Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29.04.2020, Az. XII ZB 454/19

12. Zivilsenat | REWIS RS 2020, 901

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Gegenstand

Betreuerbestellung: Neuerliche Anhörung des Betroffenen nach Anforderung eines Ergänzungsgutachtens


Leitsatz

Stützt das Beschwerdegericht seine Entscheidung in einer Betreuungssache auf ein nach erfolgter Anhörung des Betroffenen eingeholtes ergänzendes Sachverständigengutachten, ist der Betroffene grundsätzlich erneut persönlich anzuhören (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 4. Dezember 2019 - XII ZB 392/19, NJW 2020, 852).

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 6. Zivilkammer des [X.] vom 4. September 2019 insoweit aufgehoben, als die Beschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss des [X.] vom 19. Juli 2019 zurückgewiesen worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des [X.], an das [X.] zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Rechtsbeschwerde zurückgewiesen.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.

Wert: 5.000 €

Gründe

I.

1

Der Betroffene wendet sich gegen die Bestellung eines Betreuers und die Anordnung eines [X.].

2

Der Betroffene leidet unter einer Zwangsstörung, und es besteht bei ihm der Verdacht auf eine paranoide Psychose. Das Amtsgericht hat dem Betroffenen einen Verfahrenspfleger bestellt. Nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und Anhörung des Betroffenen hat es mit Beschluss vom 19. Juni 2019 den Beteiligten zu 1 zum Betreuer bestellt mit dem Aufgabenkreis Gesundheitssorge, Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post im Rahmen des übertragenen [X.], Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern, Wohnungsangelegenheiten und Vertretung in gerichtlichen Verfahren.

3

Mit Beschluss vom selben Tag hat das Amtsgericht auf Anregung des Verfahrenspflegers ein ergänzendes Gutachten des Sachverständigen zur Frage der Erforderlichkeit eines [X.] in anderen Aufgabenbereichen als der Vermögenssorge eingeholt. Das noch an diesem Tag bei Gericht eingegangene Sachverständigengutachten hat das Amtsgericht dem Betroffenen zur Stellungnahme innerhalb von zwei Wochen übersandt. Mit Beschluss vom 19. Juli 2019 hat das Amtsgericht den Aufgabenkreis der bestehenden Betreuung um den Aufgabenbereich der Vertretung in [X.] erweitert und einen Einwilligungsvorbehalt für Willenserklärungen, die den Aufgabenbereich der Wohnungs- und [X.] betreffen, angeordnet. Ohne erneute Anhörung des Betroffenen hat das [X.] die gegen die beiden Beschlüsse gerichteten Beschwerden des Betroffenen zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde.

II.

4

Die Rechtsbeschwerde ist teilweise begründet. Sie führt zu Aufhebung des angegriffenen Beschlusses, soweit darin die Beschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 19. Juli 2019 zurückgewiesen wurde und insoweit zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht. Im Umfang der Aufhebung kann die angefochtene Entscheidung schon aus verfahrensrechtlichen Gründen keinen Bestand haben.

5

1. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Beschwerdegericht unter Verstoß gegen §§ 278 Abs. 1 Satz 1, 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG ohne persönliche Anhörung des Betroffenen über dessen Beschwerde gegen den amtsgerichtlichen Beschluss vom 19. Juli 2019 entschieden hat.

6

a) Nach § 278 Abs. 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines [X.] persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Die Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Betreuungsverfahren die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung von zwingenden Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind (Senatsbeschluss vom 4. Dezember 2019 - [X.] 392/19 - NJW 2020, 852 Rn. 5 mwN).

7

b) Danach durfte das Beschwerdegericht nicht ohne persönliche Anhörung des Betroffenen über dessen Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 19. Juli 2019 entscheiden. Insoweit war das vom Amtsgericht durchgeführte Verfahren fehlerhaft, weil es den Betroffenen vor der im Beschluss vom 19. Juli 2019 getroffenen Entscheidung über die Erweiterung der Betreuung um den Aufgabenbereich der Vertretung in [X.] und der Anordnung des [X.] nach Eingang des ergänzenden Sachverständigengutachtens vom 19. Juni 2019 nicht mehr persönlich angehört hat.

