Bundesfinanzhof, Urteil vom 22.12.2011, Az. III R 70/09

3. Senat | REWIS RS 2011, 84

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Gegenstand

Pflegekindschaftsverhältnis und Haushaltsaufnahme; zeitlicher Prüfungsumfang in Kindergeldsachen


Leitsatz

1. NV: Eine Haushaltsaufnahme und ein Pflegekindschaftsverhältnis i.S. von § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG liegen nicht vor, wenn nicht die Pflegeperson das Pflegekind, sondern umgekehrt letzteres die Pflegeperson in seinen Haushalt aufgenommen hat.    

2. NV: Eine gegen einen Kindergeld-Ablehnungsbescheid gerichtete Klage ist unzulässig, soweit sie die Zeit nach dem Monat der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung betrifft.

Tatbestand

1

I. Der Kläger, Revisionskläger und Revisionsbeklagte (Kläger) lebt gemeinsam mit der am … 1968 geborenen [X.] sowie mit deren am … 1977 geborenen [X.] in einem [X.]aus, das [X.] und [X.] im Juli 2004 gemietet hatten. [X.] ist blind und zu 100 % behindert, [X.] zu 70 %. Seit Januar 2008 sind der Kläger und [X.] verheiratet.

2

Im September 2005 beantragte der Kläger die [X.]ewährung von Kindergeld für [X.] und [X.], da die beiden seine Pflegekinder seien. Die Beklagte, Revisionsbeklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte den [X.] durch Bescheid vom 10. Januar 2006 ab, da kein Pflegekindschaftsverhältnis vorliege.

3

Der Einspruch des [X.] hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 12. Juni 2006). Das Finanzgericht (F[X.]) gab der Klage teilweise statt (Entscheidungen der Finanzgerichte 2010, 225). Es verpflichtete die Familienkasse, Kindergeld für [X.] für den Zeitraum September 2005 bis April 2006 und für [X.] für den Zeitraum September 2005 bis Juni 2006 zu zahlen, im Übrigen wies es die Klage ab.

4

Das F[X.] beurteilte die Klage als unzulässig, soweit sie den Zeitraum ab Juli 2006 betraf, da die Familienkasse insoweit keine Verwaltungsentscheidung getroffen habe und auch kein Vorverfahren stattgefunden habe.

5

Nach Ansicht des F[X.] war die Klage insoweit begründet, als der Kläger Kindergeld für [X.] für den Zeitraum September 2005 bis April 2006 und für [X.] für den Zeitraum September 2005 bis Juni 2006 begehrte. Der Kläger sei mit [X.] und [X.] durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden. Ein familienähnliches Band mit bereits volljährigen Kindern könne angenommen werden, wenn ein geistig oder seelisch behinderter Volljähriger in seinen Fähigkeiten derart eingeschränkt sei, dass er ohne Pflegekindschaftsverhältnis in einem [X.]eim leben müsste. Dies sei bei [X.] anzunehmen. Ab Mai 2006 scheide ein Pflegekindschaftsverhältnis zu [X.] allerdings aus, weil zwischen ihr und dem Kläger seit dem 1. Mai 2006 eine Partnerschaft bestanden habe, die später in eine Ehe übergegangen sei. Zu [X.] bestehe ebenfalls ein familienähnliches Band, da dieser aufgrund seiner Behinderung nicht in der Lage sei, sich selbst zu unterhalten.

6

Zur Begründung der von ihm eingelegten Revision trägt der Kläger vor, die Klage sei insoweit zulässig, als er Kindergeld für den Zeitraum ab Juli 2006 begehre. [X.]ierfür sprächen [X.]ründe der [X.]. Kindergeld sei auch insoweit zu zahlen, als das F[X.] einen Anspruch für [X.] ab Mai 2006 verneint habe. Es entspreche nicht dem Willen des [X.]esetzgebers, bei einer partnerschaftlichen Beziehung stets ein Pflegekindschaftsverhältnis zu verneinen.

7

Der Kläger beantragt sinngemäß, unter Abänderung des angefochtenen Urteils, des [X.] vom 10. Januar 2006 sowie der Einspruchsentscheidung vom 12. Juni 2006 die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld für [X.] und [X.] ab September 2005 bis Juni 2006 zu gewähren, sie außerdem zu verpflichten, über die [X.] für die Monate Juli 2006 bis September 2009 für [X.] und [X.] unter Beachtung der Rechtsauffassung des [X.]erichts erneut zu entscheiden und die Revision der Familienkasse zurückzuweisen.

