Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 19.06.2001, Az. VI ZR 286/00

VI. Zivilsenat | REWIS RS 2001, 2221

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[X.] DES VOLKESURTEIL[X.]/00Verkündet am:19. Juni 2001Böhringer-Mangold,[X.] Geschäftsstellein dem [X.]:ja[X.]Z: neinBGB § 823 Aa; ZPO § 286 ADie Bewertung eines ärztlichen Behandlungsfehlers als grob bedarf der ausreichen-den Grundlage in den medizinischen Darlegungen des Sachverständigen, aus [X.] fachlichen Ausführungen sich ergeben muß, daß nicht nur ein eindeutiger [X.] gegen den ärztlichen Standard, sondern ein schlechterdings [X.] vorliegt.[X.], Urteil vom 19. Juni 2001 - [X.]/00 - [X.]. Zivilsenat des [X.] hat auf die mündliche [X.] 19. Juni 2001 durch die Vorsitzende Richterin [X.], [X.]Dressler und [X.], die Richterin [X.] sowie [X.] Recht erkannt:Auf die Revision der [X.] wird das Grundurteil [X.] Zivilsenats des [X.] in [X.] vom5. Juli 2000 aufgehoben.Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung,auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das [X.] zurückverwiesen.Von Rechts [X.]:Die Klägerin nimmt die beklagte Ärztin für Allgemeinmedizin auf [X.] Schadens in Anspruch, der ihr infolge eines Selbstmordversuchs entstan-den sei.Die Klägerin, die seit Jahren bei der [X.] als ihrer Hausärztin we-gen andauernder Schmerzen im Bereich der [X.] und des [X.] regelmäßiger Schlafstörungen in Behandlung war und deshalb auch imJuli 1995 den ärztlichen Rat des Urlaubsvertreters der [X.] in [X.] hatte, suchte letztere am 8. August 1995 in ihrer Praxis auf, wobei- 3 -eine physiotherapeutische Behandlung in Aussicht genommen wurde. In [X.] mit der [X.] am Nachmittag desselben Tages berichteteder Ehemann der Klägerin, diese habe Schlaftabletten eingenommen. Im Rah-men dieses Gesprächs, dessen Inhalt im einzelnen streitig ist, empfahl die [X.], die Klägerin möge am nächsten Morgen in der Praxis vorstellig werden.In der Nacht vom 8./9. August 1995 rief der Ehemann der Klägerin zwischen3.00 Uhr und 3.30 Uhr bei der [X.] an und äußerte unter anderem, dieKlägerin wolle weglaufen. Das Gespräch - über dessen Inhalt die Parteien [X.] ebenfalls streiten - endete mit der Übereinkunft, der Ehemann [X.] Klägerin am Fortgehen hindern und sie am Morgen in die Praxis der [X.]n bringen. Die Klägerin entfernte sich jedoch am Morgen des 9. August1995 aus dem Haus und versuchte, an einem Strommast mittels eines [X.] zu begehen; dabei stürzte sie ab und verletzte sich schwer.Die Klägerin vertritt die Auffassung, die Beklagte habe ihre [X.] erkennen und bereits im Laufe der Nacht ärztliche Maßnahmen er-greifen, etwa einen Hausbesuch zur näheren Abklärung der Situation vorneh-men müssen; sie sei daher für die bei der Klägerin eingetretenen Schadensfol-gen verantwortlich. Das [X.] hat die auf Zahlung von [X.] Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin, die im [X.] ihre Klage erweitert und nunmehr auch eine Rentenzahlung ver-langt hat, hat das [X.] den [X.] dem Grunde nach fürgerechtfertigt erklärt. Mit ihrer Revision begehrt die Beklagte die Wiederher-stellung des landgerichtlichen Urteils.