8

aa) Die persönliche Anhörung nach § 278 Abs. 1 Satz 1 FamFG sichert zum einen den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Zum anderen soll durch sie auch sichergestellt werden, dass sich das Gericht vor der Entscheidung einen persönlichen Eindruck von dem Betroffenen verschafft, durch den es in die Lage versetzt wird, das eingeholte Sachverständigengutachten zu würdigen. Diese Zwecke kann die Anhörung des Betroffenen nur dann erfüllen, wenn das Sachverständigengutachten dem Gericht zum Zeitpunkt der Anhörung vorliegt und es dem Betroffenen rechtzeitig vor dem Anhörungstermin überlassen wurde, um diesem Gelegenheit zu geben, sich zu dem Sachverständigengutachten und den sich hieraus ergebenden Umständen zu äußern. Die nach § 278 Abs. 1 Satz 1 FamFG erforderliche Anhörung des Betroffenen ist daher grundsätzlich durchzuführen, nachdem das nach § 280 Abs. 1 Satz 1 FamFG einzuholende Sachverständigengutachten vorliegt (Senatsbeschluss vom 3. Juli 2019 - [X.] 62/19 - FamRZ 2019, 1648 Rn. 13 mwN). Das gilt auch dann, wenn das Betreuungsgericht nach erfolgter Anhörung des Betroffenen ein ergänzendes Sachverständigengutachten eingeholt hat, auf das es maßgeblich seine Entscheidung stützen will (Senatsbeschluss vom 4. Dezember 2019 - [X.] 392/19 - NJW 2020, 852 Rn. 5 mwN).

9

bb) Im vorliegenden Fall hat das Amtsgericht den Betroffenen zu einem Zeitpunkt angehört, als das ergänzende Sachverständigengutachten vom 19. Juni 2019, auf das das Amtsgericht die Erweiterung der bereits eingerichteten Betreuung und die Anordnung des [X.] maßgeblich gestützt hat, noch nicht erstattet war. Zwar hat das Amtsgericht dieses Gutachten dem Betroffenen mit der Möglichkeit zur Stellungnahme innerhalb von zwei Wochen übersandt. Dies genügt jedoch nicht den Anforderungen an die persönliche Anhörung i.[X.]. § 278 Abs. 1 FamFG. Mit der Übersendung des Gutachtens an den Betroffenen und der ihm eingeräumten Möglichkeit zur Stellungnahme hat das Amtsgericht zwar dem Betroffenen rechtliches Gehör gewährt. Zu Recht rügt die Rechtsbeschwerde aber eine nicht ausreichende Sachaufklärung. Durch die hier gewählte Verfahrensweise konnte das Amtsgericht insbesondere die im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht (§ 26 FamFG) gebotene kritische Überprüfung des Gutachtens anhand des in einer Anhörung gewonnenen persönlichen Eindrucks nicht vornehmen. Dies wäre jedoch hier deshalb von besonderer Bedeutung gewesen, weil das Amtsgericht gerade die besonders in die Rechte des Betroffenen eingreifende Anordnung des [X.] auf das ergänzende Sachverständigengutachten gestützt hat und der Betroffene in der zuvor durchgeführten Anhörung geäußert hatte, einen Einwilligungsvorbehalt nicht zu wünschen.

Wegen dieses Verfahrensfehlers des Amtsgerichts hätte das Beschwerdegericht den Betroffenen erneut persönlich anhören müssen.

2. Die angefochtene Entscheidung ist daher gemäß § 74 Abs. 5 FamFG teilweise aufzuheben und die Sache ist im Umfang der Aufhebung an das [X.] zurückzuverweisen (§ 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG).

3. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).

Dose     

        

Klinkhammer     

        

Günter

        

Nedden-Boeger      

        

Botur      

        

Meta

XII ZB 454/19

29.04.2020

Bundesgerichtshof 12. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Landshut, 4. September 2019, Az: 64 T 2637/19

§ 68 Abs 3 S 1 FamFG, § 68 Abs 3 S 2 FamFG, § 278 Abs 1 S 1 FamFG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29.04.2020, Az. XII ZB 454/19 (REWIS RS 2020, 901)

Papier­fundstellen: MDR 2020, 812-813 REWIS RS 2020, 901

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

XII ZB 315/20

Zitiert

XII ZB 392/19

XII ZB 62/19

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