Bundessozialgericht, Urteil vom 02.02.2010, Az. B 8 AY 1/08 R

8. Senat | REWIS RS 2010, 9829

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Gegenstand

(Asylbewerberleistung - Analog-Leistung nach § 2 AsylbLG - Vorbezugszeit - rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer - generell-abstrakte Betrachtungsweise - Unzumutbarkeit der Ausreise)


Tatbestand

1

[X.] (noch) höhere Leistungen nach dem [X.] ([X.]) für den Monat Dezember 2005. Die Kläger begehren insbesondere statt der Grundleistungen nach § 3 [X.] Leistungen nach § 2 [X.] (sogenannte [X.]) unter entsprechender Anwendung des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - ([X.]).

2

Der 1960 geborene Kläger zu 1 und die 1958 geborene Klägerin zu 2 sind Eheleute und besaßen die serbisch-montenegrenische Staatsangehörigkeit. Sie reisten im Jahr 1991 in die [X.] ein und stellten einen Asylantrag und gaben an, [X.] Volkszugehörige zu sein. Der Asylantrag wurde bestandskräftig abgelehnt. 1999 stellten sie erfolglos einen [X.] und gaben auch hier an, [X.] Volkszugehörige zu sein. Seit dem [X.] machten sie geltend, der Volksgruppe der [X.] anzugehören. Seit 1997 sind die Kläger im Besitz einer Duldung. Am [X.] wurde ihnen eine bis [X.] befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt. Seit 17.10.2007 sind sie im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104a [X.] ([X.]).

3

Die Kläger bezogen nach ihrer Einreise Leistungen nach dem [X.], zunächst Grundleistungen nach § 3 [X.] und seit dem [X.] [X.] unter entsprechender Anwendung des Bundessozialhilfegesetzes bzw seit dem 1.1.2005 des [X.]. Die [X.] erfolgten in monatlichen Abständen. Für den Monat "12/05" bewilligte der Beklagte (nur noch) Grundleistung nach § 3 [X.], weil die Kläger die Dauer ihres Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hätten, indem sie im Asylverfahren und in der Folgezeit angegeben hätten, der Volksgruppe der [X.] anzugehören und die [X.] Staatsangehörigkeit zu besitzen, während sie (erstmals) in ihrem Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis im Jahre 2000 angegeben hätten, nicht zur Volksgruppe der [X.] zu gehören, sondern [X.] zu sein. Sie erfüllten nicht die Voraussetzungen nach § 2 Abs 1 [X.]; es seien deshalb nur Grundleistungen nach § 3 [X.] gerechtfertigt (Bescheid vom 30.11.2005; Widerspruchsbescheid vom 12.12.2005) .

4

Während die Klage ohne Erfolg geblieben ist (Urteil des Sozialgerichts <[X.]> Oldenburg vom 6.11.2006), hat das [X.] ([X.]) [X.] das Urteil des [X.] aufgehoben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 30.11.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.12.2005 verurteilt, "den Klägern im Zeitraum vom 1. Dezember 2005 bis zum 16. Oktober 2007 Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 [X.] unter Anrechnung bereits erbrachter Leistungen zu gewähren" (Urteil vom 18.12.2007) . Zur Begründung seiner Entscheidung hat das [X.] ausgeführt, die Kläger erfüllten (weiterhin) die Voraussetzungen für [X.] ab Dezember 2005. Ihnen könne nicht der rechtsvernichtende Einwand des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens vorgehalten werden. [X.] sei es, wenn Ausländer nicht freiwillig ausreisten, obwohl ihnen die Ausreise möglich und zumutbar sei. Den Klägern sei eine Rückkehr in ihr Heimatland auf Grund ihrer fortgeschrittenen Integration in die [X.], die durch die mit Wirkung vom 17.10.2007 erteilte Aufenthaltserlaubnis nach § 104a [X.] dokumentiert werde, unzumutbar. Die unzutreffende Angabe der Ethnie wirke sich leistungsrechtlich nicht mehr aus. Der Vorwurf des Beklagten, die Kläger hätten in der Vergangenheit nicht hinreichend an der Beschaffung von Pässen bzw von Passersatzpapieren mitgewirkt, führe zu keinem anderen Ergebnis, weil deren Vortrag, sie hätten sich seit Jahren um Pässe bemüht, nicht zu widerlegen sei. Verbleibende Zweifel und die Nichterweislichkeit des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens gingen zu Lasten des Beklagten.

