Bundesgerichtshof, Beschluss vom 09.08.2022, Az. 1 StR 119/22

1. Strafsenat | REWIS RS 2022, 4441

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REVISION (STRAFRECHT) RECHTSMITTELRÜCKNAHME

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Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

Redaktioneller Leitsatz

1. Nimmt ein Angeklagter sein Rechtsmittel (hier: Revision) selbst - und damit an seinem Anwalt vorbei - zurück, muss er sich grundsätzlich auch dann hieran festhalten lassen, wenn er diese Erklärung gegenüber der Staatsanwaltschaft abgibt. Erforderlich ist allein, dass der Wille des Angeklagten, das Revisionsverfahren sofort zu beenden, eindeutig erkennbar ist. Die Rücknahme wird dann mit Zugang bei Gericht wirksam.

2. Wird die Frage, ob eine wirksame Revisionsrücknahme vorliegt, von den Verfahrensbeteiligten unterschiedlich beurteilt, ist die eingetretene Rechtsfolge durch deklaratorischen Beschluss festzustellen

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Gegenstand

Revision im Strafverfahren: Wirksamkeit einer Revisionsrücknahme gegenüber der Staatsanwaltschaft


Tenor

Es wird festgestellt, dass die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des [X.] vom 15. November 2021 wirksam zurückgenommen ist.

Gründe

1

1. Mit Urteil vom 15. November 2021 hat das [X.] die Angeklagte wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Gegen das Urteil hat der Verteidiger der Angeklagten mit am selben Tage bei dem [X.] eingegangenem Schriftsatz vom 19. November 2021 Revision eingelegt.

2

Mit an die Staatsanwaltschaft gerichtetem Schreiben vom 10. Januar 2021 (gemeint wohl: 2022) hat die Angeklagte erklärt, sie wolle "hiermit (…) mit sofortiger Wirkung (ihre) Revision zurück ziehen und sofort rechtskräftig werden". Sie hat zugleich gebeten, "die [X.] ein(zuleiten)". Unter dem 14. Januar 2022 hat die Staatsanwaltschaft die Weiterleitung des Schreibens an das [X.] verfügt; dort ist es am 17. Januar 2022 eingegangen. Am selben Tag hat das [X.] beschlossen, dass die Angeklagte die Kosten des Revisionsverfahrens und die den [X.] in dem Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen habe, nachdem sie die Revision wirksam zurückgenommen habe.

3

Mit Schriftsatz vom 28. Februar 2022 hat der Verteidiger die Revision begründet. Hierbei hat er u.a. die Ansicht vertreten, dass die Rücknahmeerklärung der Angeklagten vom 10. Januar 2022 nicht wirksam und das Rechtsmittel daher zulässig sei. [X.] sei nicht gegenüber dem zuständigen Gericht abgegeben worden; ihre Weiterleitung an das [X.] habe nicht dem Willen der Angeklagten entsprochen. Ohnehin habe es sich lediglich um eine Absichtserklärung gehandelt. Die Angeklagte habe sich von irrigen Motiven leiten lassen und zudem übereilt gehandelt.

4

2. Die Angeklagte hat ihre Revision mit Schreiben vom 10. Januar 2022 wirksam zurückgenommen (§ 302 Abs. 1 Satz 1 StPO). Da dies allerdings von der Angeklagten mit der Revisionsbegründung in Zweifel gezogen wird, stellt der Senat die eingetretene Rechtsfolge durch deklaratorischen [X.]eschluss fest (vgl. [X.], [X.]eschlüsse vom 16. Dezember 2021 – 1 [X.] Rn. 4 und vom 17. Juli 2019 – 4 [X.]/19 Rn. 4).

5

a) Die Angeklagte hat ihre Revision mit ihrem an die "(s)ehr geehrte Staatsanwaltschaft" gerichteten, von dieser an das [X.] weitergeleiteten und dort am 17. Januar 2022 eingegangenen Schreiben vom 10. Januar 2022 wirksam zurückgenommen. Entgegen der nunmehr vertretenen Ansicht handelte es sich gerade nicht um eine bloße Absichtserklärung mit der Ankündigung, die [X.] der [X.] erst zu einem späteren Zeitpunkt gesondert vornehmen zu wollen. Vielmehr war die Erklärung inhaltlich eindeutig und zweifelsfrei auf die sofortige [X.]eendigung des Revisionsverfahrens gerichtet. Danach wollte die Angeklagte "mit sofortiger Wirkung" das Rechtsmittel zurücknehmen und "sofort rechtskräftig werden". Sie hat damit ihren Wunsch nach einer unmittelbar eintretenden Rechtsfolge klar zum Ausdruck gebracht. Gegenteiliges folgt nicht aus dem hierbei verwendeten Verb "möchte", welches lediglich ein stilistisches Mittel des höflichen Ausdrucks bildete, nicht aber einen Aufschub für die Zukunft beinhaltete.

6

Dieses Verständnis spiegelt auch das an ihren Verteidiger gerichtete Schreiben der Angeklagten vom 27. Dezember 2021 wider, welches der Revisionsbegründung beigefügt war. Hierin bat sie ihren Verteidiger ganz direkt: "([X.])itte ziehen Sie meine Revision am 14.01.2022 zurück." Sie wolle sich abschieben lassen und "hierfür rechtkräftig werden". Danach war die Angeklagte schon zu diesem Zeitpunkt abschließend entschlossen, das Revisionsverfahren nicht weiter durchzuführen, und hatte klare Anweisungen erteilt, dieses Ziel zu erreichen. Dass sie nachfolgend nicht den Eintritt des 14. Januar 2022 abwartete, sondern vorab selbst die Revisionsrücknahme aussprach, nimmt dieser Erklärung nicht die gebotene inhaltliche Klarheit.

