Bundesfinanzhof, Urteil vom 12.12.2012, Az. VI R 101/10

6. Senat | REWIS RS 2012, 445

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Kindergeld: Behinderungsbedingter Mehrbedarf eines volljährigen behinderten Kindes


Leitsatz

1. Das Entstehen des behinderungsbedingten Mehrbedarfs eines volljährigen behinderten Kindes ist dem Grunde und der Höhe nach substantiiert darzulegen und glaubhaft zu machen. Steht ein behinderungsbedingter Mehrbedarf dem Grunde nach zur Überzeugung des Gerichts fest, ist er bei fehlendem Nachweis der Höhe nach zu schätzen (Bestätigung der BFH-Urteile vom 9. Februar 2012 III R 53/10, BFHE 236, 417; vom 24. August 2004 VIII R 50/03, BFHE 207, 250, BStBl II 2010, 1052; VIII R 90/03, BFH/NV 2005, 332) .

2. Werden mit einer Behinderung im Zusammenhang stehende Kosten im Wege der Eingliederungshilfe gemäß §§ 53 ff. SGB XII durch einen Sozialleistungsträger übernommen, ist die gewährte Eingliederungshilfe einerseits als Leistung eines Dritten bei den zur Verfügung stehenden eigenen finanziellen Mitteln und andererseits als im Einzelnen nachgewiesener behinderungsbedingter Mehrbedarf zu berücksichtigen (Bestätigung des BFH-Urteils in BFHE 236, 417) .

Tatbestand

1

I. Streitig ist, ob für ein volljähriges behindertes Kind ein Anspruch auf Kindergeld besteht.

2

[X.] (Kläger) leidet an einer dauerhaften psychischen Erkrankung, aufgrund derer der Grad seiner Minderung der Erwerbsfähigkeit 100 beträgt. Er ist in einer Werkstatt für behinderte Menschen ([X.]) teilstationär aufgenommen worden und lebt in einer betreuten Wohnmöglichkeit.

3

Er erhält finanzielle Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach §§ 53 ff. des [X.] ([X.]). Diese werden für das Leben in einer betreuten Wohnmöglichkeit sowie für die teilstationäre Betreuung in der [X.] einschließlich ambulanter Betreuung zur Unterstützung ihres Besuchs geleistet. Der [X.] des [X.] erhielt anlässlich seiner Tätigkeit in der [X.] monatlich 30 €. Zusätzlich wird an ihn nach §§ 41 ff. [X.] geleistet. Ab September 2005 wurde der Kläger zu einem Kostenbeitrag an den Träger der Sozialhilfe herangezogen (§ 94 Abs. 2 SGB XII).

4

Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) gewährte dem Kläger zunächst Kindergeld, hob die Festsetzung des Kindergeldes jedoch zuerst ab Januar 2006 und sodann für den Zeitraum Januar bis Dezember 2005 auf, da der [X.] des [X.] seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten könne. Gleichzeitig forderte die Familienkasse von dem Kläger das bereits ausgezahlte Kindergeld für den Zeitraum Januar bis Dezember 2005 zurück. Die hiergegen eingelegten Einsprüche hatten keinen Erfolg.

5

Das Finanzgericht ([X.]) wies die jeweils dagegen erhobenen und zu einem gemeinsamen Verfahren verbundenen Klagen ab. Der [X.] des [X.] sei aufgrund der Gewährung von Eingliederungshilfe und Grundsicherungsleistungen in der Lage gewesen, sich selbst zu unterhalten. Denn die ihm dadurch zur Verfügung stehenden Mittel überschritten seinen existenziellen Lebensbedarf.

6

Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.

7

Er beantragt,
das Urteil des [X.] vom 21. Januar 2009  7 K 30/07 sowie den Bescheid der Familienkasse vom 30. Januar 2007 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 1. März 2007 und den Bescheid der Familienkasse vom 6. Juli 2006 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 25. Januar 2007 aufzuheben.

8

Die Familienkasse beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

9

II. Die Revision des [X.] ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Das [X.] hat rechtsfehlerfrei einen Anspruch des [X.] auf Kindergeld für seinen behinderten [X.] verneint.

1. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) besteht für ein volljähriges Kind ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten und die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist.

a) Ob ein behindertes Kind außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, ist anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen zu prüfen, nämlich der dem Kind zur Verfügung stehenden eigenen finanziellen Mittel einerseits und seinem existenziellen Lebensbedarf andererseits (Urteile des [X.] --BFH-- vom 24. August 2004 VIII R 83/02, [X.], 244, [X.], 248; vom 26. November 2003 VIII R 32/02, [X.], 454, [X.], 588, m.w.N.). Bei gleichbleibenden monatlichen Einnahmen und einem monatlich gleichbleibenden behinderungsbedingten Mehraufwand kann es dahinstehen, ob insoweit auf den Kalendermonat oder das Kalenderjahr abzustellen ist. Denn in diesen Fällen führt der Vergleich zu demselben Ergebnis (BFH-Urteil in [X.], 244, [X.], 248).

