Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 30.09.2020, Az. 1 BvR 495/19

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2020, 3033

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art 101 Abs 1 S 2 GG) durch unhaltbare Verbescheidung eines Ablehnungsgesuchs - Gespräche in Sitzungspausen unter Anwesenheit weiterer Personen keine "Beratung" iSd § 193 GVG


Tenor

1. Der Beschluss des [X.] vom 17. Januar 2019 - 311 S 25/18 - verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Recht aus Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an das [X.] zurückverwiesen.

2. Das [X.] hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe

1

Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist eine Entscheidung über ein Befangenheitsgesuch in einer mietrechtlichen Streitigkeit.

2

Die Beschwerdeführer lehnten im Berufungsverfahren den Vorsitzenden [X.] und weitere Mitglieder der Kammer des [X.] wegen Befangenheit ab. Dabei beriefen sie sich auf Ablehnungsgründe, die sowohl im Rahmen des [X.] als auch in einem vorangegangen Verfahren entstanden seien. An beiden Verfahren waren die Beschwerdeführer, ihre Vermieterin sowie der Eigentümer einer weiteren im betroffenen Haus gelegenen Wohnung als Nebenintervenient beteiligt.

3

1. Zur Begründung führten die Beschwerdeführer unter anderem aus, dass sich die Mitglieder der Kammer in dem vorangegangenen Verfahren in einer ersten Sitzungsunterbrechung in spottender Art und Weise über den Beruf des Beschwerdeführers zu 1) unterhalten hätten. In einer zweiten Sitzungsunterbrechung hätten die Mitglieder der Kammer mit dem Nebenintervenienten über den Gegenstand des Verfahrens gesprochen und Ratschläge erteilt. Zur Glaubhaftmachung legten sie Niederschriften von [X.] vor, die sie ohne Zustimmung der übrigen Anwesenden in den zwei [X.] im Gerichtssaal gefertigt hatten. Während beider [X.] seien neben den Mitgliedern der Kammer zwei Schüler oder Studenten anwesend gewesen, in der zweiten Unterbrechung neben weiteren Personen auch der Nebenintervenient.

4

Die als befangen ablehnten [X.] gaben in ihren dienstlichen Erklärungen an, sich an keine Einzelheiten der mündlichen Verhandlung in dem vorangegangenen Verfahren zu erinnern.

5

2. Das [X.] wies das Befangenheitsgesuch mit angefochtenem Beschluss vom 17. Januar 2019 zurück. Die von den Beschwerdeführern vorgebrachten Befangenheitsgründe, die sich auf die Inhalte einer Beratung und ein nicht öffentlich geführtes Gespräch mit dem Nebenintervenienten bezögen, seien nicht geeignet, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit der abgelehnten [X.] zu begründen. Ob der Gesprächsinhalt zu einem Befangenheitsgrund führen werde, brauche nicht entschieden zu werden, weil er nicht glaubhaft gemacht sei. Die vorgebrachten Tatsachen seien in unzulässiger Weise durch eine heimliche Tonaufnahme erlangt worden und nach einer im Einzelfall vorzunehmenden Gesamtabwägung nicht verwertbar. Dem Interesse der Beschwerdeführer stehe ein höherwertiges Interesse der [X.], des Nebenintervenienten und vor allem das Interesse des Rechtsstaats an dem Funktionieren der Rechtspflege gegenüber. Insbesondere die Beschädigung, die die Rechtspflege erfahre, wenn heimlich aufgenommene Beratungen und Gespräche im Gerichtssaal verwertet werden dürften, lasse die Interessen der Beschwerdeführer zurückstehen. Das Verwertungsverbot führe zwar dazu, dass der Rechtsstreit von einem [X.] entschieden werde, der sich eventuell nicht neutral verhalten habe. Dem stehe aber eine eklatante Verletzung der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege gegenüber. Der Beratung komme in der Entscheidungsfindung eine überragende Bedeutung zu, sie unterliege der Geheimhaltungspflicht, solle die Einflussnahme Dritter ausschließen und setze daher grundsätzlich voraus, dass Beratung und Abstimmung in einem nicht öffentlich zugänglichen Raum stattfinden. In der Praxis werde dies vor Ort mangels entsprechender Räumlichkeiten oftmals dadurch erreicht, dass die Anwesenden gebeten werden, den Raum zu verlassen. Dies sei bei einer Verwertbarkeit von [X.] mit im Saal gelassenen technischen Geräten nicht mehr möglich.