7

b) [X.] steht nicht entgegen, dass die Angeklagte ihr Schreiben vom 10. Januar 2022 nicht – entsprechend § 341 Abs. 1 StPO – an das [X.], sondern an die Staatsanwaltschaft gerichtet hat (zur Form des Rechtsmittelverzichts vgl. [X.], [X.]eschluss vom 6. Mai 1999 – 4 StR 79/99 Rn. 7). Denn letztere hat das Schreiben innerhalb weniger Tage an das [X.] weitergeleitet (vgl. Nr. 152 Abs. 2 Satz 1 RiSt[X.]V). Mit dem dortigen Eingang wurde die Rücknahmeerklärung wirksam (vgl. [X.], [X.]eschluss vom 16. Dezember 2021 – 1 [X.] Rn. 2, 4 und vom 3. November 2011 – 2 [X.] Rn. 1, 3; vgl. ferner [X.]eschluss vom 17. Juli 2019 – 4 [X.]/19 Rn. 3, 7).

8

Mit der zeitnahen Weiterleitung an das [X.] hat die Staatsanwaltschaft dem, wie vorstehend erörtert, erkennbaren Interesse der Angeklagten an einer unmittelbaren [X.]eendigung des Revisionsverfahrens entsprochen. Dies gilt erst recht im Hinblick darauf, dass die Angeklagte die Staatsanwaltschaft vorliegend sogar ausdrücklich darum gebeten hatte, "die [X.] ein(zuleiten)", mithin alle etwa notwendigen Schritte zu veranlassen, um ein für die Angeklagte rechtskräftiges Urteil vollstrecken zu können (vgl. § 449 StPO).

9

Dahinstehen kann ferner, aus welchem Grund im Einzelnen die Angeklagte ihr Schreiben vom 10. Januar 2022 an die Staatsanwaltschaft und nicht an das [X.] richtete. Denn unabhängig hiervon geht mit der gewählten Anrede lediglich eine bloße versehentliche Falschbezeichnung des dennoch erkennbaren Empfängers einher. [X.] war ersichtlich für "die zuständige [X.]ehörde" bestimmt. Aus ihrer Laiensicht erschien der – in diesem Zusammenhang ersichtlich nicht anwaltlich beratenen – Angeklagten offenbar die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde (vgl. § 451 Abs. 1 StPO) am plausibelsten. Die Falschbezeichnung des Empfängers nimmt der Erklärung nicht ihre inhaltliche Klarheit im Übrigen.

c) [X.] ist als [X.] unwiderruflich und unanfechtbar (vgl. [X.], [X.]eschlüsse vom 16. Dezember 2021 – 1 [X.]; vom 17. Juli 2019 – 4 [X.]/19; vom 3. November 2011 – 2 [X.] und vom 28. Juli 2004 – 2 [X.] Rn. 5). Lediglich in besonderen Fällen können schwerwiegende Willensmängel bei der Erklärung des Rechtsmittelverzichts oder die Art und Weise seines Zustandekommens dazu führen, dass eine Verzichtserklärung von Anfang an unwirksam ist (vgl. [X.], [X.]eschluss vom 6. Mai 1999 – 4 StR 79/99 Rn. 5 mwN).

Ein solcher Fall ist hier nicht gegeben. Denn es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sich die Angeklagte über Inhalt und Tragweite ihrer Erklärung nicht im Klaren gewesen sein könnte. Selbst wenn, wie mit der Revision geltend gemacht, ihr Verteidiger im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Rücknahmeerklärung vom 10. Januar 2022 noch nicht die Gelegenheit gehabt haben sollte, die Angeklagte zu dem Für und Wider der weiteren Durchführung des Revisionsverfahrens sowie ggf. zu der [X.]edeutung einer [X.] anwaltlich zu beraten, so strebte dessen ungeachtet die Angeklagte gezielt danach, den rechtlichen Schwebezustand zu beenden und den Status einer rechtskräftig verurteilten Strafgefangenen zu erlangen. Dass sie über die Wirkungen der Rücknahme im Unklaren gewesen sei, macht sie folgerichtig mit der Revision auch gar nicht geltend.

Damit hat die [X.] trotz der zeitgleich nachfolgenden Erklärung der Angeklagten, sie wünsche ausdrücklich weiterhin die Durchführung des Revisionsverfahrens, [X.]estand. Ob und ggf. inwieweit sie mit der Rücknahmeerklärung unrealistische Erwartungen verknüpft hat, die nicht von der Justiz veranlasst worden waren (hier: Wegfall von [X.]esuchsbeschränkungen, Ausreise nach [X.]), kann dahinstehen; denn dies führt nicht ausnahmsweise zur Anfechtbarkeit (vgl. [X.], [X.]eschluss vom 24. Oktober 2001 – 2 [X.], juris Rn. 5; ferner [X.], [X.]eschlüsse vom 31. Mai 2005 – 1 [X.] Rn. 3 und vom 28. Juli 2004 aaO).

Jäger     

      

Fischer     

      

[X.]är     

      

Leplow     

      

Munk     

      

Meta

1 StR 119/22

09.08.2022

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Ulm, 15. November 2021, Az: 3 Ks 11 Js 28108/20

§ 302 Abs 1 S 1 StPO, § 341 Abs 1 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 09.08.2022, Az. 1 StR 119/22 (REWIS RS 2022, 4441)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 4441

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4 StR 85/19

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