Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 25.10.2011, Az. VI ZR 139/10

VI. Zivilsenat | REWIS RS 2011, 2012

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BUNDESGERI[X.]HTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL
VI [X.]/10
Verkündet am:

25. Oktober 2011

Holmes,

Justizangestellte

als Urkundsbeamtin

der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit

Nachschlagewerk:
ja
[X.]Z:
nein
[X.]R:
ja
BGB § 823 Aa, [X.]; ZPO § 286 G
Ein Behandlungsfehler ist als grob zu bewerten, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche [X.] oder gesicherte medizinische Erkennt-nisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht
nicht mehr verständlich erscheint,
weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlau-fen darf.

[X.], Urteil vom 25. Oktober 2011 -
VI [X.]/10 -
OLG [X.]/Main

[X.]

-

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Der VI.
Zivilsenat des [X.] hat auf die mündliche Verhandlung vom
25. Oktober 2011
durch den Vorsitzenden [X.],
die [X.] Zoll und Wellner und die [X.]innen [X.] und von Pentz
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 8.
Zivilsenats des [X.]s [X.] am Main vom 18.
Mai 2010 aufge-hoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsge-richt zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand:
Der 1956 geborene
und während des Revisionsverfahrens am 29.
November 2010 verstorbene vormalige Kläger
(künftig: Kläger),
der von seiner Tochter, der jetzigen Klägerin allein beerbt worden ist, litt
am Abend des 18.
November 2002
beim Sport an Schmerzen im Brustraum, Atemnot, Schwindelgefühl und Erbrechen. Der herbeigerufene
Hausarzt alarmierte einen Notarzt, der nach einem
EKG einen Myokardinfarkt diagnostizierte und den Kläger in das von der Beklagten geführte Krankenhaus [X.], wo er am 19.
November 2002 kurz nach Mitternacht
aufgenommen wurde. Unmittelbar 1
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nach der Einlieferung erhob die Ärztin Dr.
B. Befunde, darunter auch wiederum ein EKG, diagnostizierte ebenfalls einen Myokardinfarkt, entschied sich für eine medikamentöse Behandlung und ordnete für den späteren Morgen des Tages eine Herzkatheteruntersuchung und eine Koronarangiographie an. Eine Fibrino-lyse unterblieb zunächst. Im Verlaufe der Nacht litt der Kläger um 2.30 Uhr [X.] unter Schmerzen, woraufhin Frau Dr.
B. ein weiteres EKG erheben ließ. Zwischen 8.49
Uhr und 9.37
Uhr führte der Oberarzt Dr.
G. eine Echokardio-graphie und eine Koronarangiographie durch. Er diagnostizierte einen akuten Hinterwandinfarkt und eine Postinfarktangina. Er ordnete eine lokale Lyse und eine Fortführung der Aggrastat-
und Heparintherapie an.
Die Klägerin macht geltend, ihr Vater sei von Frau Dr.
B. fehlerhaft be-handelt worden, weil keine sofortige Fibrinolysetherapie (medikamentöse Auflö-sung von Blutgerinnseln) durchgeführt worden sei. Wäre sie sogleich
nach der Einlieferung
und nicht erst am Morgen durchgeführt worden, so wäre das thrombotisch verschlossene Infarktgefäß wieder eröffnet und das Herzmuskel-gewebe vor irreversiblen Schädigungen bewahrt worden.
Das [X.] hat die auf Zahlung eines Schmerzensgeldes, materiel-len Schadensersatz und Feststellung der Ersatzpflicht für künftige weitere mate-rielle und immaterielle Schäden gerichtete Klage abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung hat das [X.] zurückgewiesen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin das Klagebe-gehren weiter.
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Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht stellt fest, dass der Ärztin Dr.
B. ein vorwerfbarer Behandlungsfehler unterlaufen sei, weil die Durchführung einer sofortigen Fibri-nolyse nach der Einlieferung des [X.] "zwingend indiziert" gewesen sei. Es sieht sich jedoch gleichwohl außerstande, die notwendige Kausalität dieses Fehlers für die behaupteten Beeinträchtigungen feststellen zu können. Zwar habe die unterlassene Therapie grundsätzlich gute [X.]hancen gehabt, den Zu-stand des Erblassers
zu verbessern,
positiv feststellen lasse sich ein günstige-rer Verlauf bei unterstellter Lysetherapie zur Überzeugung des Berufungsge-richts jedoch nicht. Eine Beweislastumkehr
wegen eines groben Behandlungs-fehlers komme
dem Kläger nicht zugute. Der Sachverständige
habe nicht die Wertung getroffen, dass das eindeutig fehlerhafte Vorgehen aus objektiver ärzt-licher Sicht nicht
mehr verständlich erscheine, da Frau Dr.
B. immerhin ein Be-handlungskonzept verfolgt habe, welches auf einer Fehleinschätzung hinsicht-lich der -
tatsächlich nicht anzunehmenden
-
spontanen Wiedereröffnung der verschlossenen Gefäße einerseits und der Risiken einer Fibrinolyse anderer-seits beruht habe.

