgelaufen war.

aa) Das Oberverwaltungsgericht hat zur [X.]estimmung der [X.] zunächst auf die einschlägige Rechtsprechung des [X.] zurückgegriffen. Danach kommt es im [X.] für das Entstehen der für die zeitliche [X.]egrenzung der [X.]eitragserhebung relevanten [X.] maßgeblich auf die tatsächliche - bautechnische - Durchführung der jeweiligen Erschließungsmaßnahme an, nicht jedoch darauf, ob darüber hinaus auch die weiteren, für den [X.]etroffenen nicht erkennbaren rechtlichen Voraussetzungen für das Entstehen der sachlichen [X.]eitragspflicht - etwa die Widmung der Straße oder die Wirksamkeit der [X.]eitragssatzung - vorliegen. [X.]eurteilungsmaßstab dafür ist die konkrete Planung der Gemeinde für die jeweilige Anlage. Entscheidend ist, ob die Anlage sowohl im räumlichen Umfang als auch in der bautechnischen Ausführung nur provisorisch her- oder schon endgültig technisch fertiggestellt ist, d. h. dem gemeindlichen [X.]auprogramm für die flächenmäßigen und sonstigen Teileinrichtungen sowie dem technischen Ausbauprogramm vollständig entspricht (vgl. nur [X.]VerwG, [X.]eschlüsse vom 6. September 2018 - 9 C 5.17 - [X.]VerwGE 163, 58 Rn. 55 und vom 12. Dezember 2019 - 9 [X.] 53.18 - juris Rn. 7).

Diesen Maßstab hat das Oberverwaltungsgericht auch im vorliegenden Fall zugrunde gelegt, aber eine Ausnahme vom Erfordernis der vollständigen Erfüllung des [X.] unter dem Gesichtspunkt des Gebots der [X.]elastungsklarheit und -vorhersehbarkeit für geboten erachtet. Danach sei es unter dem [X.]lickwinkel der Erkennbarkeit ausreichend, wenn die unmittelbar in der [X.]satzung definierten Herstellungsmerkmale erfüllt seien, eine zweckentsprechende Anlagennutzung möglich sei, die Anlage aus Sicht eines objektiven [X.]etrachters endgültig fertiggestellt erscheine und ein solcher nur durch das Studium des unveröffentlichten [X.]auprogramms von der mangelnden Umsetzung Kenntnis erlangen könnte. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat das [X.]erufungsgericht im Streitfall bejaht.

bb) Diese Ausführungen beziehen sich zwar nicht unmittelbar auf die Auslegung und Anwendung des - zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht geltenden - § 3 [X.]. Der Sache nach geht es aber um die [X.]estimmung der [X.], die im Hinblick auf das Gebot der [X.]elastungsklarheit und -vorhersehbarkeit maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die [X.]estimmung einer zeitlichen Höchstfrist für die Erhebung von [X.] ist. Dies entspricht gerade der Funktion, die auch der [X.] im Anwendungsbereich des § 3 Abs. 1 und 2 [X.] nach dem Willen des Gesetzgebers zukommt. Dementsprechend hat das Oberverwaltungsgericht mittlerweile klargestellt, dass sein im vorliegenden Fall entwickeltes Verständnis vom [X.]egriff der [X.] auch im Rahmen von § 3 Abs. 2 [X.] gilt und die Abweichung von der vollständigen Erfüllung des [X.] den "Sonderfall geringfügiger Abweichungen vom [X.]auprogramm" betrifft ([X.], Urteil vom 14. September 2022 - 15 A 2834/17 - juris Rn. 65 f.).

