Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 23.05.2012, Az. 2 BvR 610/12, 2 BvR 625/12

2. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2012, 6157

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: keine Verletzung von Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten durch Geschäftsverteilung des BGH, in deren Rahmen dem Vorsitzenden des 4. Strafsenats zusätzlich der Vorsitz des 2. Strafsenats zugewiesen wurde


Gründe

I.

1

Die [X.] betreffen im Wesentlichen die Frage, ob die seit dem 1. Januar 2012 vorgesehene Besetzung des [X.]und 4. Strafsenats des [X.] mit dem Vorsitzenden [X.] am [X.] [X.] den Gewährleistungen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG genügt.

2

1. Nachdem die frühere Vorsitzende des 2. Strafsenats zum 31. Januar 2011 ruhestandsbedingt ausgeschieden war, nahm der stellvertretende Vorsitzende des 2. Strafsenats, [X.] am [X.] Prof. Dr. F., den Vorsitz im 2. Strafsenat vom 1. Februar 2011 bis zum 31. Dezember 2011 kommissarisch wahr. Aufgrund des bisher nicht abgeschlossenen Verfahrens über die Wiederbesetzung der vakanten Stelle einer Vorsitzenden [X.]in oder eines Vorsitzenden [X.]s am [X.] ist die Stelle weiterhin unbesetzt. Das Präsidium des [X.] beschloss am 15. Dezember 2011 über die Geschäftsverteilung für das [X.] und wies dem Vorsitzenden [X.] am [X.] [X.] - bis dahin und weiterhin Vorsitzender des 4. Strafsenats - zusätzlich den Vorsitz des 2. Strafsenats zu. Gleichzeitig wurde [X.] am [X.] Prof. Dr. S., der zuvor allein dem 2. Strafsenat zugeteilt war, mit 50 % seiner Arbeitskraft dem 4. Strafsenat zugewiesen.

3

2. a) Der Beschwerdeführer zu 1) wurde am 12. August 2011 durch das [X.] wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren und sechs Monaten, der Beschwerdeführer zu 2) am 29. September 2011 durch das [X.] wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt.

4

b) Die Revisionen der Beschwerdeführer verwarf der 2. Strafsenat jeweils unter Vorsitz des Vorsitzenden [X.]s am [X.] [X.] am 16. Februar 2012 nach § 349 Abs. 2 StPO durch unbegründeten Beschluss. Zu seiner Besetzung verwies der Senat auf seine Entscheidungen vom 11. Januar 2012 (2 [X.]) und 8. Februar 2012 (2 [X.]).

II.

5

1. Die Beschwerdeführer rügen im Wesentlichen eine Verletzung des materiellen Gewährleistungsgehalts des [ref=c22fcf76-5439-4c02-bd88-de686be26723]Art. 101 Abs. 1 Satz 2 [X.]] und des Justizgewährungsanspruchs, die insoweit einen Anspruch auf einen unabhängigen und unparteilichen [X.] begründeten. Die Zuweisung eines [X.]es an den Vorsitzenden [X.] am [X.] [X.], der nach dem Geschäftsverteilungsplan sowohl den Vorsitz des 2. als auch des [X.], beeinträchtige wegen der dadurch hervorgerufenen Überbelastung den Anspruch auf den gesetzlichen [X.]. Es liege - so der Beschwerdeführer zu 1) - nahe, dass der Schutzzweck des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auch dann verfehlt werde, wenn der Rechtssuchende vor einem [X.] stehe, der aus faktischen und rechtlichen Gründen nicht in der Lage sei, die ihm überantwortete Aufgabe verantwortungsvoll wahrzunehmen. Der Beschwerdeführer zu 2) stellt - letztlich durch einen Gesamtverweis auf die Entscheidung des 2. Strafsenats vom 11. Januar 2012 - 2 [X.] - hierzu im Wesentlichen darauf ab, dass die richterliche Unabhängigkeit nach Art. 97 GG Minimalbedingungen für eine freie Ausübung der richterlichen Tätigkeit fordere und dies sowohl Maßnahmen entgegenstehe, die den [X.] faktisch aus seiner Tätigkeit verdrängten, als auch solchen, die ihm ein Arbeitspensum zuwiesen, das sich in sachgerechter Weise nicht mehr erledigen lasse.

