Bundesgerichtshof, Beschluss vom 11.10.2023, Az. 4 StR 226/23

4. Strafsenat | REWIS RS 2023, 9485

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Gegenstand

Strafverfahren wegen Totschlags u.a.: Zuständigkeit für die Prüfung der Wirksamkeit der Revisionsrücknahme


Tenor

1. Der Beschluss des [X.] vom 5. Mai 2023 wird aufgehoben.

2. Es wird festgestellt, dass die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des [X.] vom 6. Januar 2023 wirksam zurückgenommen ist.

Gründe

I.

1

Das [X.] hat den Angeklagten am 6. Januar 2023 wegen Totschlags und versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Der Angeklagte hatte gegen dieses Urteil form- und fristgerecht Revision eingelegt. Nachdem er sein Rechtsmittel mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 22. März 2023 zurückgenommen hatte, hat ihm das [X.] mit Beschluss vom 28. März 2023 die Kosten seines Rechtsmittels und die den [X.] hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen auferlegt.

2

Nach Erhalt des [X.] hat der Angeklagte mit Schreiben vom 5. April 2023 mitgeteilt, seinen Verteidiger zwar zur Rücknahme des Rechtsmittels ermächtigt, sich aber „umentschieden“ zu haben und seine Revision durchführen zu wollen. Mit weiterem Schreiben vom 17. April 2023 hat er Beschwerde gegen den Kostenbeschluss eingelegt und erneut erklärt, die Revision aufrecht erhalten zu wollen. Das [X.] Bielefeld hat am 5. Mai 2023 folgenden Beschluss gefasst und dem [X.] die Akten zur Entscheidung über die Frage der Wirksamkeit der Revisionsrücknahme vorgelegt:

„Es wird deklaratorisch festgestellt, dass die Revision des Angeklagten gegen das Urteil vom [X.] am [X.] wirksam zurückgenommen worden ist.

Da die Rechtsprechung des [X.] bisher offen lässt, ob für die Entscheidung über die bezweifelte Wirksamkeit der Revisionsrücknahme im Verfahrensstadium vor Vorlage der Akten an das [X.] der Tatrichter oder der Revisionsrichter zuständig ist, werden die Akten gleichwohl dem [X.] zur Entscheidung vorgelegt.

Der Angeklagte wird darauf hingewiesen, dass eine Entscheidung des [X.] über die Wirksamkeit der Revisionsrücknahme möglicherweise voraussetzt, dass der Angeklagte entsprechend § 346 Abs. 2 [X.] binnen einer Woche nach der Zustellung dieses Beschlusses bei dem [X.] Bielefeld schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle eine Entscheidung des [X.] beantragt.“

II.

3

1. Der [X.] ist zur Entscheidung über die Frage der Wirksamkeit der Revisionsrücknahme berufen.

4

a) Wird die Wirksamkeit der Revisionsrücknahme von einem Verfahrensbeteiligten in Zweifel gezogen, ist es nach ständiger Rechtsprechung des [X.] Sache des [X.], über die Frage der Wirksamkeit der Revisionsrücknahme zu entscheiden (vgl. [X.], Beschluss vom 23. März 2022 ‒ 3 StR 29/22 Rn. 2; Beschluss vom 17. Februar 2011 ‒ 4 [X.], [X.], 314; Beschluss vom 8. März 2005 ‒ 4 StR 573/04, [X.], 211, 212; Beschluss vom 20. Juli 2004 ‒ 4 StR 249/04, [X.], 113; Beschluss vom 12. Juli 2000 ‒ 3 StR 257/00, [X.], 104; KK-[X.]/[X.], 9. Aufl., § 302 Rn. 14a). Die Zuständigkeit ist auch in Fällen begründet, in denen ‒ wie hier ‒ die Frage der Wirksamkeit der Revisionsrücknahme aufgeworfen wird, bevor die Akten dem [X.] zur Entscheidung vorgelegt worden sind. Dies ergibt sich aus Folgendem:

5

aa) Die Strafprozessordnung enthält insoweit keine ausdrückliche Regelung darüber, welches Gericht zu entscheiden hat, wenn Zweifel darüber bestehen, ob die Revision wirksam zurückgenommen worden ist (vgl. [X.]/[X.], 1. Aufl., § 302 Rn. 51). Da die Wirksamkeit der [X.] ‒ ähnlich wie die Frage der Wirksamkeit eines erklärten [X.] ‒ implizit die Frage der Zulässigkeit des Rechtsmittels aufwirft, ist die Beantwortung der [X.] an dem insoweit maßgeblichen Regelungsgefüge der §§ 346 Abs. 1, 349 Abs. 1 [X.] auszurichten. Da § 346 Abs. 1 [X.] nach seinem eindeutigen Wortlaut eine Zuständigkeit des Tatgerichts nur in den Fällen verspäteter Revisionseinlegung oder einer nicht rechtzeitigen Revisionsbegründung vorsieht, bleibt es im Übrigen bei der Regel des § 349 Abs. 1 [X.]. Danach hat in Fällen, in denen die Wirksamkeit einer [X.] von einem Verfahrensbeteiligten ernsthaft in Zweifel gezogen wird, das [X.] hierüber eine feststellende Entscheidung zu treffen (vgl. [X.], Beschluss vom 4. Juli 2023 ‒ 4 StR 171/23 Rn. 3).

6

Dies entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers. Danach soll § 346 Abs. 1 [X.] der Entlastung der [X.]e sowie der Verfahrensbeschleunigung in einfachen und klaren Fällen dienen, indem der judex a quo selbst über die Frage der Zulässigkeit der Revision entscheidet (vgl. [X.], in: [X.], 26. Aufl., § 346 Rn. 1; kritisch zur gesetzgeberischen Entscheidung [X.], [X.] (2008), [X.], 455 [„übervorsichtig“]). In allen anderen Fällen bleibt es bei der Zuständigkeit des [X.] nach § 349 Abs. 1 [X.]. § 346 Abs. 1 [X.] ist eine Ausnahmevorschrift und daher eng auszulegen. Kann sich die Unzulässigkeit der Revision aus einem anderen als den in § 346 Abs. 1 [X.] aufgezählten Gründen ergeben, obliegt die Prüfung allein dem [X.]. Dies gilt auch dann, wenn ein solcher Grund mit Mängeln der Form- und Fristwahrung zusammentrifft (vgl. [X.], Beschluss vom 5. Oktober 2006 ‒ 4 StR 375/06, [X.], 165; [X.]/[X.], [X.], 66. Aufl., § 346 Rn. 2). Deshalb ist anerkannt, dass die Prüfung der Zulässigkeit der Revision trotz [X.] allein dem [X.] obliegt (vgl. [X.], Beschluss vom 5. Oktober 2006 ‒ 4 StR 375/06, [X.], 165).

7

bb) Zwar wird in der Literatur teilweise die Auffassung vertreten, das Tatgericht sei zu einer Entscheidung über die Wirksamkeit der Revisionsrücknahme berufen, solange das Verfahren dort noch anhängig ist und die Akten dem [X.] noch nicht zur Entscheidung vorgelegt worden sind (vgl. [X.], in [X.], 25. Aufl., § 302 Rn. 76; [X.] in [X.], [X.], § 302 Rn. 10; ablehnend [X.], Beschluss vom 2. Mai 2007‒ 1 StR 192/07 Rn. 4 [X.]; [X.], in: [X.], 26. Aufl., § 302 Rn. 98 („nur im Umfang des […] § 346 Abs. 1 [X.]“; [X.] in [X.], 55. EL, § 346 Rn. 5; Hoch in SSW-[X.], 5. Aufl., § 302 Rn. 37 [„in der Regel“]).