II.
Die Beurteilung des Berufungsgerichts hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.
1. Die Revision
wendet sich mit Erfolg
gegen die Beurteilung des [X.], dem Kläger komme eine Beweislastumkehr wegen eines groben Behandlungsfehlers
nicht
zu Gute.
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a) Zwar richtet sich die Bewertung eines ärztlichen Fehlverhaltens als
grob nach den gesamten Umständen des Einzelfalls, deren Würdigung weitge-hend im tatrichterlichen Bereich liegt. [X.] ist jedoch sowohl nachzuprüfen, ob das Berufungsgericht den Begriff des groben Behandlungs-fehlers verkannt, als auch, ob es bei der Gewichtung dieses Fehlers erhebli-chen Prozessstoff außer Betracht gelassen oder [X.] gewürdigt hat (st. Rspr.; vgl. etwa Senatsurteile vom 28.
Mai 2002 -
VI
ZR 42/01, [X.], 1026, 1027; vom 27.
März 2007 -
VI
ZR 55/05, [X.]Z 172, 1 Rn.
24; vom 16.
Juni 2009 -
VI
ZR 157/08, [X.], 1267 Rn.
8 und vom 20.
September 2011 -
VI
ZR 55/09, juris Rn.
8). Solche Rechtsfehler liegen hier vor.
b) Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass ein Be-handlungsfehler nur dann als grob zu bewerten ist, wenn der Arzt eindeutig ge-gen bewährte ärztliche [X.] oder gesicherte medizinische [X.] verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt
schlechterdings nicht [X.] darf (Senatsurteile vom 27.
April 2004 -
VI
ZR 34/03, [X.]Z 159, 48, 53; vom 27.
März 2007 -
VI
ZR 55/05, [X.]Z 172, 1 Rn.
25; vom 16.
Juni 2009 -
VI
ZR 157/08, [X.], 1267 Rn.
15; Beschluss vom 22.
September 2009 -
VI
ZR 32/09, [X.], 72 Rn.
6
und vom 20.
September 2011 -
VI
ZR 55/09, juris Rn.
10).
c) Es hat aber nicht hinreichend beachtet, dass die Beurteilung, ob ein Behandlungsfehler als grob oder nicht grob einzustufen ist, eine juristische [X.] ist, die
dem Tatrichter und nicht dem Sachverständigen obliegt, und dar-über hinaus den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt. Zwar muss die Be-wertung eines [X.] als grob fehlerhaft in den Ausführun-gen eines Sachverständigen ihre tatsächliche Grundlage finden; sie darf auch keinesfalls entgegen dessen fachlichen Ausführungen bejaht werden (Senatsur-7
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6