6

Der danach erforderlichen sachgerechten beziehungsweise verantwortungsvollen Wahrnehmung der übertragenen Aufgaben werde der Vorsitzende [X.] nur gerecht, wenn er dem gesetzlichen Leitbild entsprechend richtunggebenden Einfluss auf die Rechtsprechung des ihm anvertrauten [X.] nehmen könne. Mit diesen Anforderungen lasse sich der [X.] in zwei voll ausgelasteten Strafsenaten nicht vereinbaren. So setze ein richtunggebender Einfluss nach der auf das Strafrecht zu übertragenden zivilgerichtlichen Rechtsprechung voraus, dass der Vorsitzende mindestens 75 % der Aufgaben als Vorsitzender seines [X.] selbst wahrnehme. Gleichzeitig erfordere die übliche Arbeitsweise der Strafsenate in [X.] - bei der überwiegend nicht schriftlich votiert werde, sondern der Berichterstatter den zu entscheidenden Fall mündlich vortrage -, dass der Vorsitzende die (häufig umfangreichen) [X.] selbst lese, um sich dadurch eine eigene Ansicht von dem Verfahren und den anfallenden Rechtsfragen zu bilden und so in der Lage zu sein, den Berichterstatter kritisch zu hinterfragen. Bei zwei voll ausgelasteten Senaten begründeten diese Vorgaben ein theoretisches Arbeitspensum von wenigstens 150 %. Das überschießende Arbeitspensum werde weder durch die geringfügige Entlastung im 4. Strafsenat kompensiert noch könne es durch einen teilweisen Verzicht des Vorsitzenden auf das vollständige Studium der [X.] und eine Delegation an einen Zweitberichterstatter reduziert werden. Die Kenntnis des gesamten Streitstoffs sei unabdingbare Voraussetzung für die Leitung und Führung eines Strafsenats beim [X.].

7

Mit nachgereichtem Schriftsatz rügt der Beschwerdeführer zu 1) überdies eine zusätzliche Verletzung des materiellen Gewährleistungsgehalts des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dadurch, dass die richterliche Unabhängigkeit infolge einer Anhörung von (letztlich) drei Mitgliedern des 2. Strafsenats durch das Präsidium am 18. Januar 2012 nicht mehr gewährleistet sei.

8

2. Der Beschwerdeführer zu 2) beantragt weiter die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt S.

III.

9

Die [X.] sind nicht zur Entscheidung anzunehmen, da die Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 [X.] nicht vorliegen. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind beantwortet (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a [X.]). Die Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 [X.] genannten Rechte der Beschwerdeführer angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]), denn die [X.] haben keine Aussicht auf Erfolg (vgl. [X.] 90, 22 <24 ff.>).

1. Der im Geschäftsverteilungsplan des [X.] seit dem 1. Januar 2012 dem Vorsitzenden [X.] am [X.] [X.] zugewiesene Vorsitz des 2. und 4. Strafsenats verletzt weder den Anspruch der Beschwerdeführer auf den gesetzlichen [X.] aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG noch das Gebot effektiven Rechtsschutzes.

a) aa) Mit der Garantie des gesetzlichen [X.]s will Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG der Gefahr vorbeugen, dass die Justiz durch eine Manipulation der rechtsprechenden Organe sachfremden Einflüssen ausgesetzt wird. Es soll vermieden werden, dass durch eine auf den Einzelfall bezogene Auswahl der zur Entscheidung berufenen [X.] das Ergebnis der Entscheidung beeinflusst werden kann, gleichgültig, von welcher Seite eine solche Manipulation ausgeht (vgl. [X.] 17, 294 <299>; 48, 246 <254>; 82, 286 <296>; 95, 322 <327>). Damit soll die Unabhängigkeit der Rechtsprechung gewahrt und das Vertrauen der Rechtssuchenden und der Öffentlichkeit in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Gerichte gesichert werden (vgl. [X.] 4, 412 <416, 418>; 95, 322 <327>). Dieses Vertrauen nähme Schaden, müsste der rechtssuchende Bürger befürchten, sich einem [X.] gegenüberzusehen, der mit Blick auf seinen Fall und seine Person bestellt worden ist. Aus diesem Zweck heraus ergibt sich, dass von [X.] wegen allgemeine Regelungen darüber bestehen müssen, welches Gericht, welcher Spruchkörper und welcher [X.] zur Entscheidung des Einzelfalls berufen sind ([X.] 2, 307 <319 f.>; 19, 52 <60>; 21, 139 <145>; 95, 322 <327 f.>).

