Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 20.06.2000, Az. VI ZR 377/99

VI. Zivilsenat | REWIS RS 2000, 1901

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[X.] DES VOLKESURTEILVI ZR 377/99Verkündet am:20. Juni 2000Holmes,[X.] Geschäftsstellein dem [X.]:ja[X.]Z: neinBGB § 823 Dc Abs. 1Ohne besondere Umstände kann nicht verlangt werden, daß in der offenen Stationeiner psychiatrischen Klinik alle Türen und Fenster verschlossen werden.[X.], Urteil vom 20. Juni 2000 - VI ZR 377/99 - [X.] LG Frankenthal- 2 -Der VI. Zivilsenat des [X.] hat auf die mündliche [X.] durch [X.] und [X.]Lepa, [X.], [X.] und Wellnerfür Recht erkannt:Auf die Revision der [X.] wird das Urteil des [X.] [X.] vom [X.] 1999 aufgehoben.Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung,auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das [X.] zurückverwiesen.Von Rechts [X.]:Die Klägerin, die wegen einer [X.] Psychose be-reits ab Ende Dezember 1992 für elf Wochen stationär in der [X.] behandelt worden war, erschien am 22. November 1994 mit der Einwei-sungsdiagnose "Psychose" in Begleitung zweier Verwandter im Krankenhausder [X.] und wollte stationär aufgenommen werden. Die diensthabendeÄrztin erhob die Anamnese. Diese befaßte sich auch mit einer Selbstmordge-fahr für die Klägerin. Sie erklärte, früher Gedanken an Selbstmord gehabt zuhaben, ihre Kinder stünden jedoch im Vordergrund. Einen Selbstmordversuchhatte die Klägerin noch nicht unternommen. Die Klägerin erhielt ein Bett in deroffenen Station im dritten Stock. In den Zimmern dieser Station waren die Fen-- 3 -stergriffe entfernt, um ein Öffnen der Fenster durch die Patienten zu [X.].Die Klägerin wurde mit Medikamenten versorgt. In der Nacht gegen1.00 Uhr erschien die Klägerin bei der Nachtschwester und bat diese - wieschon um 20.30 Uhr - um Tee. Sie bejahte deren Frage, ob sie ein Schlafmittelwolle. Die Nachtschwester holte zunächst das Teeglas aus [X.]. Während dieser [X.] begab sich die Klägerin in den Aufenthaltsraum,der einen unverschlossenen Zugang zum Balkon hatte. Als die Schwester mitdem Teeglas in den [X.] zurückkehrte, um die Medikamente zu holen,sah sie durch die geöffnete Türe des Aufenthaltsraumes, daß die Klägerin [X.] geöffnet hatte, sich kurz zu ihr umdrehte und über die [X.]. Die Schwester konnte einen Sturz der Klägerin nicht mehr verhindern.Durch den Sturz aus 11 bis 12 Meter Höhe verletzte sich die Klägerin schwer.Die Klägerin hat die Beklagte aus Organisationsverschulden im Wegeder Teilklage auf ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes [X.] mindestens 40.000 DM nebst 4% Zinsen seit 5. August 1995 in [X.]; der Aufenthaltsraum habe ohne großen Aufwand gesichert werdenkönnen, was nach ihrem Unfall geschehen sei.Das [X.] hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Kläge-rin hat das [X.] den [X.] dem Grunde nach für ge-rechtfertigt erklärt und die Sache zur Durchführung des Betragsverfahrens andas [X.] zurückverwiesen. Mit ihrer zugelassenen Revision verfolgt [X.] ihr Begehren auf Zurückweisung der Berufung [X.] 4 -Entscheidungsgründe:[X.] Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im [X.] ausgeführt, zwar habe die Aufnahmeanamnese keinen Anlaß füreine Unterbringung der Klägerin in einer geschlossenen Station geboten. [X.] hafte aber, weil sie den Aufenthaltsraum nicht hinreichend gegen ei-nen nicht vorhersehbaren Entschluß eines Patienten zum Selbstmord gesicherthabe. Auch im Aufenthaltsraum der offenen Station in der Klinik der [X.]seien nicht jegliche Sicherheitsvorkehrungen entbehrlich. Ein [X.] übernehme nicht nur, den Patienten möglichst zu heilen, sondernauch, alle Gefahren, die diesem durch seine Krankheit drohten, von ihm abzu-wenden. Es bedürfe daher in den Grenzen des Erforderlichen und des für [X.] und den Patienten Zumutbaren der Überwachung [X.] der Kranken. Diese Pflicht bestehe ohne Bezug auf einen konkretenEinzelfall. Bei dem Krankheitsbild der Klägerin könne ein Selbstmord wederausgeschlossen noch als höchst unwahrscheinlich bewertet werden; es [X.] ein