8

Die Familienkasse beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil insoweit aufzuheben, als es den Anspruch auf Kindergeld für [X.] für den Zeitraum September 2005 bis April 2006 und für [X.] für den Zeitraum September 2005 bis Juni 2006 betrifft, und die Revision des [X.] zurückzuweisen.

9

Die Familienkasse trägt vor, zwischen dem Kläger sowie [X.] und [X.] bestehe kein familienähnliches Band. Ein solches wäre nur dann zu bejahen, wenn [X.] und [X.] in ihrer geistigen Entwicklung einem Kind gleichstünden. Dies sei bei beiden zu verneinen. [X.] und [X.] hätten rechtswirksam einen Mietvertrag über das [X.]aus abgeschlossen, das sie später gemeinsam mit dem Kläger bewohnt hätten. Auch die Entwicklung der Beziehung zwischen [X.] und dem Kläger spreche dafür, dass [X.] nicht geistig und seelisch so eingeschränkt gewesen sei, dass sie einem Kind gleichgestanden habe. Auch zwischen dem Kläger und [X.] bestehe kein familienähnliches Band. Mit einem [X.]rad der Behinderung von 70 % sei er nicht derart eingeschränkt, dass er in seiner Entwicklung einem Kind gleichstehe.

Entscheidungsgründe

II. Auf die Revision der Familienkasse wird das angefochtene Urteil insoweit aufgehoben, als es den Anspruch auf Kindergeld für [X.] für den [X.]raum September 2005 bis April 2006 und für [X.] für den [X.]raum September 2005 bis Juni 2006 betrifft. Insoweit wird die Klage abgewiesen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 F[X.]O). Die Revision des [X.] wird zurückgewiesen (§ 126 Abs. 2 F[X.]O).

1. Die Revision der Familienkasse hat Erfolg, da das F[X.] zu Unrecht der Ansicht war, der Kläger habe [X.] und [X.] als Pflegekinder in seinen [X.]aushalt aufgenommen.

a) Kindergeld wird nach §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (ESt[X.]) i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 2 ESt[X.] auch für Pflegekinder gewährt. Pflegekinder sind nach der gesetzlichen Definition des § 32 Abs. 1 Nr. 2 ESt[X.] Personen, mit denen der Steuerpflichtige durch ein familienähnliches, auf Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie nicht zu Erwerbszwecken in seinen [X.]aushalt aufgenommen hat und das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern nicht mehr besteht.

b) Das [X.]esetz verlangt die Aufnahme des Pflegekindes in den [X.]aushalt des Steuerpflichtigen oder Kindergeldberechtigten. Dieser muss in einer eigenen Wohnung ein weitgehend selbstbestimmtes Leben führen und sich persönlich und finanziell an der [X.]aushaltsführung beteiligen. Der Steuerpflichtige (Kindergeldberechtigte) muss Eigentum oder Besitz an der Wohnung haben ([X.] [X.], ESt[X.], [X.] 2011, § 32 Rz 31).

c) Diese Voraussetzungen sind im Streitfall nicht gegeben. Die Wohnung, in welcher der Kläger sowie [X.] und [X.] lebten, hatten letztere bereits durch den [X.] angemietet. Erst später, nach der Vermutung des F[X.] im September 2005, zog der Kläger in diese Wohnung ein. Der Kläger hat somit nicht [X.] und [X.] in seinen [X.]aushalt aufgenommen, vielmehr nahmen [X.] und [X.] den Kläger in ihren [X.]aushalt auf, den sie zuvor begründet hatten.

2. Die Revision des [X.] ist unbegründet.

a) Soweit der Kläger hinsichtlich eines [X.] für [X.] für die Monate Mai und Juni 2006 unterlegen ist, ergibt sich aus den vorstehenden Ausführungen, dass ihm insoweit kein Kindergeld für [X.] zusteht. Auf die Frage, ob eine "partnerschaftliche" Beziehung einem Pflegekindschaftsverhältnis entgegensteht, kommt es somit nicht an.

b) Zutreffend hat das F[X.] die Klage insoweit als unzulässig abgewiesen, als sie die [X.] nach dem Monat der Einspruchsentscheidung (Juni 2006) betrifft. Insoweit ist der Kläger nicht klagebefugt i.S. von § 40 Abs. 2 F[X.]O.

