Bundesgerichtshof, Urteil vom 10.11.2022, Az. X ZR 97/21

10. Zivilsenat | REWIS RS 2022, 7459

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Gegenstand

(Notwendigkeit eines Vortrags eines Luftfahrtunternehmens zu anderweitigen Möglichkeiten einer Ersatzbeförderung)


Leitsatz

1. Zu den zumutbaren Maßnahmen im Sinne von Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO gehört es, dem Fluggast eine mögliche anderweitige direkte oder indirekte Beförderung mit einem Flug anzubieten, den das betroffene oder ein anderes Luftfahrtunternehmen durchführt und der mit weniger Verspätung als der nächste Flug des betreffenden Luftfahrtunternehmens ankommt, es sei denn, die Durchführung einer solchen anderweitigen Beförderung stellt für das betreffende Unternehmen angesichts seiner Kapazitäten zum maßgeblichen Zeitpunkt ein nicht tragbares Opfer dar (Bestätigung von BGH, Urteil vom 6. April 2021 - X ZR 11/20, NJW-RR 2021, 926 = RRa 2021, 188 Rn. 41; im Anschluss an EuGH, Urteil vom 11. Juni 2020 - C-74/19, NJW-RR 2020, 871 = RRa 2020, 185 Rn. 61 - LE/TAP).

2. Vortrag des in Anspruch genommenen Luftfahrtunternehmens zu solchen anderweitigen Beförderungsmöglichkeiten ist nicht deshalb entbehrlich, weil die für die Verspätung ursächlich gewordenen Störungen auf einem Ersatzflug eingetreten sind.

Tenor

Auf die Revision wird das Urteil der 1. Zivilkammer des [X.] vom 13. Oktober 2021 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revisionsinstanz, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Der Kläger nimmt die Beklagte aus eigenem und abgetretenem Recht auf eine Ausgleichszahlung nach der Fluggastrechteverordnung in Anspruch.

2

Der Kläger buchte bei der Beklagten für sich, seine Ehefrau und seine beiden Töchter einen Flug von [X.] ([X.]) nach [X.] am 30. April 2019.

3

Wegen der Zerstörung des Flughafens in [X.] durch ein Unwetter wurden die Fluggäste auf einen Ersatzflug umgebucht, der von [X.] ([X.]) aus startete.

4

Auf dem Ersatzflug kam es zu einer außerplanmäßigen Zwischenlandung in [X.] ([X.]) wegen eines medizinischen Notfalls eines anderen Passagiers. Wegen des hohen Gewichts bei dieser Landung wurde das Flugzeug einer Sicherheitsprüfung unterzogen. Ein sofortiger Weiterflug nach Abschluss dieser Prüfung hätte dazu geführt, dass die vorgeschriebenen Ruhezeiten der Besatzung nicht hätten eingehalten werden können. Der Flug startete daher erst nach Einhaltung der Ruhezeit und erreichte [X.] mit mehr als zwanzig Stunden Verspätung.

5

Der Kläger hat zuletzt eine Ausgleichszahlung in Höhe von 2.400 Euro begehrt. Das Amtsgericht hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt.

6

Das Berufungsgericht hat die Klage abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen erstinstanzlichen Antrag weiter. Die Beklagte tritt dem Rechtsmittel entgegen.

Entscheidungsgründe

7

Die zulässige Revision ist begründet und führt zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

8

I. Das Berufungsgericht hat angenommen, die Beklagte sei als ausführendes Luftfahrtunternehmen trotz der am Endziel eingetretenen Verspätung von mehr als drei Stunden nicht zur Leistung einer Ausgleichszahlung verpflichtet. Eine schwerwiegende oder gar lebensbedrohliche Erkrankung eines Fluggasts stelle einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne von Art. 5 Abs. 3 [X.] dar. Die Beklagte habe ausreichend dargelegt, dass sie eine große Ankunftsverspätung auch unter Einsatz aller zumutbaren Maßnahmen nicht hätte verhindern können. Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts sei die Klage nicht schon deshalb begründet, weil die Beklagte nicht zur Möglichkeit einer Ersatzbeförderung vorgetragen habe. Vom ausführenden Luftfahrtunternehmen könne nicht verlangt werden, jeden einzelnen Fluggast auf eine schnellstmögliche Verbindung umzubuchen, um sich von der Pflicht zur Ausgleichszahlung zu befreien.