bb) Darüber hinaus hat Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nach der ständigen Rechtsprechung des [X.] auch einen materiellen Gewährleistungsgehalt, der dem rechtssuchenden Bürger im Einzelfall garantiert, vor einem unabhängigen und unparteilichen [X.] zu stehen, der die [X.] und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet ([X.] 4, 412 <416>; 21, 139 <145 f.>; 23, 321 <325>; 82, 286 <298>; 89, 28 <36>). Die sachliche Unabhängigkeit der [X.] wird durch die in Art. 97 Abs. 1 GG ausgesprochene Weisungsfreiheit verfassungsrechtlich garantiert (dazu [X.] 3, 213 <224>; 14, 56 <69>; 26, 186 <198>; 27, 312 <322>; 31, 137 <140>; 36, 174 <185>) und mit der in Art. 97 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten persönlichen Unabhängigkeit durch prinzipielle Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit abgesichert ([X.] 4, 331 <346>; 14, 56 <69 f.>; 14, 156 <162>; 17, 252 <259>; 87, 68 <85>).

b) Die verfassungsgerichtliche Prüfung ist vorliegend nicht darauf beschränkt, ob die Anwendung und Auslegung von Zuständigkeitsnormen willkürlich oder offensichtlich unhaltbar ist ([X.] 29, 45, <49>; 29, 198 <207>; 82, 159 <194>; 82, 286 <299>; [X.], 325 <336 f.>; 11, 62 <71>) oder die angegriffenen Entscheidungen Bedeutung und Tragweite der [X.]garantie grundlegend verkennen ([X.] 82, 286 <299>; [X.]K 7, 325 <336 f.>; 11, 62 <71>). Vielmehr sind die die Überprüfung des [X.] selbst betreffenden [X.] unmittelbar an den Gewährleistungen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu messen (vgl. [X.], Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 16. Februar 2005 - 2 BvR 581/03 -, juris, Rn. 22).

c) Nach diesen Maßstäben betrifft eine Überbeanspruchung eines einzelnen [X.]s oder eines [X.] - unabhängig davon, ob eine solche tatsächlich vorliegt - nicht den Anspruch auf den gesetzlichen [X.]. Soweit dem [X.] gestützt auf seine richterliche Unabhängigkeit aus Art. 97 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG ein Abwehrrecht gegen eine über- oder unterfordernde Einflussnahme bei der Zuweisung des Arbeitspensums eingeräumt wird, ist dieser Abwehranspruch von den subjektiven Gewährleistungen zugunsten des Rechtssuchenden aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu unterscheiden.

aa) Die Unabhängigkeit des [X.]s wird zum einen dadurch gesichert, dass der [X.] durch die Tätigkeitszuweisung des [X.] nicht gegen seinen Willen faktisch aus dem Amt verdrängt werden kann (vgl. [X.] 17, 252 <259>; [X.], Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 28. November 2007 - 2 BvR 1431/07 -, juris, Rn. 17). In entsprechender Weise kann sich der [X.] gegen eine Überbeanspruchung wehren.

bb) Die Überbeanspruchung eines [X.]s führt jedoch grundsätzlich nicht zu einem Verstoß gegen den materiellen Gewährleistungsgehalt des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Dem steht entgegen, dass eine dienstliche Überbelastung den [X.] nicht dazu zwingt, ein überobligatorisches Arbeitspensum zu erfüllen.