aa) Der angegriffene Ablehnungsbescheid vom 10. Januar 2006 und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 12. Juni 2006 enthalten keine das Kindergeld ab Juli 2006 ablehnende Regelung. Denn die Familienkasse kann im Falle eines zulässigen, in der Sache aber unbegründeten Einspruchs gegen einen Ablehnungs- oder Aufhebungsbescheid längstens eine Regelung des [X.] bis zu dem Ende des Monats der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung treffen (vgl. Senatsurteile vom 9. Juni 2011 III R 54/09, BF[X.]/NV 2011, 1858; vom 4. August 2011 III R 71/10, BF[X.]E 235, 203). Dieser zeitliche Regelungsumfang wird durch eine Klageerhebung nicht verändert. Insbesondere ist das gerichtliche Verfahren keine Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens. Im [X.]inblick auf die von der Verfassung vorgegebene [X.]ewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 des [X.]rundgesetzes) ist es die Aufgabe der [X.]erichte, das bisher [X.]eschehene bzw. das Unterlassen auf seine Rechtmäßigkeit zu überprüfen, nicht jedoch, grundsätzlich der Verwaltung zustehende Funktionen auszuüben.

bb) Etwas anderes lässt sich auch nicht aus [X.]ründen der Prozessökonomie vertreten.

Die vom [X.] (BS[X.]) für das sozialgerichtliche Verfahren abweichend vertretene Auffassung, wonach bei einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungs- (§ 54 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes --S[X.][X.]--) bzw. Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 S[X.][X.]) gegen einen Verwaltungsakt, durch den die [X.]ewährung laufender Zahlungen abgelehnt wird, auch über die nach der Widerspruchsentscheidung abgelaufenen [X.]räume zu entscheiden ist (vgl. BS[X.]-Urteil vom 11. Dezember 2007 B 8/9b [X.] 12/06 R, [X.] 4-3500 § 21 Nr. 1), ist auf das finanzgerichtliche Verfahren in [X.] nicht übertragbar. Das BS[X.] ging bei dieser Entscheidung davon aus, dass der im sozialgerichtlichen Verfahren angegriffene Bescheid die Leistung ohne zeitliche Begrenzung abgelehnt hat. Demgegenüber trifft ein Aufhebungs- oder Ablehnungsbescheid im Kindergeldrecht --auch wenn er keine ausdrückliche zeitliche Begrenzung enthält-- längstens eine Regelung des [X.] bis zum Monat der Bekanntgabe der letzten Verwaltungsentscheidung.

Im finanzgerichtlichen Verfahren kann der Anspruch auf Kindergeld grundsätzlich nur in dem zeitlichen Umfang in zulässiger Weise zum [X.]egenstand einer Inhaltskontrolle gemacht werden, in dem die Familienkasse den Kindergeldanspruch geregelt hat. [X.]ründe der Prozessökonomie oder der [X.] Fürsorge (s. BS[X.]-Urteil vom 28. April 1960  8 RV 1341/58, BS[X.]E 12, 127) rechtfertigen es nicht, eine Klage ohne das Vorliegen zwingender Sachurteilsvoraussetzungen als zulässig anzusehen (s. Urteile des [X.] vom 16. Januar 1986  5 [X.] 36/84, [X.] [X.] 1986, 406; vom 30. April 1992  5 [X.] 1/88, BayVBl 1992, 760).

cc) Soweit die [X.] vom 2. Juni 2005 III R 66/04 (BF[X.]E 210, 265, [X.], 184) sowie vom 30. Juni 2005 III R 80/03 (BF[X.]/NV 2006, 262) dahingehend verstanden werden könnten, dass die Finanzgerichte bei Klagen gegen [X.] die Anspruchsberechtigung bis zum Monat der finanzgerichtlichen Entscheidung zu prüfen haben, hält der Senat aufgrund der vorstehenden Erwägungen hieran nicht mehr fest.

Meta

III R 70/09

22.12.2011

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 11. September 2009, Az: 9 K 259/06, Urteil

§ 32 Abs 1 Nr 2 EStG 2002, § 62 Abs 1 EStG 2002, § 63 Abs 1 S 1 Nr 1 EStG 2002, § 40 Abs 2 FGO, Art 20 Abs 2 GG, § 54 SGG

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 22.12.2011, Az. III R 70/09 (REWIS RS 2011, 84)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 84

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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