Einen derartigen "Sonderfall" hat das Oberverwaltungsgericht hier angenommen und auf dieser Grundlage den Eintritt der [X.] im Januar 1988 festgestellt, weil das gemeindliche [X.]auprogramm zwar bis heute nicht vollständig verwirklicht und diese Planung auch nicht wirksam aufgegeben worden sei, aber die oben genannten Voraussetzungen für eine geringfügige Abweichung vorlägen.

b) Die Annahme des [X.], dass die [X.] trotz der Abweichung vom gemeindlichen Gestaltungsprogramm bereits im Januar 1988 eingetreten ist, ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.

aa) Der [X.]egriff der [X.] als Ausgangspunkt für die [X.]erechnung der landesrechtlichen Ausschlussfrist nach § 3 Abs. 1 und 2 [X.] ist im Gesetz nicht definiert; die Auslegung und Anwendung dieser landesrechtlichen Regelung obliegt grundsätzlich dem Oberverwaltungsgericht. Die revisionsgerichtliche Überprüfung ist darauf beschränkt, ob die Anforderungen, die sich aus dem [X.]undes([X.])recht ergeben, beachtet worden sind. Maßstab ist hier insbesondere das Verfassungsgebot der [X.]elastungsklarheit und -vorhersehbarkeit, dem die landesgesetzliche Regelung gerade Rechnung tragen soll.

Das im Rechtsstaatsprinzip und dem Grundsatz des Vertrauensschutzes wurzelnde Gebot der [X.]elastungsklarheit und -vorhersehbarkeit soll gewährleisten, dass in Fällen, in denen die abzugeltende [X.] in tatsächlicher Hinsicht eingetreten ist, die daran anknüpfenden [X.]eitragsansprüche aber wegen des Fehlens einer sonstigen Voraussetzung nicht entstehen und deshalb auch nicht verjähren können, die Möglichkeit der [X.]eitragserhebung gleichwohl zeitlich begrenzt ist. Maßgebend ist dabei der [X.]egriff der [X.]. Dessen nähere [X.]estimmung richtet sich nach der jeweils abzugeltenden Leistung, im [X.] also nach dem durch die Erschließung vermittelten Vorteil i. S. d. §§ 127 ff. [X.]auG[X.]; Anknüpfungspunkt ist dabei ein in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossener Vorgang ([X.], [X.]eschluss vom 3. November 2021 - 1 [X.]vL 1/19 - [X.] 159, 183 Rn. 68). Die [X.] muss an rein tatsächliche, für den möglichen [X.]eitragsschuldner erkennbare Gegebenheiten anknüpfen und rechtliche Voraussetzungen für das Entstehen der [X.]eitragspflicht außer [X.]etracht lassen. [X.]ei [X.]eachtung dieser Vorgaben steht den Fachgerichten im Rahmen der grundgesetzlichen [X.]indungen ein Spielraum zu, der in [X.]rechtlicher Hinsicht nur eingeschränkt überprüfbar ist ([X.], [X.]eschluss vom 3. November 2021 - 1 [X.]vL 1/19 - [X.] 159, 183 Rn. 69).

bb) Diesen Spielraum hat das Oberverwaltungsgericht hier im Ergebnis nicht überschritten.

Die oben zitierte, auch vom Oberverwaltungsgericht zugrunde gelegte Rechtsprechung des [X.], wonach es für das Entstehen der [X.] maßgeblich auf die tatsächliche bautechnische Durchführung der jeweiligen Erschließungsmaßnahme ankommt und die [X.] eingetreten ist, wenn dem gemeindlichen [X.]auprogramm und dem technischen Ausbauprogramm entsprochen wurde, ist vom [X.]undes[X.]gericht ausdrücklich gebilligt worden. Sie konkretisiert die Anforderungen an die Entstehung der erschließungsrechtlichen [X.] aus der Perspektive des Gebots der [X.]elastungsklarheit und -vorhersehbarkeit in [X.]rechtlich nicht zu beanstandender Weise ([X.], [X.]eschluss vom 3. November 2021 - 1 [X.]vL 1/19 - [X.] 159, 183 Rn. 71).

