Bundesfinanzhof, Urteil vom 09.02.2012, Az. III R 53/10

3. Senat | REWIS RS 2012, 9327

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Gegenstand

Kindergeld für ein im Rahmen der Eingliederungshilfe tagsüber teilstationär in einer Werkstatt für behinderte Menschen untergebrachtes Kind


Leitsatz

1. Bei der Prüfung der Frage, ob ein behindertes Kind mit den ihm zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln seinen gesamten notwendigen Lebensbedarf (Grundbedarf und behinderungsbedingten Mehrbedarf) bestreiten kann, ist die Eingliederungshilfe als Leistung eines Dritten sowohl auf der Mittel- als auch auf der Bedarfsseite anzusetzen. Sie wirkt sich im Ergebnis deshalb nur in Höhe eines als Sachbezug zu erfassenden Verpflegungswerts aus.

2. Im Fall einer teilstationären Unterbringung kann der Behinderten-Pauschbetrag nach § 33b Abs. 3 EStG nicht zusätzlich zu den Leistungen der Eingliederungshilfe als behinderungsbedingter Mehrbedarf angesetzt werden (Bestätigung der BFH-Urteile vom 24. August 2004 VIII R 50/03, BFHE 207, 250, BStBl II 2010, 1052, und VIII R 90/03, BFH/NV 2005, 332).

3. Bei einem behinderten Kind mit dem Merkzeichen "H" ist es offensichtlich, dass für die Zeit außerhalb der teilstationären Unterbringung ein weiterer behinderungsbedingter und ggf. zu schätzender Mehrbedarf anfällt. Dies gilt nicht nur, wenn das Kind noch im elterlichen Haushalt untergebracht ist, sondern gleichermaßen, wenn es in einem eigenen Haushalt lebt und dort versorgt, betreut und unterstützt wird.

Tatbestand

1

I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist die [X.]utter ihres im August 1973 geborenen [X.] [X.]. Dieser leidet seit seinem 7. Lebensjahr an einer schweren Epilepsie. Laut letztem Bescheid des [X.], Jugend und Familie beträgt der [X.]rad der Behinderung ([X.]dB) 100. Zudem wurden die [X.]erkzeichen "[X.]", "B", "[X.]" sowie "H" festgestellt.

2

[X.] lebt in einer eigenen Wohnung in [X.], wo er von seinen Eltern betreut, versorgt und unterstützt wird. Zeitweise wird [X.] auch im elterlichen Haushalt versorgt. Er geht einer Beschäftigung im Arbeitsbereich der [X.] Werkstätten g[X.]mbH --g[X.]mbH-- (Werkstatt für behinderte [X.]enschen --Wfb[X.]--) nach und erhält insoweit --einschließlich eines freien [X.]ittagessens-- Eingliederungshilfen gemäß §§ 53, 54 des [X.] in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (S[X.]B XII). Als Arbeitsentgelt in der teilstationären Einrichtung erhält [X.] seit Januar 2008 monatlich 152,28 €. Daneben bezieht er --nach Abzug der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung-- eine monatliche Erwerbsunfähigkeitsrente in Höhe von 557,35 €.

3

Den Antrag auf Kindergeld für [X.] lehnte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) mit Bescheid vom 13. [X.]ärz 2008 ab. Der hiergegen eingelegte Einspruch hatte für den Streitzeitraum ab Januar 2008 keinen Erfolg.

4

Das Finanzgericht (F[X.]) gab der Klage statt. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, bei der Ermittlung des existentiellen Lebensbedarfs sei neben dem [X.]rundbedarf mangels [X.] ein behinderungsbedingter [X.]ehrbedarf in Höhe des [X.] zu berücksichtigen. Dem stehe weder entgegen, dass [X.] in einem eigenen Haushalt lebe, noch dass er diesen tagsüber für seine Tätigkeit in den Werkstätten der g[X.]mbH (Wfb[X.]) verlasse. Es sei offensichtlich, dass auch in einem solchen Fall ein behinderungsbedingter [X.]ehrbedarf entstehe.

5

[X.]it ihrer Revision rügt die Familienkasse eine Verletzung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitzeitraum geltenden Fassung (ESt[X.]). Nach Abschnitt 63.3.6.4 Abs. 2 Satz 3 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes (Stand Januar 2009, [X.], 1033) sei zur Ermittlung des behinderungsbedingten [X.]ehrbedarfs auch bei nur teilstationärer Unterbringung immer ein Einzelnachweis erforderlich. Neben dem auf der [X.]rundlage der gezahlten Eingliederungshilfe ermittelten [X.]ehrbedarf komme der zusätzliche Ansatz des [X.] nicht in Betracht, weil der Ansatz der Kosten für die Unterbringung in einer Wfb[X.] einem Einzelnachweis entspreche, so dass daneben für einen Pauschbetrag kein Raum bleibe.