(1) Der vom [X.] zu leistende Arbeitseinsatz bestimmt sich grundsätzlich nach dem ihm verliehenen konkreten [X.]amt und den ihm in der richterlichen Geschäftsverteilung zugewiesenen Aufgaben (BVerwGE 78, 211 <213>). Allerdings sind auch [X.] nicht verpflichtet, sämtliche ihnen nach dem Geschäftsverteilungsplan übertragenen Aufgaben in vollem Umfang sofort und ohne Beschränkung ihres zeitlichen Einsatzes zu erledigen (vgl. [X.], Beschluss vom 14. November 2005 - 1 A 494/04 -, juris, Rn. 20; [X.], Beschluss vom 24. Februar 1992 - 1 W 2/92 -, juris, Rn. 11). Die Möglichkeit, die Arbeitszeit als Ausfluss der richterlichen Unabhängigkeit selbst zu gestalten - soweit die Anwesenheit in der Dienststelle nicht durch bestimmte Tätigkeiten (Beratungen, Sitzungsdienst, Bereitschaftsdienst usw.) geboten ist -, bedeutet nämlich nicht, dass ein [X.] zeitlich unbeschränkt zur Arbeitsleistung verpflichtet ist (BVerwG, Beschluss vom 21. September 1982 - 2 [X.]/82 -, juris, Rn. 3). Vielmehr orientiert sich die von einem [X.] zu erbringende Arbeitsleistung pauschalierend an dem Arbeitspensum, das ein durchschnittlicher [X.] vergleichbarer Position in der für Beamte geltenden regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit bewältigt (vgl. BVerwGE 78, 211 <213 f.>; BVerwG, Beschluss vom 21. September 1982 - 2 [X.]/82 -, nach juris, Rn. 3; vgl. auch [X.], Urteil vom 3. Dezember 2009 - [X.](R) 1/09 -, juris, Rn. 38).

Überschreitet das zugewiesene Arbeitspensum die so zu bestimmende Arbeitsleistung - auch unter Berücksichtigung zumutbarer Maßnahmen wie zum Beispiel eines vorübergehenden erhöhten Arbeitseinsatzes - erheblich, kann der [X.] nach pflichtgemäßer Auswahl unter sachlichen Gesichtspunkten die Erledigung der ein durchschnittliches Arbeitspensum übersteigenden Angelegenheiten zurückstellen. Die richterliche Unabhängigkeit bleibt dabei gewährleistet, indem der [X.] - nach entsprechender Anzeige der Überlastung - für die nach [X.] zurückgestellten Aufgaben und die dadurch begründete verzögerte Bearbeitung dienstaufsichtsrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden kann (vgl. [X.], Beschluss vom 24. Februar 1992 - 1 W 2/92 -, juris, Rn. 11; [X.], Beschluss vom 14. November 2005 - 1 A 494/04 -, juris, Rn. 22 ff.; vgl. auch [X.], Urteil vom 3. Dezember 2009 - [X.](R) 1/09 -, juris, Rn. 35).

(2) Ob sich ein überdurchschnittlich leistungsfähiger oder leistungsbereiter [X.] letztlich darauf beruft, nur mit einem durchschnittlichen Arbeitspensum belastet zu werden, oder sein erhöhtes Leistungsvermögen beziehungsweise seine erhöhte Leistungsbereitschaft zur Bewältigung etwaiger überobligatorischer Aufgaben einsetzt, ist diesem überlassen und seinerseits Ausfluss der richterlichen Unabhängigkeit. Auch wenn Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dem Rechtssuchenden die materielle Gewähr eines unabhängigen [X.]s bietet, macht ihn das nicht zum Interessenwalter des [X.]s und er kann nicht eine aus dessen Arbeitsbelastung abgeleitete Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit geltend machen.

cc) Zu trennen ist dieser Aspekt der richterlichen Unabhängigkeit von etwaigen Ansprüchen, die sich aus belastungsbedingten Erledigungsverzögerungen ergeben. Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, der aus dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch oder aus Art. 19 Abs. 4 GG herzuleiten ist und einen Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit umfasst (vgl. [X.] 54, 39 <41>; 88, 118 <123 f.>; Papier, in: [X.], 3. Aufl. 2010, § 176 Rn. 18, 21 f.; § 177 Rn. 90, 93; [X.], in: [X.], Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 19 Rn. 143 ff.), ist mit den dafür in der Rechtsordnung vorgesehenen Mitteln durchzusetzen.

d) Soweit die Beschwerdeführer ihre verfassungsrechtlichen Einwände darauf stützen, dass der richtunggebende Einfluss des Vorsitzenden [X.]s am [X.] [X.] infolge des ihm zugewiesenen [X.]es nicht mehr gewährleistet sei, kann dem nicht gefolgt werden.