Mit dem Erfordernis der - vollständigen - Erfüllung des [X.]auprogramms greift die Rechtsprechung zur [X.]estimmung des relevanten abgeschlossenen Vorgangs auf den [X.]egriff der "endgültigen Herstellung" der Erschließungsanlage als Voraussetzung für die Entstehung der sachlichen [X.]eitragspflicht nach § 133 Abs. 2 Satz 1 [X.]auG[X.] zurück. Danach ist eine Anbaustraße erschließungsbeitragsrechtlich endgültig hergestellt, wenn sie die nach dem satzungsmäßigen [X.] (für die nicht flächenmäßigen Teileinrichtungen) und dem ergänzenden [X.]auprogramm (bezüglich der flächenmäßigen Teileinrichtungen) erforderlichen Teileinrichtungen aufweist und diese dem jeweils für sie aufgestellten technischen Ausbauprogramm entsprechen (vgl. nur [X.]VerwG, Urteil vom 10. Oktober 1995 - 8 C 13.94 - [X.]VerwGE 99, 308 <313>). Die vollständige Umsetzung des gemeindlichen [X.]auprogramms und des technischen [X.] ist eine Voraussetzung, die in tatsächlicher Hinsicht vorliegen muss, damit die Erschließungsanlage endgültig hergestellt und der durch sie vermittelte Vorteil tatsächlich vollumfänglich nutzbar ist. Vor diesem Hintergrund ist es sachgerecht, dass die Rechtsprechung auch den Eintritt der für die zeitliche [X.]egrenzung der [X.]eitragserhebung relevanten [X.] davon abhängig macht.

Zu diesem Grundsatz steht die Entscheidung des [X.] nicht im Widerspruch. Der Überlegung, dass die [X.] erst mit der vollständigen Umsetzung des gemeindlichen [X.]auprogramms eintritt, liegt die Erwartung zugrunde, dass bei etwaigen Abweichungen vom [X.]auprogramm grundsätzlich noch mit dessen zukünftiger Verwirklichung durch entsprechende Anpassung der tatsächlichen Verhältnisse an die Planung zu rechnen und der abweichende Zustand der Erschließungsanlage insoweit nur vorübergehender Natur ist. Anders liegt der Fall, wenn aufgrund des langen Zeitablaufs feststeht, dass mit einer Änderung nicht mehr gerechnet werden kann. In diesem Fall wächst die zunächst nur teilweise, unvollständig oder in anderer Weise planabweichend hergestellte Anlage in eine selbständige Erschließungsanlage hinein. In der Rechtsprechung des [X.] ist anerkannt, dass beitragsfähige Erschließungsanlage die Anlage in ihrem tatsächlich angelegten Umfang ist; maßgebend für die [X.]estimmung der Erschließungsanlage ist das durch die tatsächlichen Gegebenheiten geprägte Erscheinungsbild, nicht aber eine nur "auf dem Papier" stehende planerische Festsetzung (vgl. [X.]VerwG, Urteile vom 15. Februar 1991 - 8 C 56.89 - [X.]VerwGE 88, 53 <55 f.> und vom 25. Februar 1994 - 8 C 14.92 - [X.]VerwGE 95, 176 <185>). Der Umstand, dass eine Anlage über viele Jahre nicht weitergebaut wird, kann den Schluss rechtfertigen, dass die seinerzeitigen Ausbauarbeiten endgültig beendet worden sind (vgl. [X.]VerwG, Urteile vom 12. Mai 2016 - 9 C 11.15 - [X.]VerwGE 155, 171 Rn. 28, vom 22. November 2016 - 9 C 25.15 - [X.]VerwGE 156, 326 Rn. 26 und vom 7. März 2017 - 9 C 20.15 - [X.]VerwGE 158, 163 Rn. 14). Dass in einem solchen Fall die [X.] trotz Abweichung vom ursprünglichen [X.]auprogramm eintreten kann, hat auch das [X.]undes[X.]gericht anerkannt ([X.], [X.]eschluss vom 3. November 2021 - 1 [X.]vL 1/19 - [X.] 159, 183 Rn. 75). Maßgebend für diese Fallkonstellation ist, dass das ursprüngliche [X.]auprogramm tatsächlich aufgegeben worden ist. Der - hier beabsichtigte - [X.]eschluss, mit dem die Planung an den vorhandenen Zustand angepasst wird, würde dann nur noch zum Zweck der Abrechenbarkeit die bereits abgeschlossene tatsächliche Entwicklung nachvollziehen und den rechtlichen Schlusspunkt bilden.

cc) Nach den im Revisionsverfahren zugrunde zu legenden tatsächlichen Feststellungen des [X.] liegt hier eine solche Fallgestaltung vor. Danach hat sich seit Abschluss der Pflanzarbeiten im F.weg im Januar 1988 der Ausbauzustand der Erschließungsanlage nicht mehr verändert. Die [X.]eklagte selbst betrachtete den Ausbauzustand als für die Erschließung ausreichend und hielt den weiteren Ausbau für nicht durchsetzbar. Sie beabsichtigt deshalb, die Ausbauplanung durch einen [X.]eschluss der [X.]ezirksvertretung an den vorhandenen Ausbau anzupassen, eine Verwirklichung des vollständigen [X.]auprogramms kommt für sie nicht mehr in [X.]etracht.