6

Die Familienkasse beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

7

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

8

II. Die Revision der Familienkasse ist unbegründet und nach § 126 Abs. 2 [X.]O zurückzuweisen. Das [X.] hat den Kindergeldanspruch der Klägerin im Ergebnis zu Recht bejaht.

9

1. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 [X.] besteht für ein Kind, welches das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.

2. Nach der Rechtsprechung des [X.] ([X.]) ist ein behindertes Kind dann imstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es mit den ihm zur Verfügung stehenden finanziellen [X.]itteln seinen gesamten notwendigen Lebensbedarf bestreiten kann. Der existentielle Lebensbedarf des behinderten Kindes setzt sich typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem individuellen behinderungsbedingten [X.]ehrbedarf zusammen. [X.]insichtlich des [X.] gilt der Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 [X.] als [X.]aßstab. Der behinderungsbedingte [X.]ehrbedarf umfasst Aufwendungen, die gesunde Kinder nicht haben. Dazu gehören alle mit einer Behinderung zusammenhängenden außergewöhnlichen Belastungen, z.B. Aufwendungen für zusätzliche Wäsche, Unterstützungs- und [X.]ilfeleistungen sowie typische Erschwernisaufwendungen.

Zu den dem behinderten Kind zur Verfügung stehenden eigenen finanziellen [X.]itteln gehören nicht nur dessen Einkünfte und Bezüge als verfügbares Einkommen, sondern auch Leistungen Dritter, wie beispielsweise die Kosten der Unterbringung in einer [X.] (Eingliederungshilfe - [X.]/[X.]/ Stahl/[X.], Kindergeldrecht im öffentlichen Dienst, §§ 32, 63 [X.] [X.]. [X.]/[X.] Rz 352 f. und 366). Auf die [X.]erkunft der [X.]ittel und ihre Zweckbestimmung kommt es in diesem Zusammenhang nicht an ([X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.], Kommentar, § 32 [X.] Rz 486).

3. Das [X.] hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass [X.] im Streitzeitraum behinderungsbedingt nicht in der Lage war, sich selbst zu unterhalten.

a) Nach den Feststellungen des [X.] verfügte [X.] monatlich nur über Einnahmen aus seiner Tätigkeit in der [X.] in [X.]öhe von 152,28 € sowie über eine Erwerbsunfähigkeitsrente in [X.]öhe von 557,35 €. [X.] ist im Streitfall letztlich, dass das [X.] die Kosten für die Beschäftigung von [X.] in der [X.] nicht der [X.]öhe nach festgestellt hat. Diese von dem Sozialleistungsträger im Rahmen der Eingliederungshilfe (§§ 53, 54 [X.]) getragenen Kosten sind sowohl als behinderungsbedingter [X.]ehrbedarf als auch als dem Kind zur Verfügung stehende finanzielle [X.]ittel anzusetzen. Sie wirken sich damit im Ergebnis nur in [X.]öhe des als Sachbezug zu erfassenden [X.] für das freie [X.]ittagessen aus. Das [X.] hat die Berechnung der Familienkasse übernommen und ist insoweit von einem Betrag in [X.]öhe von 80 € ausgegangen, hat also den [X.]onatswert der Sozialversicherungsentgeltverordnung in der im Streitzeitraum geltenden Fassung ([X.]) vom 21. Dezember 2006 ([X.], 3385, [X.], 782) herangezogen. Unter anteiliger Berücksichtigung von [X.] (§ 9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. a [X.]), Werbungskostenpauschbetrag (§ 9a Satz 1 Nr. 3 [X.]) und der Kostenpauschale von 180 € belaufen sich die [X.]ittel von [X.] auf maximal 689,46 € monatlich. Tatsächlich ist davon auszugehen, dass dieser Betrag noch zu hoch ist, da nach § 2 Abs. 6 [X.] für die Tage, an denen keine Verpflegung zur Verfügung gestellt wurde, kein Sachbezug anzusetzen ist.

