Bundesfinanzhof, Beschluss vom 20.07.2022, Az. IX B 9/21

9. Senat | REWIS RS 2022, 3949

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Gegenstand

Nichtzulassungsbeschwerde: Greifbare Gesetzwidrigkeit; Verfahrensfehler


Leitsatz

1. NV: Greifbare Gesetzwidrigkeit ist anzunehmen, wenn das Urteil jeglicher gesetzlichen Grundlage entbehrt oder auf einer offensichtlich Wortlaut und Gesetzeszweck widersprechenden Gesetzesauslegung beruht.

2. NV: Das FG kann auf eine beantragte Beweiserhebung im Regelfall nur verzichten, wenn das Beweismittel für die zu treffende Entscheidung unerheblich ist, die in Frage stehende Tatsache zugunsten des Beweisführenden als wahr unterstellt werden kann oder das Beweismittel unerreichbar, unzulässig oder untauglich ist.

3. NV: Der Anspruch auf rechtliches Gehör i.S. von Art. 103 Abs. 1 GG, § 96 Abs. 2 und § 119 Nr. 3 FGO verpflichtet das Gericht u.a., die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen, in Erwägung zu ziehen und sich mit dem entscheidungserheblichen Kern des Vorbringens auseinanderzusetzen. Dabei ist das Gericht naturgemäß nicht verpflichtet, der tatsächlichen Würdigung oder der Rechtsansicht eines Beteiligten zu folgen.

Tenor

Die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des [X.] vom 07.12.2020 - 9 K 1011/19 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen hat der Kläger zu tragen.

Gründe

1

Die Beschwerde hat keinen Erfolg.

2

Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision gemäß § 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) sind nicht gegeben. Die Revision ist weder wegen einer willkürlichen oder greifbar gesetzwidrigen Entscheidung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2  2. Alternative [X.]O, dazu unter 1.) noch aufgrund der vom Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) gerügten Verfahrensmängel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O, dazu unter 2. und 3.) zuzulassen.

3

1. Die Revision ist nicht nach § 115 Abs. 2 Nr. 2  2. Alternative [X.]O wegen einer willkürlichen oder greifbar gesetzwidrigen Entscheidung des Finanzgerichts ([X.]) zuzulassen.

4

a) Nach § 115 Abs. 2 Nr. 2  2. Alternative [X.]O ist die Revision zuzulassen, wenn ein Rechtsfehler des [X.] zu einer willkürlichen oder greifbar gesetzwidrigen Entscheidung geführt hat. Die Entscheidung des [X.] muss dabei in einem solchen Maße fehlerhaft sein, dass das Vertrauen in die Rechtsprechung nur durch eine höchstrichterliche Korrektur der finanzgerichtlichen Entscheidung wiederhergestellt werden könnte. [X.] ist anzunehmen, wenn das Urteil jeglicher gesetzlichen Grundlage entbehrt oder auf einer offensichtlich Wortlaut und Gesetzeszweck widersprechenden Gesetzesauslegung beruht. Eine Entscheidung ist dann (objektiv) willkürlich, wenn die fehlerhafte Rechtsanwendung bei verständiger Würdigung nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht. Von Willkür kann dagegen nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandergesetzt hat und seine Auffassung nicht jedes sachlichen Grundes entbehrt (ständige Rechtsprechung des [X.] --BFH--, z.B. Senatsbeschluss vom 03.08.2017 - IX B 54/17, [X.], 1449, Rz 4, m.w.N.). Unterhalb dieser Schwelle liegende (auch erhebliche) Rechtsfehler reichen dagegen nicht aus, um eine greifbare Gesetzwidrigkeit bzw. eine Willkürlichkeit der angefochtenen Entscheidung anzunehmen. Fehler in der Anwendung des materiellen Rechts im konkreten Einzelfall rechtfertigen für sich genommen nicht die Zulassung der Revision (vgl. Senatsbeschluss in [X.], 1449, Rz 4; Gräber/Ratschow, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 115 Rz 220 f., m.w.N.).