aa) Es bedarf keiner Entscheidung, ob und inwieweit die Forderung nach richtunggebendem Einfluss des Vorsitzenden eines richterlichen [X.] verfassungsrechtlich gewährleistet oder lediglich dem einfachen Recht zuzuordnen ist (offen lassend auch [X.]K 3, 192 <197>, m.w.N.). Denn die Beschwerdeführer verkennen bereits die mögliche Tragweite eines entsprechenden [X.]gebots. Die [X.] fußen auf der Prämisse, dass zur Gewährleistung eines richtunggebenden Einflusses bestimmte qualitative Anforderungen an die Beratungsvorbereitung des Vorsitzenden zu stellen seien, die es erforderten, dass der Vorsitzende neben dem Berichterstatter die unter Umständen viele hundert Seiten umfassenden Revisionsunterlagen sorgfältig durcharbeite. Diese Prämisse vermischt die Anforderungen an die Berichterstattung, die Beratung und den Entscheidungsprozess in einem Spruchkörper einerseits mit der Leitungs- und Lenkungsfunktion des Vorsitzenden andererseits.

(1) Bei der Rechtsfindung im konkreten Fall sind Aufgabe, Leistung und Verantwortung aller Mitglieder des erkennenden Gerichts völlig gleich ([X.] 26, 72 <76>). Voraussetzung für jede Beratung und Entscheidung einer Kammer oder eines Senats ist deshalb, dass alle zur Entscheidung berufenen Mitglieder des [X.] - und nicht etwa nur der Berichterstatter und der Vorsitzende - Kenntnis des Streitstoffs haben.

Erfordert die Entscheidung im [X.] danach uneingeschränkt, dass bei der Beratung und Entscheidungsfindung alle Mitglieder des [X.] vollständig über den Sach- und Streitstand informiert sind, ist nicht ersichtlich, warum der Vorsitzende nicht auf dieser Informationsgrundlage seinen richtunggebenden Einfluss, durch den eine zusätzliche Gewähr für Güte und Stetigkeit der Rechtsprechung innerhalb der Spruchkörper geboten wird ([X.]St 2, 71 <72 f.>; 21, 131 <133>; 25, 54 <56>; [X.]Z 37, 210 <212>), einbringen könnte. Ein Vorsitzender soll aufgrund seiner Sachkunde, Erfahrung und Menschenkenntnis in der Lage sein, den richtunggebenden Einfluss durch geistige Überzeugungskraft auszuüben (vgl. [X.]Z 37, 210 <213>; [X.], Beschluss vom 26. November 1992 - 1 TG 1792/92 -, juris, Rn. 16). Die Fähigkeit des Vorsitzenden, auf die Rechtsprechung des ihm anvertrauten [X.] richtunggebenden Einfluss auszuüben, kann demgegenüber nicht von einer überlegenen inhaltlichen Kenntnis des konkret zur Entscheidung stehenden Falles abhängen.

(2) Davon zu unterscheiden ist die Frage, wie die einzelnen Mitglieder des [X.] die erforderliche Kenntnis des Streitstoffs erlangen. Hierzu enthalten weder das Verfahrens- noch das [X.]recht nähere Vorgaben. Die Entscheidung, ob der Spruchkörper sich mit Blick auf die Arbeitsteilung im Kollegium darauf beschränkt, durch den Berichterstatter über den maßgeblichen Sach- und Streitstand informiert zu werden, oder die Vollständigkeit und Richtigkeit des Berichterstattervortrags - allein darum geht es an diesem Punkt - dadurch sichert und verstärkt, dass ein, mehrere oder alle Mitglieder des [X.] sich den Streitstoff aus den Akten selbst erarbeiten, ist ihm überlassen und insoweit Ausfluss der richterlichen Unabhängigkeit. Diese gewährleistet die Freiheit von äußeren Einflüssen sowohl für die Entscheidung als auch den Entscheidungsprozess (vgl. [X.], in: [X.]/[X.], Grundgesetz (Mai 2008), Art. 97 Rn. 21; [X.], in: Dreier, Grundgesetz, 2. Aufl. 2008, Art. 97 Rn. 30; [X.], in: [X.]/[X.], Grundgesetz, 11. Aufl. 2011, Art. 97 Rn. 3; auch [X.]Z 42, 163 <169>). Dabei ist es jedem [X.] in Ausübung seiner Unabhängigkeit und persönlichen Verantwortung jederzeit unbenommen, sich selbst unmittelbar aus den Akten kundig zu machen, wenn er dies für seine Überzeugungsbildung für erforderlich hält und nicht allein auf den Vortrag des Berichterstatters zurückgreifen möchte.