b) Im Streitzeitraum belief sich der Grundbedarf von [X.] auf monatlich 640 €. Entgegen der Ansicht der Familienkasse kann nicht davon ausgegangen werden, dass der behinderungsbedingte [X.]ehrbedarf nur den [X.] nicht nachgewiesenen-- Unterbringungskosten in der [X.] entspricht, daneben also kein weiterer [X.]ehrbedarf zu berücksichtigen wäre.

aa) Zwar hat der [X.] einerseits bereits entschieden, dass auch im Fall einer nur teilstationären Unterbringung der Behinderten-Pauschbetrag nach § 33b Abs. 3 [X.] nicht zusätzlich zu den Leistungen der Eingliederungshilfe für die Werkstattunterbringung angesetzt werden kann (vgl. [X.]-Urteile vom 24. August 2004 VIII R 50/03, [X.]E 207, 250, [X.], 1052, unter 2.b, und [X.]/03, [X.]/NV 2005, 332). An dieser Auffassung hält der Senat fest (s. bereits Senatsurteil vom 31. August 2006 [X.], [X.]E 214, 544, [X.], 1054).

bb) Der [X.] hat jedoch andererseits keine Zweifel daran gehabt, dass zusätzlich zu den Aufwendungen für die teilstationäre Unterbringung ein weiterer behinderungsbedingter [X.]ehrbedarf anfällt, da offensichtlich ist, dass ein behindertes Kind mit dem [X.]erkmal "[X.]" während des Aufenthalts in dem [X.]aushalt, in dem es lebt, der Betreuung bedarf und nicht ohne [X.]ilfeleistungen anderer Personen auskommt (vgl. [X.]-Urteil in [X.]E 207, 250, [X.], 1052, unter 2.c). Dabei macht es keinen Unterschied, ob das behinderte Kind in dem [X.]aushalt der Eltern lebt oder es --wie es nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des [X.] vorliegend zeitweise der Fall [X.] in einer eigenen Wohnung lebt und dort versorgt, betreut und unterstützt wird.

Der [X.] hat ebenfalls klargestellt, dass dieser zusätzliche behinderungsbedingte [X.]ehrbedarf nicht nur dann zu berücksichtigen ist, wenn die dafür angefallenen Kosten nachgewiesen werden, sondern dass dieser ggf. nach § 162 der Abgabenordnung zu schätzen ist (vgl. [X.]-Urteil in [X.]E 207, 250, [X.], 1052).

cc) [X.] ist bei einem GdB von 100 zusätzlich das [X.]erkzeichen "[X.]" zuerkannt. Letzteres ist im Schwerbehindertenausweis einzutragen, wenn der schwerbehinderte [X.]ensch hilflos i.S. des § 33b [X.] oder entsprechender Vorschriften ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 der auf Grund von § 70 des [X.] ergangenen Schwerbehindertenausweisverordnung - Urteil des [X.] vom 12. Februar 2003 [X.] SB 1/02 R, [X.]/NV 2004, Beilage 2, 189, mit weiteren Ausführungen zum Ausmaß des [X.]ilfebedarfs). Dies setzt voraus, dass die Person für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder [X.]ilfe dauernd bedarf (§ 33b Abs. 6 Satz 3 [X.]). Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die [X.]ilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die [X.]ilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur [X.]ilfeleistung erforderlich ist (§ 33b Abs. 6 Satz 4 [X.]).

Nach den Feststellungen des [X.] wurde [X.] im Streitzeitraum von der Klägerin und [X.] versorgt, betreut und unterstützt. Aus diesen --nicht angegriffenen-- Feststellungen ergibt sich zugleich, dass der [X.] infolge seiner Behinderung zusätzlich zu seiner teilstationären Unterbringung entstehende [X.]ehrbedarf vernünftigerweise nicht unter 50 € im [X.]onat liegen kann. Dann aber reichen seine [X.]ittel nicht aus, um seinen gesamten Lebensbedarf zu decken, und das [X.] hat die Familienkasse letztendlich zu Recht zur Festsetzung von Kindergeld für den Streitzeitraum verpflichtet.

Meta

III R 53/10

09.02.2012

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 6. Mai 2009, Az: 15 K 446/08, Urteil

§ 32 Abs 4 S 1 Nr 3 EStG 2002, § 33b Abs 3 EStG 2002, § 33b Abs 6 S 3 EStG 2002, § 33b Abs 6 S 4 EStG 2002, § 2 Abs 6 SvEV

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 09.02.2012, Az. III R 53/10 (REWIS RS 2012, 9327)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 9327

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