9

II. Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

1. Zutreffend und von der Revision unbeanstandet ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass sowohl die Zerstörung des Flughafens in [X.] als auch die Zwischenlandung aufgrund eines medizinischen Notfalls außergewöhnliche Umstände im Sinne von Art. 5 Abs. 3 [X.] darstellen.

2. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist die Beklagte gehalten, zu anderweitigen Möglichkeiten einer Ersatzbeförderung vorzutragen.

a) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der [X.] muss das Luftfahrtunternehmen alles ihm Mögliche und Zumutbare tun, um zu vermeiden, dass es durch außergewöhnliche Umstände genötigt ist, einen Flug zu annullieren, oder dass der Flug nur mit einer großen Verspätung durchgeführt werden kann, deren Folgen für den Fluggast einer Annullierung gleichkommen ([X.], Urteil vom 22. Dezember 2008 - [X.]/07, [X.], 347 = [X.], 35 Rn. 41 - Wallentin-Hermann/[X.]; Urteil vom 4. Mai 2017 - [X.]/15, NJW 2017, 2665 = [X.] 2017, 174 Rn. 34 - [X.]/Travel Service; [X.], Urteil vom 21. August 2012 - [X.], [X.]Z 194, 258 = NJW 2013, 374 Rn. 11; Urteil vom 16. September 2014 - [X.], NJW-RR 2015, 111 = [X.] 2015, 19 Rn. 9).

Welche Maßnahmen einem Luftfahrtunternehmen in diesem Zusammenhang zumutbar sind, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Es kommt zum einen darauf an, welche Vorkehrungen ein Luftfahrtunternehmen nach guter fachlicher Praxis treffen muss, damit nicht bereits bei gewöhnlichem Ablauf des Luftverkehrs geringfügige Beeinträchtigungen das Luftfahrtunternehmen außerstande setzen, seinen vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen und den Flugplan im Wesentlichen einzuhalten. Zum anderen muss das Luftfahrtunternehmen, wenn eine mehr als geringfügige Beeinträchtigung tatsächlich eintritt oder erkennbar einzutreten droht, alle ihm in dieser Situation zu Gebote stehenden Maßnahmen ergreifen, um nach Möglichkeit zu verhindern, dass hieraus eine Annullierung oder große Verspätung resultiert ([X.], [X.], 347 = [X.], 35 Rn. 40, 42 - Wallentin-Hermann/[X.]; [X.], Urteil vom 12. Mai 2011 - [X.], NJW 2011, 2865 = [X.] 2011, 125 Rn. 30 - [X.] und [X.]/Air Baltic).

b) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts gehört es zu den danach gebotenen Maßnahmen, dem Fluggast eine mögliche anderweitige direkte oder indirekte Beförderung mit einem Flug anzubieten, den das betroffene oder ein anderes Luftfahrtunternehmen durchführt und der mit weniger Verspätung als der nächste Flug des betreffenden Luftfahrtunternehmens ankommt, es sei denn, die Durchführung einer solchen anderweitigen Beförderung stellt für das betreffende Unternehmen angesichts seiner Kapazitäten zum maßgeblichen Zeitpunkt ein nicht tragbares Opfer dar ([X.], Urteil vom 11. Juni 2020 - [X.]/19, NJW-RR 2020, 871 = [X.] 2020, 185 Rn. 61 - [X.]/TAP).

Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts steht diese Rechtsprechung, der sich der Senat angeschlossen hat ([X.], Urteil vom 6. April 2021 - [X.], NJW-RR 2021, 926 = [X.] 2021, 188 Rn. 41), in Einklang mit der Systematik der Fluggastrechteverordnung.

Nach Art. 5 Abs. 3 [X.] hat das ausführende Luftfahrtunternehmen grundsätzlich alle zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen, die ihrer Art nach geeignet sind, eine Annullierung oder große Verspätung zu vermeiden. Zu diesen Maßnahmen kann auch eine anderweitige Beförderung gehören.