- 4 -Entscheidungsgründe:[X.] Berufungsgericht ist der Auffassung, es sei der [X.] als ärztli-che Pflichtverletzung anzulasten, daß sie den Ehemann der Klägerin im Rah-men des nächtlichen Telefongesprächs lediglich aufgefordert habe, seine Frauzu überwachen und am nächsten Morgen in die Praxis zu bringen, obwohl [X.] sich bei gewissenhafter Würdigung der ihr bekannten Umstände be-reits in der Nacht persönlich über den Gesundheitszustand der Klägerin hättevergewissern und gegebenenfalls weitere ärztliche Maßnahmen hätte [X.] müssen. Es habe begründeter Anlaß für den Verdacht bestanden, daßsich die Klägerin in einem unkontrollierten, kranken psychischen Zustand be-funden habe, der möglicherweise ein sofortiges ärztliches Eingreifen erforder-te, um Fehlreaktionen zu verhindern. Angesichts der Tatsache, daß die [X.] mitten in der Nacht deshalb um dringenden Rat gebeten worden sei, weildie Klägerin ihr Haus habe verlassen wollen, sei aus medizinischer Sicht aufeine Suizidgefährdung zu schließen gewesen. Die Beklagte sei nach [X.] des gerichtlichen Sachverständigen verpflichtet gewesen, einen persönli-chen Besuch bei der Klägerin durchzuführen oder eine Benachrichtigung desmedizinischen Notfalldienstes zu veranlassen. Bei dieser Sachlage stelle eseinen groben Behandlungsfehler dar, wenn die Beklagte jegliche weitere Ab-klärung unterlassen habe. Es sei daher von einer Umkehr der Beweislast hin-sichtlich der haftungsbegründenden Kausalität zugunsten der Klägerin auszu-gehen, dies auch unter dem Gesichtspunkt, daß der [X.] ein grob fehler-haftes Unterlassen der Erhebung gebotener Befunde zur Abklärung der psy-chischen Situation der Klägerin in der Nacht vom 8./9. August 1995 [X.] -I[X.] Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand. Die [X.] getroffenen Feststellungen rechtfertigen nicht die Beurteilung des [X.]s, die Beklagte habe für die seitens der Klägerin geltend gemach-ten Schäden haftungsrechtlich dem Grunde nach einzustehen.1. Entgegen der Ansicht der Revision war das Berufungsgericht [X.] nicht bereits deshalb verfahrensrechtlich gehindert, über den Grund desgeltend gemachten Anspruchs gemäß § 304 Abs. 1 ZPO vorab zu entscheiden,weil es ein möglicherweise haftungsrechtlich relevantes Mitverschulden derKlägerin oder ihres Ehemannes noch nicht für abschließend geklärt ansah. Ineinem Grundurteil kann die Mitverschuldensfrage offengelassen und dem [X.] vorbehalten werden (vgl. Senatsurteil vom 15. Mai 1979 - [X.]/77 - NJW 1979, 1933, 1935 m.w.N.). Vom Rechtsstandpunkt des [X.]s aus gesehen, welches die Voraussetzungen eines Schadenser-satzanspruchs für die Klägerin als erfüllt erachtete, war keine Fallgestaltunggegeben, in der auf jeden Fall im Grundurteil schon über den [X.] hätte entschieden werden müssen. Ein die Haftung der [X.]vollständig zu Fall bringendes, gänzlich überwiegendes Mitverschulden [X.] kam von vornherein nicht in Betracht, zumal in derartigen Fällenein Mitverschulden des Patienten ohnehin mit größter Vorsicht zu beurteilen ist(vgl. z.B. [X.]Z 96, 98, 101 ff.).2. Keinen Erfolg können die Angriffe der Revision auch insoweit haben,als sie sich gegen die Auffassung des Berufungsgerichts richten, der [X.]sei ein schuldhaft behandlungsfehlerhaftes Verhalten gegenüber der Klägerin- 6 -anzulasten. Das Berufungsgericht ist auf der Grundlage der erhobenen [X.] rechtsfehlerfrei zu der Beurteilung gelangt, die Beklagte habe dadurch, [X.] auf das Telefongespräch mit