aa) Zu den dem behinderten Kind zur Verfügung stehenden eigenen finanziellen Mitteln gehören nicht nur dessen Einkünfte und Bezüge als verfügbares Einkommen, sondern auch Leistungen Dritter, wie etwa solche im Zusammenhang mit der Unterbringung in einer [X.] oder die in der [X.] gewährte Verpflegung; auf die Herkunft der Mittel und ihre Zweckbestimmung kommt es in diesem Zusammenhang nicht an (vgl. BFH-Urteil vom 9. Februar 2012 III R 53/10, [X.], 417). Soweit allerdings ein Sozialleistungsträger für seine Leistungen bei den Eltern Rückgriff nimmt, dürfen solche Leistungen nicht als Bezüge des Kindes angesehen werden (BFH-Urteile vom 17. November 2004 VIII R 22/04, [X.] 2005, 541; in [X.], 454, [X.], 588).

bb) Der existenzielle Lebensbedarf des behinderten Kindes ergibt sich typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf), der sich an dem maßgeblichen Jahresgrenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG orientiert, sowie aus dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf (BFH-Urteile vom 22. Oktober 2009 III R 50/07, [X.], 17, [X.], 38; vom 9. Februar 2009 III R 37/07, [X.], 290, BStBl II 2009, 928; vom 19. November 2008 III R 105/07, [X.], 365, [X.], 1057).

Der behinderungsbedingte Mehrbedarf umfasst Aufwendungen, die gesunde Kinder nicht haben. Dazu gehören alle mit einer Behinderung zusammenhängenden außergewöhnlichen wirtschaftlichen Belastungen, etwa Aufwendungen für zusätzliche Wäsche, Unterstützungs- und Hilfeleistungen sowie typische Erschwernisaufwendungen (BFH-Urteil in [X.], 417). Das Entstehen derartiger Aufwendungen ist dem Grunde und der Höhe nach substantiiert darzulegen und glaubhaft zu machen (BFH-Urteile vom 24. August 2004 VIII R 50/03, [X.], 250, [X.], 1052; VIII R 90/03, [X.] 2005, 332). Steht ein behinderungsbedingter Mehrbedarf dem Grunde nach zur Überzeugung des Gerichts fest, ist er bei fehlendem Nachweis der Höhe nach gemäß § 162 der Abgabenordnung zu schätzen (BFH-Urteile in [X.], 417; in [X.], 250, [X.], 1052; in [X.] 2005, 332).

b) Werden mit einer Behinderung im Zusammenhang stehende Kosten im Wege der Eingliederungshilfe gemäß §§ 53 ff. [X.] durch einen Sozialleistungsträger übernommen, ist die gewährte Eingliederungshilfe einerseits als Leistung eines Dritten bei den zur Verfügung stehenden eigenen finanziellen Mitteln und andererseits als im Einzelnen nachgewiesener behinderungsbedingter Mehrbedarf zu berücksichtigen (BFH-Urteil in [X.], 417). Da diese vom Sozialleistungsträger übernommenen Kosten hierdurch bereits in tatsächlicher Höhe als behinderungsbedingter Mehrbedarf erfasst sind, scheidet ihre nochmalige Berücksichtigung durch die in § 33b Abs. 3 EStG festgelegten [X.] aus (vgl. BFH-Urteile in [X.], 417; in [X.], 250, [X.], 1052; in [X.] 2005, 332).

2. Das [X.] hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass der [X.] des [X.] in der Lage war, sich selbst zu unterhalten.

a) Als dem Kind zur Verfügung stehende finanzielle Mittel hat es die Grundsicherungsleistungen sowie die Eingliederungshilfe angesetzt, soweit der Kläger nicht zu einem Kostenbeitrag an den Träger der Sozialhilfe herangezogen wurde.

b) Das [X.] hat den allgemeinen Lebensbedarf rechtsfehlerfrei mit dem jeweiligen Jahresgrenzbetrag gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG bemessen. In revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise ist es überdies davon ausgegangen, dass neben den Zuzahlungen zu Arzneimitteln ein über den Betrag der geleisteten Eingliederungshilfen hinausgehender behinderungsbedingter Mehrbedarf bereits dem Grunde nach nicht substantiiert dargelegt und glaubhaft gemacht wurde.

aa) Soweit der Kläger rügt, es sei kein behinderungsbedingter Mehrbedarf für Besuchsfahrten seines [X.]es zur Familie berücksichtigt worden, verkennt er, dass im Zusammenhang mit Kontakten zur Familie entstehende Aufwendungen zu dem Grundbedarf zählen (vgl. BFH-Urteile in [X.], 290, BStBl II 2009, 928; vom 15. Oktober 1999 VI R 40/98, [X.], 449, [X.], 75).

bb) Der Ansatz eines weiteren behinderungsbedingten Mehrbedarfs folgt auch nicht aus den [X.] in [X.], 250, [X.], 1052; in [X.] 2005, 332; in [X.], 417, wonach ein für die Zeit der häuslichen Pflege dem Grunde nach feststehender Mehrbedarf ggf. der Höhe nach geschätzt berücksichtigt werden kann.