Dass ein Fluggast eine anderweitige Beförderung schon nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. a und Art. 8 Abs. 1 Buchst. b [X.] verlangen kann, führt nicht zu einer anderen Beurteilung. Eine zur Verfügung stehende Maßnahme ist nicht allein deshalb unzumutbar, weil sie ohnehin geschuldet ist.

c) Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung war Vortrag der Beklagten zu anderweitigen Beförderungsmöglichkeiten nicht deshalb entbehrlich, weil die für die Verspätung ursächlich gewordenen Störungen auf einem Ersatzflug eingetreten sind.

Wie bereits oben dargelegt wurde, hängt die Beurteilung der Frage, welche Maßnahmen zumutbar sind, von den Umständen des Einzelfalls ab. Ausschlaggebend ist dabei stets, welche Maßnahmen in der konkreten Situation zumutbar sind. In diesem Zusammenhang mag der Umstand, dass das Luftfahrtunternehmen bereits Maßnahmen getroffen hat, um einer zuvor aufgetretenen Störung Rechnung zu tragen, im Einzelfall dazu führen, dass weitere Maßnahmen in Reaktion auf zusätzlich aufgetretene Störungen als nicht mehr tragbares Opfer anzusehen wären. Dies enthebt das Luftfahrtunternehmen aber nicht der Pflicht, sich ungeachtet einer bereits eingetretenen Störung auch bei jeder weiteren Störung um zumutbare Maßnahmen zu bemühen.

Vor diesem Hintergrund ist die Beklagte im Streitfall gehalten, näher vorzutragen, welche Maßnahmen in Betracht kamen, um eine Annullierung oder große Verspätung des [X.] zu vermeiden. Nur auf der Grundlage solchen Vorbringens ist es möglich zu beurteilen, ob in Betracht kommende Maßnahmen noch zumutbar waren.

III. [X.] ist nicht zur Entscheidung reif.

1. Wie die Revisionserwiderung zu Recht geltend macht, hat die Beklagte der ihr obliegenden Darlegungslast im Streitfall durch den in ihrer Berufungsbegründung enthaltenen Vortrag genügt, eine Beförderung auf einem anderen Flug sei nicht in Betracht gekommen, weil der Kläger und dessen Familie nicht über die hierzu erforderliche Erlaubnis zur Einreise in die [X.] verfügt hätten.

2. Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung ist dieser Vortrag in einem entscheidenden Punkt bestritten.

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht zwar bestätigt, dass die meisten Passagiere keine Einreisegenehmigung in die [X.] ([X.]) hatten und ein Passieren der Kontrolle daher nicht möglich war. In der [X.] hat er aber geltend gemacht, anderen Fluggästen sei es möglich gewesen, mit einer anderen Flugverbindung [X.] früher zu erreichen. Dieser Vortrag lässt, wie die Revision zu Recht geltend macht, erkennen, dass der Kläger die Notwendigkeit einer Einreisegenehmigung für das Umsteigen auf einen anderen Flug bestreitet.

Das Berufungsgericht wird den Sachverhalt nach der Zurückverweisung diesbezüglich aufzuklären haben.

IV. Für ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der [X.] gemäß Art. 267 AEUV besteht kein Anlass.

Der Streitfall wirft keine neuen Fragen zur Auslegung der Fluggastrechteverordnung auf. Er erfordert lediglich eine Subsumtion der maßgeblichen Sachverhaltselemente des zu entscheidenden Einzelfalls unter die oben dargestellten, in der Rechtsprechung bereits geklärten Grundsätze.

[X.]     

  

Hoffmann     

  

Deichfuß

  

Kober-Dehm     

  

Marx     

  

Meta

X ZR 97/21

10.11.2022

Bundesgerichtshof 10. Zivilsenat

Urteil

Sachgebiet: ZR

vorgehend LG Landshut, 13. Oktober 2021, Az: 14 S 1361/21

Art 5 Abs 3 EGV 261/2004

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 10.11.2022, Az. X ZR 97/21 (REWIS RS 2022, 7459)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 7459 MDR 2023, 88-89 REWIS RS 2022, 7459

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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