Sicherungsbedürfnis für die Klägerin bestanden, das eine "Grundsi-cherung" erfordert habe. Diese gebiete eine Vorsorge gegen die Gefahr [X.] aus großer Höhe. Als Vorsorge hätte es ausgereicht, die [X.] abzuschließen. Technische oder medizinische Standards über die An-forderungen an die Grundsicherung einer offenen Station gebe es zwar nicht.Daß die Fenster in den anderen Zimmern auf dieser Station nicht zu öffnenseien, zeige aber, daß eine Grundsicherung mit dem therapeutischen [X.] [X.] zu vereinbaren sei. Tatsachen, die einer nächtlichen Sicherungauch des Aufenthaltsraumes entgegenstünden, habe die Beklagte nicht vorge-tragen.- 5 -Das Berufungsgericht hat die Revision zugelassen, weil die Notwendig-keit der Grundsicherung in einer offenen Krankenhausstation von grundsätzli-cher Bedeutung sei.[X.] Erwägungen des Berufungsgerichts halten rechtlicher [X.] auf der Grundlage der bisher getroffenen tatsächlichen Feststellungennicht stand.1. Das Berufungsgericht geht allerdings im Ansatzpunkt ohne Rechts-fehler davon aus, daß der Träger eines psychiatrischen Krankenhauses nichtnur zur Behandlung der aufgenommenen Patienten verpflichtet ist. Ihm obliegtdeliktsrechtlich auch eine Verkehrssicherungspflicht zum Schutz des [X.] einer Schädigung, die diesem wegen der Krankheit durch ihn selbst unddurch die Einrichtung und bauliche Gestaltung des Krankenhauses droht. [X.] Pflicht ist allerdings - wie das [X.] richtig erkannt hat - be-schränkt auf das Erforderliche und das für das Krankenhauspersonal und [X.] Zumutbare. Das Sicherheitsgebot ist abzuwägen gegen Gesichts-punkte der Therapiegefährdung durch allzu strikte Verwahrung (vgl. [X.] vom 8. Oktober 1985 - [X.]/84 - [X.]Z 96, 98, 102; [X.], Urteil vom23. September 1993 - [X.] - [X.], 50).Das Berufungsgericht überspannt aber die Anforderungen an die [X.] als Krankenhausträgerin zum Schutze ihrer Patienten obliegendeSorgfalt, wenn es ohne konkrete Anhaltspunkte einer Selbstgefährdung als Si-cherung gegen einen - unvorhersehbaren - Selbstmordversuch verlangt, [X.] der [X.] habe jedenfalls nachts auch die Balkontüre im- 6 -Aufenthaltsraum der offenen Station im dritten Stockwerk so gesichert seinmüssen, daß Vorsorge gegen die Gefahr eines Sprunges vom Balkon [X.]) Für die Mindestanforderungen an die Sicherung der Patienten auf [X.] offenen Station in psychiatrischen Kliniken gibt es weder medizinischenoch technische Standards, wie das Berufungsgericht auf der Grundlage [X.] des im ersten Rechtszug beauftragten Sachverständigen ohneRechtsfehler festgestellt hat.b) Aus Rechtsgründen kann - im Gegensatz zur Auffassung des [X.]s - in einer offenen Station ohne besondere Umstände nicht [X.] werden, alle Türen und Fenster verschlossen zu halten.Das Berufungsgericht begründet seine gegenteilige Ansicht mit einemSicherungsbedürfnis der Klägerin "dem Grunde nach". Diese Auffassung findetweder in der obergerichtlichen Rechtsprechung noch in den bisher festgestell-ten tatsächlichen Umständen eine ausreichende Stütze.aa) Der vom Berufungsgericht zitierten Rechtsprechung des [X.] ist eine Pflicht zur Überwachung und Sicherung des psychisch kran-ken Patienten ohne Bezug auf den konkreten Einzelfall und damit auch [X.] einer unvorhersehbaren Gefahr, die bei psychischen Krankheiten nachAnsicht des Berufungsgerichts stets gegeben sei, nicht zu entnehmen.Das Urteil des erkennenden Senats vom 8. Oktober 1985([X.]/84 - [X.]Z 96, 98 ff.) befaßt sich mit der Frage, ob der [X.] einem Patienten eine auf einen Selbstmordversuch gestützte Mit-verursachung der Schädigung entgegenhalten kann. Zu [X.] -an die Sicherung der Patienten in einer offenen Station hat der Senat in diesemRahmen nicht Stellung genommen.In der Entscheidung vom 9. April 1987 ging es um die Ausgestaltung [X.] eines Beruhigungsraumes ([X.] - [X.], 985), währendvorliegend die Sicherung eines Aufenthaltsraumes mit Balkonzugang zurNachtzeit in einer offenen Station in Frage steht. Diese Fallgestaltungen sindnicht vergleichbar. In einen Beruhigungsraum werden vorwiegend "unruhige"Patienten gebracht, bei denen mit unvorhergesehenen Handlungen auch [X.] der Selbstgefährdung zu rechnen ist; demgegenüber bestand bei derKlägerin keine Veranlassung, mit einem Selbstmordversuch zu rechnen, [X.] Berufungsgericht sachverständig beraten in anderem [X.] hat.bb) Auch in der Rechtsprechung der [X.]e wird - soweitersichtlich - darauf abgestellt, ob vor dem Unfall ("ex ante") eine Selbstmord-gefahr akut oder (nur) latent erkennbar vorhanden ist, und nur bei [X.] verstärkte Sicherungspflicht erwogen (vgl. [X.] und [X.], 451 mit [X.] des Senats vom 6. [X.] - [X.]