Denn nach den mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen nicht angegriffenen und den Senat daher gemäß § 118 Abs. 2 [X.]O bindenden Feststellungen des [X.] erhielt der nicht im elterlichen Haushalt lebende [X.] des [X.] finanzielle Leistungen der Eingliederungshilfe sowohl für das Leben in einer betreuten Wohnmöglichkeit als auch für eine ambulante Betreuung zur Unterstützung des Besuchs der [X.]. Ein darüber hinausgehender behinderungsbedingter Mehrbedarf für eine häusliche Versorgung, Betreuung und Unterstützung --etwa durch seine Eltern-- steht daher dem Grunde nach nicht fest. Auch hat der Kläger einen solchen weder substantiiert dargetan noch glaubhaft gemacht.

Soweit der Kläger erstmals im Revisionsverfahren Aufwendungen für weitere Betreuungs- und Unterstützungsleistungen geltend macht, handelt es sich um neues tatsächliches Vorbringen. Dies kann, selbst wenn es erheblich wäre, im Revisionsverfahren nicht mehr berücksichtigt werden, weil der Kläger dessen Nichtberücksichtigung in der Vorinstanz nicht mit durchgreifenden Verfahrensrügen geltend gemacht hat (§ 118 Abs. 2 [X.]O).

c) Das [X.] hat infolgedessen in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise für jeden einzelnen Monat eines zwei vollständige Kalenderjahre umfassenden [X.] einen Überhang der dem [X.] des [X.] zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel festgestellt. Mithin kann dahinstehen, ob insoweit eine Monats- oder eine Jahresbetrachtung maßgeblich ist.

aa) Auch bedarf es hier keiner Entscheidung, ob das [X.] ohne Rechtsfehler einen Sachbezugswert für das in der [X.] gewährte Mittagessen angesetzt hat. Denn der hierfür ggf. zu berücksichtigende Sachbezugswert würde den ohnehin festgestellten [X.] noch erhöhen.

bb) Ohne Erfolg rügt der Kläger, das [X.] habe für die von der [X.] gezahlten Beträge in Höhe von monatlich 30 € keinen [X.] nach § 9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG abgezogen.

Das [X.] hat insoweit entschieden, die von der [X.] gezahlten Beträge seien kein Arbeitslohn und damit als Bezüge des Kindes zu erfassen, wofür eine Kostenpauschale zu berücksichtigen sei.

Mangels Entscheidungserheblichkeit konnte der Senat dahinstehen lassen, ob die von der [X.] an den [X.] des [X.] ausgezahlten Beträge Arbeitslohn sind. Da der vom [X.] festgestellte [X.] jeweils monatlich über 30 € lag, ergäbe sich selbst bei Abzug eines [X.]s noch immer kein Überhang des existenziellen Lebensbedarfs des behinderten Kindes über die ihm zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel. Denn entgegen der Auffassung des [X.] dürfte ein [X.] nach § 9a Satz 2 EStG nur bis zur Höhe der Einnahmen --hier also lediglich bis zur Höhe von monatlich 30 €-- abgezogen werden.

Meta

VI R 101/10

12.12.2012

Bundesfinanzhof 6. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg, 21. Januar 2009, Az: 7 K 30/07, Urteil

§ 62 Abs 1 EStG 2002, § 63 Abs 1 S 1 EStG 2002, § 63 Abs 1 S 2 EStG 2002, § 32 Abs 4 S 1 Nr 3 EStG 2002, § 32 Abs 4 S 2 EStG 2002, § 33b Abs 3 EStG 2002, § 9a S 1 Nr 1 Buchst a EStG 2002, § 9a S 2 EStG 2002, § 162 AO, §§ 53ff SGB 12, §§ 41ff SGB 12, § 94 Abs 2 SGB 12, § 53 SGB 12, § 41 SGB 12, EStG VZ 2005

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 12.12.2012, Az. VI R 101/10 (REWIS RS 2012, 445)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 445

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

III R 53/10 (Bundesfinanzhof)

Kindergeld für ein im Rahmen der Eingliederungshilfe tagsüber teilstationär in einer Werkstatt für behinderte Menschen …


III R 19/19 (Bundesfinanzhof)

Kindergeld; Feststellung der Fähigkeit volljähriger behinderter Kinder zum Selbstunterhalt


III R 28/17 (Bundesfinanzhof)

Kindergeld für behinderte Kinder; keine Berücksichtigung des Kindergelds als kindeseigene Mittel


III R 13/21 (Bundesfinanzhof)

Kindergeldanspruch für ein volljähriges behindertes Kind; Pflegegeld; Unterhaltsanspruch gegenüber dem Ehegatten des behinderten Kindes


III R 24/13 (Bundesfinanzhof)

Abzweigung von Kindergeld an Grundsicherungsträger bei einem teilstationär untergebrachten behinderten Kind


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.