5

b) Im Streitfall liegt kein zu einer greifbaren Gesetzwidrigkeit bzw. Willkürlichkeit der Entscheidung führender Rechtsfehler vor. Das [X.] hat sich mit der Sach- und Rechtslage eingehend befasst und sein Ergebnis nachvollziehbar begründet, wonach die Zahlungen an den Beigeladenen in Höhe von insgesamt … € nicht den laufenden steuerbaren Einkünften des [X.] zuzurechnen sind. [X.] hat das [X.] sein Ergebnis anhand der vorliegenden Unterlagen, mittels der Auslegung der einschlägigen Regelungen des Gesellschaftsvertrags, anhand des Vorbringens der Beteiligten sowie der Würdigung der Zeugenaussage in der mündlichen Verhandlung vom 22.10.2020. Das (zumindest teilweise) Einordnen der Auszahlung in Höhe von … € als steuerbare laufende Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung hat das [X.] abgelehnt. Der Kläger benennt hierzu keine steuerliche Norm, gegen die das [X.] greifbar verstoßen habe. Die vom [X.] vertretene Zuordnung der Zahlung zum nicht steuerbaren Veräußerungsgewinn und damit nicht als steuerbare Einkünfte des [X.] ist schlüssig begründet und rechtlich nachvollziehbar. Das von ihm gefundene Ergebnis ist vertretbar und damit weder willkürlich, von sachfremden Erwägungen geprägt oder greifbar gesetzwidrig.

6

2. Die vom Kläger gerügten Verfahrensmängel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O) liegen nicht vor.

7

a) Der gerügte Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 Satz 1 [X.]O) ist nicht gegeben.

8

Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 [X.]O ist das [X.] verpflichtet, von Amts wegen den Sachverhalt zu erforschen und ihn unter [X.] ernstlich in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen. Diese Pflicht beinhaltet zwar nicht, jeder fernliegenden Erwägung nachgehen zu müssen. Wohl aber muss das [X.] die sich im Einzelfall aufdrängenden Überlegungen auch ohne entsprechenden Hinweis der Beteiligten anstellen und entsprechende Aufklärungsmaßnahmen treffen. Das [X.] ist allerdings an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§ 76 Abs. 1 Satz 5 [X.]O).

9

Die in § 76 Abs. 1 Satz 5 [X.]O erwähnte fehlende Bindung des [X.] an Beweisanträge der Beteiligten bedeutet jedoch nicht, dass das [X.] frei entscheiden kann, ob es beantragte Beweise erhebt oder nicht. Denn das [X.] kann auf eine beantragte Beweiserhebung im Regelfall nur verzichten, wenn das Beweismittel für die zu treffende Entscheidung unerheblich ist, die in Frage stehende Tatsache zugunsten des Beweisführenden als wahr unterstellt werden kann oder das Beweismittel unerreichbar, unzulässig oder untauglich ist (vgl. [X.] vom 16.12.2016 - X B 41/16, [X.], 310, Rz 16; Gräber/[X.], a.a.[X.], § 76 Rz 31, m.w.N.).

b) Daran gemessen liegt in der unterlassenen Vernehmung der Zeugin … zum Stand des [X.] des Beigeladenen kein [X.]. Die Höhe des [X.] war für das [X.] im Rahmen seiner Würdigung nicht entscheidungserheblich. Für die im erstinstanzlichen Verfahren streitige Frage, ob es sich bei dem streitigen Geldbetrag um steuerbare Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung des [X.], um die Auszahlung bereits versteuerter Rücklagen aus früheren Feststellungszeiträumen oder um die Abfindungszahlung in der Folge des Ausscheidens der Gesellschaft handelte, gibt der Stand des [X.] keine Auskunft.

Weitere Sachaufklärungsmängel liegen nicht vor. Vielmehr hat sich das [X.] in den beiden Terminen zur mündlichen Verhandlung u.a. durch Vernehmung des [X.] um umfassende Aufklärung des Sachverhalts bemüht. Die Zeugenaussage hat es in der angefochtenen Entscheidung ebenso wie die streitigen Regelungen des Gesellschaftsvertrags umfassend gewürdigt. Soweit der Kläger vorbringt, das [X.] habe die das Kapitalkonto des Beigeladenen übersteigende Zahlung fehlerhaft als (nicht steuerbaren) Veräußerungsgewinn und nicht als festzustellende (steuerbare) laufende Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung gewürdigt, wendet sich der Kläger gegen die rechtliche Würdigung des Sachverhalts durch das [X.]. Damit kann die Zulassung der Revision wegen eines Verfahrensfehlers nicht erreicht werden.