8

Dieser Rechtsauffassung vermag der [X.] nicht beizutreten (zweifelnd auch [X.], Beschluss vom 23. März 2022 ‒ 3 StR 29/22 Rn. 2; Beschluss vom 17. Februar 2011 ‒ 4 [X.] Rn. 4; Beschluss vom 20. September 2007 ‒ 4 [X.] Rn. 4; Beschluss vom 20. Juli 2004 ‒ 4 StR 249/04, [X.], 113; Beschluss vom 14. September 2006 ‒ 4 StR 300/06 Rn. 5; Beschluss vom 8. März 2005 ‒ 4 StR 573/04, [X.], 211, 212). Mit Blick auf das dargestellte Regelungsgefüge kann dem Umstand, ob das Verfahren noch beim [X.] oder schon beim [X.] anhängig ist, eine zuständigkeitsbegründende Wirkung nicht beigemessen werden. Dass das Tatgericht über die Frage der Kostentragung zu entscheiden hat, solange die Akten dem [X.] noch nicht zur Entscheidung vorgelegt worden sind (vgl. [X.], Beschluss vom 19. Dezember 1958 ‒ 1 StR 485/58, [X.]St 12, 217, 219; [X.], 145, 146 f.; [X.]/[X.], [X.], 66. Aufl., § 464 Rn. 13), vermag hieran nichts zu ändern.

9

b) Die Tatsache, dass das [X.] „deklaratorisch“ über die Frage der Wirksamkeit der [X.] entschieden hat, steht dem nicht entgegen. Der [X.] kann offenlassen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen das Tatgericht aus Gründen prozessualer Fürsorgepflicht und im Interesse der Verfahrensbeschleunigung gehalten sein kann, die von einem der Verfahrensbeteiligten geäußerten Zweifel an der Frage der Wirksamkeit der [X.] durch Bekanntgabe seiner Rechtsauffassung zu beseitigen. Führt dies zu einer Behebung der Zweifel, kann es sich erübrigen, eine Entscheidung des [X.] herbeizuführen. Hier hat der Angeklagte aber trotz der Entscheidung des Tatgerichts an seiner Revision festgehalten und damit zum Ausdruck gebracht, dass er die Revisionsrücknahme für unwirksam halte. Da der Angeklagte aufgrund des Inhalts des Beschlusses davon ausgehen durfte, dass das [X.] dem [X.] die Akten zur Herbeiführung einer Entscheidung über die Wirksamkeit der [X.] vorlegen werde, konnte schließlich auch weiterhin offenbleiben, ob eine Entscheidung im Revisionsverfahren in analoger Anwendung des § 346 Abs. 2 [X.] einen entsprechenden (fristgebundenen) Antrag voraussetzt oder ob die Entscheidung des [X.] formlos und ohne Einhaltung einer Frist herbeigeführt werden kann (vgl. [X.], Beschluss vom 20. Juli 2004 ‒ 4 StR 249/04, [X.], 113 mwN; siehe auch [X.], Beschluss vom 28. Mai 2013 ‒ 3 [X.] Rn. 5).

2. Die Revision des Angeklagten ist wirksam zurückgenommen (§ 302 Abs. 1 Satz 1 [X.]). Der Angeklagte hatte seinen Verteidiger mit der Revisionsrücknahme beauftragt. Die Rücknahmeerklärung, die als Prozesshandlung unwiderruflich und unanfechtbar ist (vgl. [X.], Beschluss vom 16. Dezember 2021 ‒ 1 StR 285/21; Beschluss vom 17. Juli 2019 ‒ 4 StR 85/19), wurde daher mit ihrem Eingang beim [X.] wirksam. Anhaltspunkte für schwerwiegende Willensmängel oder Hinweise auf das Fehlen der prozessualen Handlungsfähigkeit des Angeklagten (vgl. [X.], Beschluss vom 26. Mai 2020 ‒ 3 StR 595/19 Rn. 5; Beschluss vom 15. Dezember 2015 ‒ 4 StR 491/15 Rn. 6) sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Dass der Angeklagte sich später ‒ wie er ausdrücklich mitteilt ‒ „umentschieden“ hat, ist als nachträgliche Willensänderung für die Frage der Wirksamkeit der Rücknahmeerklärung bedeutungslos.

[X.]     

      

Bartel     

      

Rommel

      

Scheuß     

      

[X.]-Pflanz     

      

Meta

4 StR 226/23

11.10.2023

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Bielefeld, 5. Mai 2023, Az: 1 Ks 12/22

§ 346 Abs 1 StPO, § 349 Abs 1 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 11.10.2023, Az. 4 StR 226/23 (REWIS RS 2023, 9485)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 9485

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