6

1. Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Das [X.] setze sich in willkürlicher Weise über das Grundrecht auf den unbefangenen, unparteiischen gesetzlichen [X.] hinweg. Die Einordnung der aufgenommenen Gespräche als Beratung im Sinne des § 193 Abs. 1 [X.] widerspreche höchstrichterlicher Rechtsprechung. [X.], die in Ausübung ihres Dienstes handeln, könnten sich, wenn eine öffentliche Verhandlung im Sitzungssaal betroffen ist, nicht auf ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht zurückziehen. Die Rechtsauffassung des [X.] biete befangenen [X.]n zukünftig die Möglichkeit, sich unter Ausschluss einer Partei mit der Gegenseite im Sitzungssaal abzustimmen, deren Interessen wahrzunehmen, sie unter Verletzung rechtlichen Gehörs anzuhören sowie Hinweise zu geben und sich auf ein Verwertungsverbot zu berufen.

7

2. Die Justizbehörde Hamburg und die übrigen Beteiligten des [X.] hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Hiervon haben die Klägerin des [X.] und der Nebenintervenient Gebrauch gemacht. Die Kammer hat die Akten des [X.] beigezogen. Eine Entscheidung über die Berufung ist bislang nicht erfolgt.

8

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Das [X.] hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits geklärt (vgl. [X.] 138, 64 <86 ff. Rn. 70 ff.> m.w.N.). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]).

9

1. Der angegriffene Beschluss verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Das grundrechtsgleiche Recht auf den gesetzlichen [X.] garantiert, dass Rechtsuchende im Einzelfall vor einem [X.] stehen, der unabhängig und unparteilich ist und die [X.] und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet (vgl. [X.] 21, 139 <146>; 89, 28 <36>).

a) Eine Entziehung des gesetzlichen [X.]s im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch die Rechtsprechung, der auch die Handhabung des Ablehnungsrechts im Einzelfall obliegt, kann allerdings nicht in jeder fehlerhaften Rechtsanwendung gesehen werden (vgl. [X.] 82, 286 <299>; BVerfGK 5, 269 <280>; 12, 139 <143>). Die Grenzen zum Verfassungsverstoß sind aber jedenfalls dann überschritten, wenn die Auslegung einer Zuständigkeitsnorm oder ihre Handhabung im Einzelfall willkürlich oder offensichtlich unhaltbar sind oder wenn die richterliche Entscheidung Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt (vgl. [X.] 82, 286 <299>; BVerfGK 5, 269 <280>; 12, 139 <143 f.>).

b) Nach diesen Grundsätzen verstößt der angefochtene Beschluss gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Das [X.] hat bei der gebotenen Abwägungsentscheidung über die Verwertbarkeit der Sprachaufzeichnung (vgl. [X.] 106, 28 <49> m.w.N.) die Bedeutung und Tragweite des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkannt, indem es in [X.] aufgenommene Gespräche ohne die erforderliche Klärung der tatsächlichen Grundlagen und ohne Auseinandersetzung mit entgegenstehender höchstrichterlicher Rechtsprechung als Beratung im Sinne des § 193 [X.] eingeordnet (aa) und auf Grundlage dessen im Rahmen der Abwägung maßgeblich auf die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege abgestellt hat (bb).

aa) Angesichts der möglichen Anwesenheit von "Schülern oder Studenten" während der ersten Sitzungsunterbrechung und weiterer Personen während der zweiten Unterbrechung ist die Annahme des [X.], dass in den [X.] aufgenommene Gespräche eine Beratung im Sinne des § 193 Abs. 1 [X.] darstellten, offensichtlich unhaltbar.

Eindeutig keine Beratung im Sinne des § 193 Abs. 1 [X.] sind Gespräche der Kammer mit einer Partei. Das [X.] setzt sich zudem in tatsächlicher Hinsicht schon nicht mit der Frage auseinander, ob Schüler oder Studenten der Rechtswissenschaften in der ersten Sitzungsunterbrechung anwesend waren. Die Teilnahme von Schülern an einer Beratung ist jedoch von vorneherein ausgeschlossen (vgl. [X.], Beschluss vom 4. November 2004 - 1 [X.]/04 -). Das gleiche gilt für Studierende der Rechtswissenschaften, denn sie sind nach Rechtsprechung und überwiegender Ansicht in der Literatur keine "bei demselben Gericht zu ihrer juristischen Ausbildung beschäftigte Personen" im Sinne des § 193 Abs. 1 [X.], denen die Anwesenheit bei der Beratung gestattet ist, auch nicht während des nach § 5a Abs. 3 Satz 2 DRiG zu absolvierenden Gerichtspraktikums (vgl. [X.], Urteil vom 30. März 1995 - 4 StR 33/95 -, Rn. 4 ff.; Lückemann, in: [X.], ZPO, 33. Aufl. 2020, § 193 [X.] Rn. 4; [X.], in: [X.], [X.], 26. Aufl. 2010, § 193 [X.] Rn. 14; [X.], in: [X.] Kommentar zur ZPO, 5. Aufl. 2017, § 193 [X.] Rn. 4 m.w.N.; a.[X.], Beschluss vom 6. April 1998 - [X.] -; [X.], in: [X.]/Fichte, [X.], 2. Aufl. 2014, § 61 Rn. 65). Das Gericht lässt weder erkennen, dass es insoweit von der höchstrichterlichen Rechtsprechung und überwiegenden Meinung in der Literatur abweichen will (vgl. dazu [X.] 71, 122 <135 f.>; 81, 97 <106>), noch begründet es, warum Gespräche unter ungeklärt gebliebener Beteiligung von Schülern oder Studenten gleichwohl als Beratung im Sinne des § 193 [X.] eingeordnet werden können.