bb) (1) Soweit die fachgerichtliche Rechtsprechung für einen nicht nur formellen, sondern tatsächlichen richtungweisenden Einfluss des Vorsitzenden fordert, dass dieser mindestens 75 % der Aufgaben als Vorsitzender des Senats selbst wahrnehme ([X.]Z 37, 210 <215 f.>; 88, 1 <8 f.>; vgl. auch [X.]/[X.], [X.], 6. Aufl. 2010, § 59 Rn. 12) und daher im Regelfall im Interesse der Güte und Stetigkeit der Rechtsprechung des einzelnen [X.] die Mitwirkung des ordentlichen Vorsitzenden zu verlangen sei und nicht die Mitwirkung seines Vertreters ([X.]Z 37, 210 <214 f.>), lässt auch insoweit der beanstandete [X.] keine Beeinträchtigung des richtunggebenden Einflusses des Vorsitzenden erkennen.

Die sich in dieser Rechtsprechung niederschlagende Gegenüberstellung zwischen der Wahrnehmung der richterlichen Aufgaben durch den Vorsitzenden einerseits und ihrer Wahrnehmung durch dessen Vertreter andererseits (vgl. [X.]St 2, 71 <72 f.>; [X.]Z 37, 210 <214 f.>; [X.], Urteil vom 27. April 1998 - 6 UE 745/98.A -, juris, Rn. 30) zeigt, dass die 75 %-Grenze die quantitative Mitwirkung des ordentlichen Vorsitzenden betrifft. Dass der Vorsitzende [X.] am [X.] [X.] infolge des ihm übertragenen [X.]es an der Mitwirkung bei den Entscheidungen der Strafsenate in erheblichem Umfang verhindert gewesen sei und der Vorsitz stattdessen von einem Vertreter habe wahrgenommen werden müssen, ist nicht ersichtlich und wird von den Beschwerdeführern auch nicht behauptet.

(2) Die Beschwerdeführer ziehen die fachgerichtliche 75 %-Rechtsprechung vielmehr in einem qualitativen Zusammenhang heran, indem sie eine bestimmte Art und Weise der Aufgabenwahrnehmung durch den Vorsitzenden einfordern. Dabei vernachlässigen sie zum Einen, dass bereits die Präsenz des Vorsitzenden und die Mitwirkung an der Entscheidung es ihm ermöglichen, seine Überlegungen, seine Sachkunde und seine Erfahrung in den Spruchkörper einzubringen (vgl. [X.], Der gesetzliche [X.] im Strafverfahren, S. 409). Zum Andern steht es auch nach dieser Rechtsprechung allein im Verantwortungsbereich des Vorsitzenden, wie er seine Arbeitskraft bei der Erfüllung seiner richterlichen Aufgaben im Einzelnen einsetzt ([X.]Z 37, 210 <217>; vgl. auch [X.]/[X.], [X.], 6. Aufl. 2010, § 59 Rn. 12).

2. Die Anhörung von drei Mitgliedern des 2. Strafsenats durch das Präsidium im Vorfeld der angegriffenen Entscheidungen verletzt ebenfalls nicht den Anspruch der Beschwerdeführer auf den gesetzlichen [X.] aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

Dabei kann es dahinstehen, inwieweit der konkrete Ablauf der Anhörung der Stellung und Aufgabe des Präsidiums in seiner besonderen Verantwortung für die Funktionsfähigkeit des gesamten Gerichts einerseits und der Stellung der [X.] andererseits gerecht wurde. Jedenfalls lässt sich in der vorliegenden Konstellation eine unabhängigkeitsbeeinträchtigende Einflussnahme auf die angehörten [X.] - oder den 2. Strafsenat insgesamt - ausschließen. Insbesondere sind von Seiten des Präsidiums in Bezug auf das künftige Entscheidungsverhalten keine direkten oder indirekten Sanktionen ausgesprochen oder angedeutet worden, die zu einem Verlust der Unabhängigkeit hätten führen können.

3. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

2 BvR 610/12, 2 BvR 625/12

23.05.2012

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 1. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend BGH, 16. Februar 2012, Az: 2 StR 609/11, Beschluss

Art 19 Abs 4 GG, Art 19 Abs 4 GG, Art 97 Abs 1 GG, Art 97 Abs 2 S 1 GG, Art 101 Abs 1 S 2 GG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 23.05.2012, Az. 2 BvR 610/12, 2 BvR 625/12 (REWIS RS 2012, 6157)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 6157

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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