5

Mit der Revision rügt der Beklagte neben ungenügender Sachaufklärung durch das [X.] und falscher bzw unvollständiger Darstellung des Sachverhalts im Berufungsurteil eine Verletzung des § 2 Abs 1 [X.]. Die Auffassung, das rechtsmissbräuchliche Verhalten müsse im streitigen Leistungszeitraum fortwirken, finde keine Stütze im Gesetz. Es komme darauf an, ob den Klägern während ihrer gesamten Aufenthaltsdauer eine Ausreise (irgendwann) tatsächlich und rechtlich möglich und zumutbar gewesen sei. Gleiches gelte für die Frage der rechtsmissbräuchlichen Verlängerung der Aufenthaltsdauer durch die fehlende Mitwirkung bei der gesetzlich vorgesehenen Passbeschaffung und die Täuschung über die Volkszugehörigkeit. Dabei sei eine abstrakte Betrachtungsweise maßgebend, sodass bereits ein generell zur rechtsmissbräuchlichen Verlängerung des Aufenthalts geeignetes Verhalten zum Ausschluss von [X.] führe.

6

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des [X.] aufzuheben, soweit darin über höhere Leistungen für den Monat Dezember 2005 entschieden wurde, und die Berufungen der Kläger gegen das Urteil des [X.] insoweit zurückzuweisen.

7

Die Kläger beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

8

Sie halten die Entscheidung des [X.] für zutreffend.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision des [X.]n ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das [X.] begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ) . Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellung des [X.] (§ 163 SGG) kann der [X.] nicht entscheiden, ob die Kläger für den Monat Dezember 2005 höhere Leistungen nach dem [X.] beanspruchen können. Insbesondere bedarf es weiterer Feststellungen zur rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer.

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 30.11.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.12.2005 (§ 95 SGG), mit dem der [X.] Leistungen für den Monat Dezember 2005 bewilligt hat. Ob der Bescheid daneben als hoheitliche Vorabentscheidung über laufende Leistungen ab Dezember 2005 verstanden werden kann (vgl dazu [X.]surteil vom [X.] AY 13/07 R -, Rd[X.]0 f) , bedarf keiner Entscheidung, nachdem die Beteiligten über den [X.]raum vom 1.1.2006 bis 16.10.2007 einen Vergleich geschlossen haben. Gegen den Bescheid wehren sich die Kläger mit kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklagen nach § 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4, § 56 SGG, weil der [X.] in der [X.] vor Dezember 2005 Leistungen zeitabschnittsweise für den jeweiligen Kalendermonat bewilligt, also mit dem Bescheid vom 30.11.2005 keinen vorangegangenen ([X.] mit der Folge abgeändert hat, dass es dann keiner Leistungsklage bedürfte. In der Sache handelt es sich um eine Klage auf höhere Leistungen, selbst wenn kein typischer Höhenstreit vorliegt, weil [X.] regelmäßig in Form von Geldleistungen in entsprechender Anwendung des [X.] erbracht werden und Leistungen nach §§ 3 ff [X.] grundsätzlich als Sachleistungen vorgesehen sind ([X.], 49 ff Rd[X.]4 = [X.]-3520 § 2 [X.]) .

Ob - wie das [X.] entschieden hat - die Kläger einen Anspruch auf höhere Leistungen nach dem [X.] gegen den [X.]n als sachlich und örtlich zuständigen Leistungsträger (§ 2 Abs 1 Satz 1 des [X.] und zur Durchführung des [X.] vom 11.3.2004, [X.]) , insbesondere nach § 2 Abs 1 [X.] iVm dem [X.], haben, kann der [X.] nicht abschließend entscheiden, weil das [X.] - ausgehend von seiner Rechtsansicht zu § 2 [X.], die vom [X.] nicht geteilt wird - keine ausreichenden Feststellungen zu den erforderlichen Voraussetzungen des § 2 Abs 1 [X.] (hier in der Fassung, die die Norm durch das Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern vom 30.7.2004 - BGBl I 1950 - erhalten hat) getroffen hat. Danach ist abweichend von den §§ 3 bis 7 [X.] das [X.] auf diejenigen Leistungsberechtigten (des § 1 [X.]) entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten Leistungen nach § 3 [X.] erhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.