bb) Das [X.] durfte daher bei der vorzunehmenden Abwägung eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege nicht einstellen, denn diese war erkennbar nur mit dem heimlichen Abhören einer Beratung begründet. Auch die vom [X.] vorgenommenen Zweckmäßigkeitserwägungen, dass [X.] in der Praxis oftmals im Sitzungssaal stattfinden müssen, können das [X.] nicht tragen. Bei einer heimlichen Aufnahme von Beratungen unter Verstoß gegen § 193 Abs. 1 [X.] unterliegt die Abwägung anderen, hier nicht einschlägigen, Maßstäben. Denn in diesem Fall streiten nicht nur das allgemeine Persönlichkeitsrecht, sondern auch Art. 97 GG und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gegen eine Verwertung, weil § 193 [X.] der Sicherung des gesetzlichen [X.]s (vgl. [X.], in: [X.] Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Aufl. 2019, § 193 [X.] Rn. 1) und dessen Unabhängigkeit dient (vgl. [X.], Urteil vom 30. März 1995 - 4 StR 33/95 -, Rn. 8; vgl. auch Staats, in: Deutsches [X.]gesetz, 2012, § 43 Rn. 2). Dass die Rechtspflege auch durch heimliche Aufnahmen in [X.], in denen gerade keine Beratung stattfindet, vergleichbar beeinträchtigt werden kann, ist weder der Beschlussbegründung zu entnehmen noch liegt dies auf der Hand.

c) Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das [X.] ohne Berücksichtigung der durch die heimliche Aufnahme einer Beratung beeinträchtigten Funktionsfähigkeit der Rechtspflege zu einem anderen [X.] und letztlich auch zu einem anderen Ergebnis in der Sache gekommen wäre. Eine Abwägung nur zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der anwesenden Parteien, deren Anwälten, der anwesenden Schüler oder Studenten sowie der Mitglieder der Kammer einerseits und des für die Verwertung der Aufnahme sprechenden verfassungsrechtlich geschützten Interesses der Beschwerdeführer in der Form des Rechts auf den gesetzlichen [X.] andererseits kann dem angefochtenen Beschluss nicht entnommen werden. Zwar geht das Gericht davon aus, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht der [X.] und des Nebenintervenienten höher zu bewerten sei als das Interesse des Beschwerdeführers an der Aufnahme. Das Ergebnis seiner Abwägung stützt es aber - wenn nicht gar maßgeblich - auf die durch die heimliche Aufnahme gerade einer Beratung verletzte Funktionsfähigkeit der Rechtspflege, die so hier nicht vorliegt.

2. Die angegriffene Entscheidung ist gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 [X.] aufzuheben und zur erneuten Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen. Der Antrag der Beschwerdeführer auf Zurückverweisung an ein anderes [X.] ist abzulehnen. Nach § 95 Abs. 2 [X.] kommt eine Zurückverweisung an ein anderes zuständiges Gericht nur in Betracht, wenn dies zur Wahrung der materiellen Einzelfallgerechtigkeit erforderlich ist, um sachfremden Einflüssen auf das Verfahren vorzubeugen (vgl. [X.] 20, 336 <344>; 107, 104 <133>). Die von den Beschwerdeführern genannten Gründe bieten für eine solche Annahme keinen genügenden Anlass.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 [X.].

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 495/19

30.09.2020

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend LG Hamburg, 17. Januar 2019, Az: 311 S 25/18, Beschluss

Art 101 Abs 1 S 2 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 193 Abs 1 GVG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 30.09.2020, Az. 1 BvR 495/19 (REWIS RS 2020, 3033)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 3033

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

3 Ws 583/05 (Oberlandesgericht Hamm)


3 Ws 47/06 (Oberlandesgericht Hamm)


1 BvR 1858/14 (Bundesverfassungsgericht)

Erlass einer einstweiligen Anordnung: Teilweise Außervollzugsetzung einer sitzungspolizeilichen Anordnung bzgl Foto- und Filmaufnahmen in einer …


2 BvR 610/12, 2 BvR 625/12 (Bundesverfassungsgericht)

Nichtannahmebeschluss: keine Verletzung von Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten durch Geschäftsverteilung des BGH, in deren Rahmen …


2 BvR 1605/21 (Bundesverfassungsgericht)

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG) durch …


Referenzen
Wird zitiert von

101 AR 64/21

102 AR 84/22

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.