dem Ehemann der Klägerin in der Nacht vom8./9. August 1995 reagierte, gegen ihre ärztlichen Pflichten verstoßen. [X.] Stellungnahmen des gerichtlichen Sachverständigen Dr. K.tragen die Bewertung des Berufungsgerichts, die Beklagte hätte sich in [X.] nicht darauf beschränken dürfen, dem Ehemann lediglich zu empfehlen,auf die Klägerin aufzupassen und am nächsten Morgen mit ihr in die Sprech-stunde zu kommen; sie hätte vielmehr einen Hausbesuch vornehmen und sichselbst vom Zustand der Klägerin überzeugen oder jedenfalls anderweite Maß-nahmen veranlassen müssen, die eine sofortige ärztliche Betreuung und Ver-sorgung der Klägerin sicherzustellen geeignet waren. Das Berufungsgerichtkonnte insoweit ohne Rechtsfehler davon ausgehen, daß die Beklagte ange-sichts der ihr vom Ehemann der Klägerin telefonisch mitgeteilten [X.] der ihr bekannten Vorgeschichte, auch im Hinblick auf die ihr am Nach-mittag des 8. August 1995 berichtete Medikamenteneinnahme, die Gefahr inRechnung stellen mußte, bei der Klägerin könnte sich eine krisenhafte psychi-sche Situation entwickelt haben, die eine unmittelbare ärztliche Überprüfungerforderte.3. Die Revision rügt jedoch mit Erfolg die Überlegungen als rechtsfeh-lerhaft, mit denen im Berufungsurteil eine Kausalität dieses Behandlungsfeh-lers der [X.] für die gesundheitliche Schädigung der Klägerin bejaht wird.Sie wendet sich insbesondere mit Recht gegen die Beurteilung des Berufungs-gerichts, es liege hier ein grob behandlungsfehlerhaftes Verhalten der [X.] vor, das zu einer Umkehr der Beweislast in der Kausalitätsfrage zugunstender Klägerin [X.]) Ein grober Behandlungsfehler setzt nicht nur einen eindeutigen [X.] gegen bewährte ärztliche [X.] oder gesicherte medizini-sche Erkenntnisse voraus, sondern erfordert auch die Feststellung, daß [X.] vorliegt, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weiler einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf (st.Rspr., vgl. z.B. [X.]Z138, 1, 6; Senatsurteile vom 19. November 1996 - [X.], VersR 1997,315, 316; vom 3. November 1998 - [X.], [X.], 231, 232 undvom 29. Mai 2001 - [X.]/00, zur [X.] bestimmt). Die Beurtei-lung, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, obliegt zwar dem Tatrichter; [X.] wertende Entscheidung muß aber auf ausreichenden tatsächlichen Fest-stellungen beruhen, die sich auf die medizinische Bewertung des [X.] durch den Sachverständigen stützen und auf dieser [X.] die juristische Gewichtung des ärztlichen Vorgehens als grob behand-lungsfehlerhaft zu tragen vermögen; es ist dem Tatrichter nicht gestattet, ohneentsprechende medizinische Darlegungen des Sachverständigen einen grobenBehandlungsfehler aus eigener Wertung zu bejahen (vgl. z.B. [X.]Z 138, 1, 6f.; Senatsurteile vom 19. November 1996 - [X.], aaO; vom 16. [X.] - VI ZR 321/98 - [X.], 1146, 1148 und vom 29. Mai 2001 - [X.]