/75 -; [X.], 67; [X.] VersR1990, 1240 mit [X.] des Senats vom 29. Mai 1990 - [X.] -und [X.], 171 mit [X.] des Senats vom 5. März 1985 - [X.]/84 -; [X.] VersR 1984, 193 mit [X.] des Senats vom4. Oktober 1983 - [X.]/82 -; [X.] VersR 1997, 117; OLG Ko-blenz MedR 2000, 136 mit [X.] des Senats vom 21. März 2000- VI ZR 314/99 -). Nur vereinzelt werden "Minimalanforderungen" an den bauli-chen Sicherheitsstandard einer offenen Station gestellt, zu denen es gehörensoll, daß die [X.] verschließbar sind und die Fenster nicht so geöffnet- 8 -werden können, daß ein Patient hinaussteigen oder hinausspringen kann ([X.] [X.] 1991, 326, 328; für einen - nicht vergleichbaren - [X.], 872). Dem ist nicht zu entnehmen, daß die Balkontürein dem Aufenthaltsraum einer offenen Station im dritten Stock eines Gebäudeszumindest nachts abgeschlossen sein muß. Die auch bei Patienten einer offe-nen Station möglicherweise (latent) vorhandene Selbstmordgefahr verlangt esnicht, jede Gelegenheit zu einer Selbstschädigung auszuschließen. [X.] auch eine psychiatrische Klinik nicht Gefahrenquellen für die Patientenschaffen oder verstärken, ohne die notwendigen Vorkehrungen zum Schutz [X.] zu treffen, wie dies auch sonst Inhalt der Verkehrssicherungspflichtist. Die Schutzmaßnahmen müssen aber therapeutisch vertretbar sein unddürfen die Therapie des Patienten nur dann beeinträchtigen, wenn dies zumWohl des Patienten erforderlich ist. Dementsprechend ist das [X.] davon ausgegangen, daß Aufenthaltsraum und Balkon hier Teil vonMaßnahmen sind, welche die nach moderner Ansicht aus [X.] erwünschte vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen psychischkranken Patienten und Arzt sowie Krankenhauspersonal fördern sollen. [X.] das Berufungsgericht außer acht, wenn es eine Sicherung schon [X.], weil die Notwendigkeit eines Zutritts zum Balkon zur Nachtzeit auseinem therapeutischen Konzept nicht abzuleiten sei. Daß die Gefahren für [X.] nachts - etwa weil der Aufenthaltsraum nur von Einzelpersonen [X.] wird - wesentlich erhöht wären und hierdurch eine andere Beurteilungerforderlich würde, hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. Die [X.] das freilich unter Beweis gestellt; dem wird das Berufungsgericht nachZurückverweisung nachzugehen haben. Stellt sich dabei heraus, daß es ausmedizinischer Sicht hinnehmbar war, die Balkontüre geöffnet zu lassen, wirddas Berufungsgericht weiter zu prüfen haben, ob im Hinblick auf das in der- 9 -Person der Klägerin bestehende Gefährdungspotential besondere Maßnahmenzu treffen waren. Die Rechtsfrage, welche [X.] insoweit anden Klinikträger zu stellen sind, hat das Gericht dann unter [X.] aus ärztlicher Sicht für eine Behandlung des Patienten Gebotenen - in [X.] nach sachverständiger Beratung - zu entscheiden.2. Das angefochtene Urteil hat auch nicht aus einem anderen Grund [X.] (§ 563 ZPO). Die Aufnahme der Klägerin in die offene Station war nachden Feststellungen des Berufungsgerichts nicht fehlerhaft.Das Berufungsgericht hat bisher - von seinem Standpunkt aus folgerich-tig - offen gelassen, wie das Verhalten der Nachtschwester haftungsrechtlichzu bewerten ist. Erforderlichenfalls wird es das nachzuholen haben.[X.] Lepa [X.][X.] Wellner

Meta

VI ZR 377/99

20.06.2000

Bundesgerichtshof VI. Zivilsenat

Sachgebiet: ZR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 20.06.2000, Az. VI ZR 377/99 (REWIS RS 2000, 1901)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2000, 1901

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