3. Der vom Kläger gerügte Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O) in Gestalt einer Gehörsverletzung durch eine Überraschungsentscheidung liegt ebenso wenig vor.

a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör i.S. von Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), § 96 Abs. 2 und § 119 Nr. 3 [X.]O verpflichtet das Gericht u.a., die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen, in Erwägung zu ziehen und sich mit [X.] des Vorbringens auseinanderzusetzen. Dabei ist das Gericht naturgemäß nicht verpflichtet, der tatsächlichen Würdigung oder der Rechtsansicht eines Beteiligten zu folgen (vgl. Beschluss des [X.] vom 11.06.2008 - 2 BvR 2062/07, [X.], 1056; [X.] vom 11.05.2011 - V B 113/10, [X.], 1523, Rz 6). Art. 103 Abs. 1 GG und § 96 Abs. 2 [X.]O sind erst dann verletzt, wenn sich aus den besonderen Umständen des Einzelfalls ergibt, dass das Gericht Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung gezogen hat (vgl. u.a. Senatsbeschlüsse vom 10.09.2014 - IX S 10/14, [X.], 47, Rz 2, und vom 23.03.2016 - IX B 22/16, [X.], 1013, Rz 7).

Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst das Recht der Verfahrensbeteiligten, sich vor Erlass einer Entscheidung zu den entscheidungserheblichen Tatsachen und --gegebenenfalls-- Beweisergebnissen zu äußern, sowie in rechtlicher Hinsicht alles vorzutragen, was sie für wesentlich halten. Darüber hinaus gebietet es der Anspruch auf rechtliches Gehör, für die Prozessbeteiligten überraschende Entscheidungen zu unterlassen. Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das [X.] sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten oder nicht bekannten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger [X.] selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Auffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn ein entscheidungserheblicher Umstand vom [X.] erst mit dem Endurteil in das Verfahren eingebracht wird (z.B. Senatsbeschluss vom 23.02.2017 - IX B 2/17, [X.], 746, Rz 15).

b) Der Kläger kann sich nicht mit Erfolg auf eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör berufen.

Im Streitfall bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass das [X.] Vorbringen des [X.] nicht zur Kenntnis genommen oder bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung gezogen hat. Das [X.] hat sich sowohl in den beiden Terminen zur mündlichen Verhandlung als auch in der angefochtenen Entscheidung umfangreich mit dem Vorbringen des [X.] befasst. Es hat in beiden Terminen das [X.] mit den Beteiligten gesucht und sich mit den vorgebrachten Gesichtspunkten zur Einordnung der streitigen Zahlung ausführlich auseinandergesetzt.

Eine Überraschungsentscheidung liegt ebenso wenig vor. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass das [X.] nicht verpflichtet ist, den Beteiligten die einzelnen für seine Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte im Voraus anzudeuten (BFH-Urteil vom 24.04.1990 - VIII R 170/83, [X.], 256, [X.] 1990, 539, unter 1.). Ebenso wenig muss es einen Hinweis auf seine Rechtsauffassung geben ([X.] vom 09.11.2011 - II B 105/10, [X.], 254, Rz 13).

Selbst wenn der Kläger etwaige Äußerungen des erkennenden Senats des [X.] in der mündlichen Verhandlung als Hinweis auf einen möglicherweise positiven Prozessausgang verstehen konnte, führt das Unterlassen weiteren Vorbringens nicht zu einem Gehörsverstoß. Da das Gericht grundsätzlich weder zu einem [X.] noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet ist, muss ein --zumal durch einen Rechtsanwalt und Steuerberater sachkundig vertretener-- Verfahrensbeteiligter, auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einstellen (BVerfG-Beschluss vom 19.05.1992 - 1 BvR 986/91, [X.] 86, 133, unter [X.]; Gräber/Ratschow, a.a.[X.], § 119 Rz 15, m.w.N.).

4. Von einer weiter gehenden Begründung wird gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 [X.]O abgesehen.

5. [X.] beruht auf § 135 Abs. 2, § 139 Abs. 4 [X.]O. Die Beigeladenen haben Anträge gestellt und es sind ihnen Kosten entstanden. Es entspricht daher der Billigkeit, den Beigeladenen Kostenerstattung zuzubilligen (vgl. Gräber/Ratschow, a.a.[X.], § 139 Rz 157).

Meta

IX B 9/21

20.07.2022

Bundesfinanzhof 9. Senat

Beschluss

vorgehend Hessisches Finanzgericht, 7. Dezember 2020, Az: 9 K 1011/19, Urteil

§ 76 Abs 1 S 1 FGO, § 76 Abs 1 S 5 FGO, § 96 Abs 2 FGO, § 115 Abs 2 Nr 2 Alt 2 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 119 Nr 3 FGO, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 20.07.2022, Az. IX B 9/21 (REWIS RS 2022, 3949)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 3949

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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