Die Kläger gehörten zwar im Dezember 2005 zum Kreis der Leistungsberechtigten nach § 1 Abs 1 [X.] [X.], hielten sich als Ausländer tatsächlich im [X.] auf und waren in diesem [X.]raum im Besitz einer Duldung nach § 60 [X.]; sie haben vor dem streitigen [X.]raum auch zumindest 36 Monate Leistungen nach § 3 [X.] bezogen. Ob sie allerdings ihre Aufenthaltsdauer in der [X.] selbst rechtsmissbräuchlich beeinflusst haben, kann nicht beurteilt werden. Entgegen der Entscheidung des [X.], das der (früheren) Rechtsprechung des 9b-[X.]s des [X.]([X.], 116 = [X.]-3520 § 2 [X.]) gefolgt ist, handelt ein Leistungsempfänger nämlich nicht schon dann rechtsmissbräuchlich, wenn er trotz des auf Grund der Duldung bestehenden Abschiebeverbots nicht freiwillig ausreist und hierfür kein anerkennenswerter Grund vorliegt. Diese Rechtsprechung hat der [X.] in seinem Urteil vom [X.]/9b [X.]([X.], 49 ff = [X.]-3520 § 2 [X.]) aufgegeben und ein über das bloße Verbleiben und Stellen eines Asyl- bzw Asylfolgeantrags hinausgehendes vorsätzliches Verhalten gefordert. Ein sich hieraus ergebender Missbrauchsvorwurf kann dabei allerdings nicht durch eine zwischenzeitliche Integration, wie vom [X.] angenommen, ausgeräumt werden. Ob das vorwerfbare Verhalten die Aufenthaltsdauer beeinflusst hat, ist vielmehr unter Berücksichtigung der gesamten [X.] zu beurteilen, die nach dem maßgeblichen Fehlverhalten verstrichen ist. Eine Beeinflussung der Aufenthaltsdauer liegt nach der Rechtsprechung des [X.]s dabei schon dann vor, wenn bei generell abstrakter Betrachtungsweise das rechtsmissbräuchliche Verhalten typischerweise die Aufenthaltsdauer verlängern kann, es sei denn, eine etwaige Ausreisepflicht des betroffenen Ausländers hätte unabhängig von seinem Verhalten ohnehin in dem gesamten [X.]raum ab dem [X.]punkt des Rechtsmissbrauchs nicht vollzogen werden können.

Ob ein auf die [X.] zielendes vorsätzliches sozialwidriges Verhalten bei den Klägern vorliegt, vermag der [X.] nicht zu beurteilen. Nach den Feststellungen des [X.] und nach Aktenlage kann dies hier wegen eventuell fehlerhafter Angaben der Kläger zu 1 und 2, [X.] Volkszugehörige bzw [X.] zu sein, der Fall sein. Es fehlen allerdings Feststellungen, ob die Kläger [X.]r Volkszugehörigkeit oder der Volksgruppe der [X.] zugehörig sind und insbesondere, ob insoweit überhaupt vorsätzlich falsche Angaben gemacht wurden, die auf die [X.] zielten. Es ist schon nicht eindeutig, ob sich die Angaben gegenseitig zwingend ausschließen müssen. Denn "Volkszugehörigkeit" und "Staatsangehörigkeit" sind zwei rechtlich zu unterscheidende Begriffe. Ebenso wenig kann den Feststellungen des [X.] entnommen werden, ob die Ausreisepflicht ab dem [X.]punkt eines etwaigen Rechtsmissbrauchs nicht hätte vollzogen werden können oder etwa die Erlasslage des zuständigen Innenministeriums eine Abschiebung ohnehin nicht zugelassen hätte und es deshalb an der erforderlichen kausalen Verknüpfung zwischen dem Verhalten der Kläger und der Beeinflussung der Aufenthaltsdauer fehlen würde ([X.], 49 ff Rd[X.]4 = [X.]-3520 § 2 [X.]). Ob die von dem [X.]n erhobenen Verfahrensrügen beachtlich sind, bedarf wegen der ohnedies erforderlichen Zurückverweisung der Sache an das [X.] keiner Entscheidung.

Das [X.] wird ggf die erbrachten Leistungen mit den geforderten [X.] vergleichen (siehe BSG [X.]-3520 § 9 [X.] Rd[X.]6) und auch über die Kosten des Revisionsverfahrens entscheiden müssen.

Meta

B 8 AY 1/08 R

02.02.2010

Bundessozialgericht 8. Senat

Urteil

Sachgebiet: AY

vorgehend SG Oldenburg (Oldenburg), 6. November 2006, Az: S 21 AY 1/06, Urteil

§ 1 Abs 1 Nr 4 AsylbLG vom 30.07.2004, § 2 Abs 1 AsylbLG vom 30.07.2004, § 3 AsylbLG vom 25.11.2003, § 25 Abs 4 AufenthG 2004 vom 30.07.2004, § 60a AufenthG 2004 vom 30.07.2004

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 02.02.2010, Az. B 8 AY 1/08 R (REWIS RS 2010, 9829)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 9829

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