Auf dieser Sachverhaltsgrundlage durfte das Oberverwaltungsgericht davon ausgehen, dass mit dem Abschluss der [X.]aumaßnahmen im Jahr 1988 die Herstellung der Erschließungsanlage in tatsächlicher Hinsicht endgültig abgeschlossen und die [X.] eingetreten war.

c) Ausgehend von einem Eintritt der [X.] im Januar 1988 ist die Ausschlussfrist des § 3 Abs. 2 [X.] mit Ablauf des zwanzigsten darauf folgenden Kalenderjahres und damit mit dem Ende des Jahres 2008 abgelaufen, so dass bei Erlass der streitgegenständlichen [X.] im Jahr 2017 die Erhebung von [X.] gemäß § 3 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 [X.] ausgeschlossen war. Dabei kann dahinstehen, ob auf [X.] § 3 Abs. 2 Satz 1 oder Satz 2 [X.] Anwendung findet.

3. Entgegen der Auffassung der [X.]eklagten steht § 3 Abs. 5 [X.] der Aufhebung der [X.] nicht entgegen. Die Vorschrift lautet:

(5)

Ungeachtet des Umstands, dass sich die [X.]estimmung ihrem unmittelbaren Aussagegehalt nach nur auf die Frage der Erstattung bereits geleisteter Vorausleistungen bezieht, kann sie mit [X.]lick auf das [X.]rechtliche Gebot der [X.]elastungsklarheit und -vorhersehbarkeit jedenfalls nicht den Erlass von [X.]n zu einem Zeitpunkt legitimieren, in dem die Ausschlussfrist des § 3 Abs. 2 [X.] bereits abgelaufen ist (vgl. [X.], [X.] 2022, 1 <5> und [X.] 2022, 101 <105 f.>; zu der als Vorbild von § 3 Abs. 5 [X.] dienenden [X.]estimmung des [X.]ayerischen Kommunalabgabengesetzes auch [X.], Urteil vom 16. November 2018 - 6 [X.]V 18.445 - juris Rn. 22 f.). Der Umstand, dass mit Ablauf der Frist die Erhebung von [X.] im Wege eines endgültigen [X.]eitragsbescheids ausgeschlossen ist, lässt sich nicht dadurch umgehen, dass stattdessen ein Vorausleistungsbescheid erlassen wird.

Ein Vorausleistungsbescheid kann nicht in einem weiteren Umfang die Erhebung von [X.] rechtfertigen, als es ein zum gleichen Zeitpunkt erlassener (endgültiger) Festsetzungsbescheid täte. Die Vorausleistung dient der Vorfinanzierung des gemeindlichen Aufwands und stellt eine vorläufige Leistung auf den Erschließungsbeitrag dar. Sie teilt das rechtliche Schicksal des eigentlichen [X.] insofern, als auch ihre Rechtsgrundlage entfällt, sobald feststeht, dass eine [X.]eitragspflicht endgültig nicht mehr entstehen kann ([X.]VerwG, Urteil vom 5. September 1975 - 4 C[X.] 75.73 - [X.] 406.11 § 133 [X.][X.]auG Nr. 55 S. 19). Kann ein [X.]eitragsbescheid aus Gründen der [X.]elastungsklarheit und -vorhersehbarkeit nicht mehr ergehen, gibt es keine Rechtfertigung, an seiner Stelle einen Vorausleistungsbescheid zu erlassen.

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Meta

9 C 19/21

15.11.2022

Bundesverwaltungsgericht 9. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 29. Juni 2021, Az: 15 A 1432/20, Urteil

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 15.11.2022, Az. 9 C 19/21 (REWIS RS 2022, 9534)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 9534

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1 BvR 2457/08

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