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teile vom 25.
November 2003 -
VI
ZR 8/03,
VersR 2004, 645, 647; vom 12.
Februar 2008 -
VI
ZR 221/06,
VersR 2008, 644, 645; Beschluss vom 9.
Juni 2009 -
VI [X.]/08,
[X.], 1406, 1408). Das bedeutet aber nicht, dass der [X.] die Bewertung dem Sachverständigen überlassen und nur die [X.] Fälle, in denen dieser das ärztliche Verhalten als nicht nachvollziehbar bezeichnet, als grob werten darf. Vielmehr hat der Tatrichter darauf zu achten, ob der Sachverständige in seiner Würdigung einen Verstoß gegen elementare medizinische Erkenntnisse oder elementare Behandlungsstandards oder ledig-lich eine Fehlentscheidung in mehr oder weniger schwieriger Lage erkennt (vgl. Senatsbeschluss vom 9.
Juni 2009 -
VI
[X.]/08, aaO). [X.] sich der Sachverständige einerseits deutlich vom Vorgehen des Arztes, hält er es aber andererseits noch für nachvollziehbar, so hat der Tatrichter die Äußerungen des Sachverständigen kritisch zu hinterfragen und sowohl den für eine solche Be-handlung geltenden Sorgfaltsmaßstab als auch die tatsächlichen Vorausset-zungen eines groben Behandlungsfehlers -
ggf. erneut
-
mit dem [X.] zu erörtern (vgl. Senatsbeschluss vom 9. Juni 2009 -
VI
[X.]/08,
aaO). Andernfalls bietet der erhobene [X.] keine ausreichende Grundlage für die tatrichterliche Überzeugungsbildung (vgl. Senatsurteil vom 12.
Februar 2008 -
VI
ZR 221/06,
VersR 2008, 644, 645 mwN).
aa) Im Streitfall hat der Sachverständige die sofortige Durchführung einer Fibrinolyse nach Einlieferung des [X.] für zwingend indiziert gehalten. Auch unter Berücksichtigung der Umstände, die die Beklagte zur Verteidigung für das Zuwarten von Frau [X.] angeführt habe, sei eine sofortige Fibrinolyse zwin-gend geboten gewesen. Die [X.] und das verbesserte klini-sche Bild seien als typische Wirkung der stattgefundenen
Medikation zu [X.], die es keinesfalls gerechtfertigt hätten, eine andere als die sofortige Fibri-nolysebehandlung durchzuführen, sofern -
wie hier
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keine primäre Koronaran-gioplastie im Rahmen einer Herzkatheteruntersuchung vorgenommen werde. 10
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Anhaltspunkte dafür, dass die verstopften Herzgefäße bereits in einem Umfang wiedereröffnet gewesen seien, der eine Fibrinolyse entbehrlich erscheinen las-sen könnte, habe es entgegen der Auffassung der Beklagten nicht gegeben. Vielmehr hätte eine
-
zur Absicherung der behaupteten Diagnose von Frau Dr.
B. gebotene
-
Untersuchung des Herzens mittels Ultraschall den [X.] Gefäßverschluss gezeigt. Dementsprechend habe der Oberarzt noch am Morgen nach der Einlieferung des [X.] die Fibrinolyse angeordnet.
[X.]) Bei dieser Sachlage hätte das Berufungsgericht die Wertung des Sachverständigen, das eindeutig fehlerhafte Vorgehen der Beklagten sei noch verständlich, nicht ohne weiteres übernehmen dürfen. Der Sachverständige hat das Vorgehen der Beklagten für nachvollziehbar gehalten, weil die Beklagte ein Behandlungskonzept verfolgt habe, das auf einer Fehleinschätzung hinsichtlich der -
tatsächlich nicht anzunehmenden
-
spontanen Wiedereröffnung der [X.] Gefäße beruht habe. Anhaltspunkte, die aus medizinischer Sicht für das konkrete Verhalten sprachen und es damit aus objektiver Sicht nach-vollziehbar erscheinen lassen, hat er hingegen nicht aufgezeigt. Er hat im Ge-genteil darauf hingewiesen, dass Anhaltspunkte für eine Wiedereröffnung der verschlossenen Herzkranzgefäße nicht gegeben waren. Bei dieser Sachlage liegt es nahe, dass der Sachverständige bei der Bewertung des Gewichts des ärztlichen Fehlverhaltens maßgeblich auf den Grad der subjektiven [X.] abgestellt hat. Auf die subjektive [X.] kommt es aber nicht an. Die Annahme einer Beweislastumkehr nach einem groben Behandlungsfehler ist keine Sanktion für ein besonders schweres Arztverschulden, sondern knüpft daran an, dass die Aufklärung des [X.] wegen des Ge-wichts des Behandlungsfehlers und seiner Bedeutung für die Behandlung in besonderer Weise
erschwert worden ist, so dass der Arzt nach [X.] und Glau-ben dem Patienten den [X.] nicht zumuten kann. Erforderlich aber auch genügend ist deshalb ein Fehlverhalten, das nicht aus subjektiven, in 11
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der Person des handelnden Arztes liegenden Gründen, sondern aus objektiver ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich erscheint (vgl. Senatsurteil vom 26.
November 1991 -
VI
ZR 389/90, [X.], 238, 239 mwN). Hierauf hätte das Berufungsgericht den Sachverständigen hinweisen und seine Einschätzung kritisch hinterfragen müssen.
cc) Auch die von der Beklagten im Verlaufe des Rechtsstreits behauptete Einschaltung des [X.] war aus objektiver Sicht nicht geeignet, die behandelnde Ärztin zu entlasten und
von der nach Einschätzung des Sach-verständigen "zwingend"
gebotenen
sofortigen
Fibrinolyse Abstand zu nehmen. Denn der Gerichtssachverständige hat hierzu erklärt, wenn es um die [X.] eines
EKG gehe, könne bei einer Sache wie der hier vorliegenden der Hin-tergrunddienst eigentlich gar nichts sagen, ohne das EKG gesehen zu haben. Dies war aber nach dem eigenen Vorbringen der Beklagten nicht der Fall.
12
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2. Das Berufungsgericht wird deshalb erneut zu prüfen haben, ob das Absehen von einer sofortigen Lysebehandlung als grober Behandlungsfehler zu bewerten ist. Dabei wird es gegebenenfalls auch Gelegenheit haben, sich mit den weiteren Einwänden der Revision zu befassen.
Galke
Zoll
Wellner

[X.]
von Pentz

Vorinstanzen:
[X.], Entscheidung vom 24.08.2009 -
4 O 20/07 -

OLG [X.]/Main, Entscheidung vom 18.05.2010 -
8 U 181/09 -

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Meta

VI ZR 139/10

25.10.2011

Bundesgerichtshof VI. Zivilsenat

Sachgebiet: ZR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 25.10.2011, Az. VI ZR 139/10 (REWIS RS 2011, 2012)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 2012

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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VI ZR 139/10

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