/00, [X.]) Die Revision beanstandet zu Recht, daß die getroffenen [X.], auf die das Berufungsgericht seine Bewertung des der [X.] unter-laufenen Behandlungsfehlers gründet, die Annahme eines grob fehlerhaftenVorgehens der [X.] nicht zu rechtfertigen vermögen. Insbesondere sinddie medizinischen Ausführungen des Sachverständigen Dr. K., auf die das Be-rufungsgericht Bezug nimmt und auf welche es seine Beurteilung wesentlichstützt, nicht im Sinne der oben dargestellten Rechtsgrundsätze als Grundlage- 8 -des Vorwurfs eines groben Behandlungsfehlers gegenüber der [X.] [X.].Im Berufungsurteil wird zwar beanstandungsfrei unter Auswertung derBekundungen des Sachverständigen ausgeführt, daß die Beklagte, als sie inder Nacht zum 9. August 1995 vom Ehemann der Klägerin angerufen wurde,bei der Patientin eine psychische Störung mit Suizidgefahr für möglich hätteerachten und dementsprechend medizinische Maßnahmen hätte ergreifenmüssen, sich nämlich entweder persönlich über den Zustand der [X.]durch einen Hausbesuch zu informieren oder mindestens den ärztlichen Not-falldienst einzuschalten. Daraus ergibt sich jedoch nur, daß das Vorgehen der[X.] in jener Nacht nicht dem anerkannten ärztlichen Standard entsprach,also behandlungsfehlerhaft war. Die Bewertung als grob fehlerhaft rechtfertigtsich hieraus aber nicht. Im Berufungsurteil sind keine medizinischen Darlegun-gen des Sachverständigen mitgeteilt, aus denen sich ergeben könnte, daß an-gesichts eines Verstoßes gegen bewährte und gesicherte ärztliche Regeln [X.] ein unverständliches Fehlverhalten der [X.] vorgelegenhat, das einem Arzt, gerade auch einer Ärztin für Allgemeinmedizin in der hiergegebenen Situation, schlechterdings nicht unterlaufen darf (vgl. zu einemähnlich gelagerten Sachverhalt Senatsurteil vom 2. Dezember 1997- VI ZR 386/96 - [X.], 242 f.); die mitgeteilten und im Berufungsurteil inbezug genommenen Äußerungen des Sachverständigen tragen nicht einmaldie Bewertung des Berufungsgerichts, der Gutachter sei hier von einem erheb-lichen Verstoß gegen ärztliche Pflichten ausgegangen.4. Wie die Revision des weiteren zu Recht beanstandet, rechtfertigendie bisher getroffenen Feststellungen auch keine Beweislastumkehr in [X.] zugunsten der Klägerin aus den Grundsätzen zur Verletzung- 9 -einer [X.]. Soweit im Berufungsurteil darauf abgestellt wird,das Unterlassen eines nächtlichen Hausbesuchs bei der Klägerin sei als einederartige Verletzung der [X.] zu werten, die für sich [X.] grob fehlerhaft anzusehen sei, fehlen - wie bereits erörtert - die für einesolche Beurteilung notwendigen medizinischen Tatsachengrundlagen. Für [X.] der Voraussetzungen, unter denen im Rahmen eines - als solchennicht grob fehlerhaften - Verstoßes gegen die [X.] eineBeweislastumkehr in der Kausalitätsfrage in Betracht kommen kann (vgl. hierzuz.B. [X.]Z 132, 47, 50 ff.; Senatsurteil vom 6. Oktober 1998 - VI ZR 239/97,[X.], 60 f. m.w.N.), sind den im Berufungsurteil getroffenen [X.] keine hinreichenden Anhaltspunkte zu entnehmen; insbesondere ist [X.] ersichtlich, daß sich bei einem von der [X.] in der Nacht vorge-nommenen Hausbesuch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein so gravie-rendes [X.] gezeigt hätte, daß sofort Maßnahmen zur [X.] hätten ergriffen werden müssen.II[X.] Berufungsurteil war daher aufzuheben und die Sache zur weiterenAufklärung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.[X.]Dr. Dressler[X.][X.]Pauge

Meta

VI ZR 286/00

19.06.2001

Bundesgerichtshof VI. Zivilsenat

Sachgebiet: ZR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 19.06.2001, Az. VI ZR 286/00 (REWIS RS 2001, 2221)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2001, 2221

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