Bundesgerichtshof, Beschluss vom 02.03.2017, Az. IX ZB 70/16

9. Zivilsenat | REWIS RS 2017, 14796

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Gegenstand

Insolvenzeröffnungsverfahren: Internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte


Leitsatz

Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte ist für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens gegen einen unselbständig tätigen Schuldner regelmäßig begründet, dessen gewöhnlicher Aufenthalt sich zum Zeitpunkt der Antragstellung im Inland befindet.

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 4. Zivilkammer des [X.] vom 27. Juli 2016 wird auf Kosten des Schuldners zurückgewiesen.

Der Wert des [X.] wird auf 5.000 € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Der Antragsteller (weiterer Beteiligter zu 2) ist Verwalter in dem am 1. August 2014 über das Vermögen der [X.] (nachfolgend: Schuldnerin) eröffneten Insolvenzverfahren. Gegen den Schuldner als Geschäftsführer und Alleingesellschafter der Schuldnerin hat er unter Berufung auf - auch aus § 64 GmbHG hergeleitete - Forderungen von rund 2 Mio. € am 19. Januar 2015 die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragt. Außerdem ist der Schuldner Alleingesellschafter und Geschäftsführer weiterer zu dem Modehandelskonzern [X.]  in M.        gehörender Gesellschaften, über deren Vermögen im Juli und August 2014 ebenfalls Insolvenzverfahren eröffnet wurden. Der Schuldner, der nunmehr als Arbeitnehmer in dem in [X.] ansässigen Unternehmen seiner - getrennt lebenden - Ehefrau gegen eine unterhalb der Pfändungsfreigrenze liegende Vergütung tätig ist, beanstandet die Zuständigkeit der inländischen Gerichte, weil er am 4. August 2014 seinen Wohnsitz von [X.] nach [X.]/[X.] verlegt habe.

2

Das Insolvenzgericht hat das Verfahren antragsgemäß eröffnet und den weiteren Beteiligten zu 1 zum Insolvenzverwalter bestellt. Die dagegen eingelegte sofortige Beschwerde hat das [X.] zurückgewiesen. Mit der von dem Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt der Schuldner sein Begehren, den Eröffnungsantrag abzulehnen, weiter.

II.

3

Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO, §§ 4, 6 Abs. 1, § 34 Abs. 2 [X.] statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde bleibt in der Sache ohne Erfolg.

4

1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt:

5

Die internationale Zuständigkeit der [X.] Gerichte sei gemäß Art. 3 EuInsVO gegeben. Zur Feststellung des [X.] der hauptsächlichen Interessen des Schuldners sei auf die Kriterien der Arbeit, der Familie sowie der [X.] und der kulturellen Integration abzustellen. Danach komme es nicht allein auf die Begründung eines Wohnsitzes durch den Abschluss eines Mietvertrages sowie die Ummeldung eines Fahrzeugs nach [X.] an. Vielmehr falle besonders ins Gewicht, dass der Schuldner nach wie vor in [X.] als Angestellter im Unternehmen seiner Frau tätig sei. Neben dem Schwerpunkt seiner Beschäftigung deuteten auch die familiären Verhältnisse des Schuldners nach [X.], wo seine Ehefrau und der gemeinsame [X.] in einem Haus lebten, an welchem dem Schuldner ein dingliches Wohnrecht zustehe. Die noch bestehende Ehe und der in [X.] gelegene Lebensmittelpunkt der Ehefrau bilde ein Kriterium für einen Lebensmittelpunkt des Schuldners in [X.], auch wenn der Insolvenzantrag in den zeitlichen Rahmen einer frühen Trennungsphase gefallen sei. Der Umstand, dass der Schuldner jeden Abend nach [X.] fahre, um dort zu nächtigen, begründe keinen dortigen Lebensmittelpunkt.

6

Im Übrigen sei eine tatsächliche Verlegung des [X.] nach [X.] unbeachtlich, weil sie rechtsmissbräuchlich erfolgt sei. Der Wohnsitz des Schuldners sei mit Rücksicht auf die gegen ihn geltend gemachten Forderungen in Millionenhöhe zur Erwirkung eines kurzen Restschuldbefreiungsverfahrens gewechselt worden.

7

2. Diese Ausführungen halten bereits in der [X.] den Angriffen der Beschwerde stand. Der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners (Art. 3 Abs. 1 EuInsVO) war im maßgeblichen Zeitpunkt des gegen ihn gestellten [X.] ([X.], Beschluss vom 9. Februar 2006 - [X.] 418/02, [X.], 695) in [X.] gelegen.

8

a) Der in Art. 3 Abs. 1 Satz 1 EuInsVO verwendete Rechtsbegriff des Mittelpunktes der hauptsächlichen Interessen ([X.]) ist verordnungsautonom, das heißt in den Mitgliedsstaaten einheitlich und unabhängig von nationalen Rechtsvorschriften auszulegen.

9

aa) Seine Bedeutung erschließt sich aus der 13. Begründungserwägung der Verordnung, wo es heißt: "Als Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen sollte der Ort gelten, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und damit für Dritte feststellbar ist". Aus dieser Definition geht hervor, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen nach objektiven und zugleich für Dritte feststellbaren Kriterien zu bestimmen ist. Diese Objektivität und die Möglichkeit der Feststellung durch Dritte sind erforderlich, um Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit bei der Bestimmung des für die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens zuständigen Gerichts zu garantieren. Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit sind umso wichtiger, als die Bestimmung des zuständigen Gerichts nach Art. 4 Abs. 1 EuInsVO die des anwendbaren Rechts nach sich zieht ([X.], Beschluss vom 22. März 2007 - [X.] 164/06, [X.], 899 Rn. 14; vom 15. November 2010 - [X.] 6/10, [X.], 284 Rn. 11).

bb) Handelt es sich bei dem Schuldner um eine abhängig beschäftigte Person, kann für den Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen nach allgemeiner Rechtsansicht regelmäßig auf den gewöhnlichen Aufenthalt als tatsächlichen Lebensmittelpunkt abgestellt werden, wo der Schwerpunkt der wirtschaftlichen, [X.] und kulturellen Beziehungen liegt ([X.] 2012, 351 Rn. 58; [X.] Z[X.] 2007, 1358; [X.] NZI 2009, 133, 134; 2012, 379, 380; HK-[X.]/[X.], 8. Aufl., § 3 EuInsVO Rn. 7; MünchKomm-[X.]/[X.], 3. Aufl., Art. 3 EuInsVO Rn. 50; [X.]/[X.] in A/G/R, [X.], 3. Aufl., Art. 3 EuInsVO aF Rn. 23; [X.]/[X.], [X.], 19. Aufl., Art. 3 EuInsVO Rn. 8; HmbKomm-[X.]/[X.], 6. Aufl., Art. 3 EuInsVO Rn. 20; [X.]/Kolmann/[X.], Insolvenzrechts-Handbuch, 5. Aufl., § 131 Rn. 28; FK-[X.]/[X.]/[X.], 8. Aufl., Art. 3 EuInsVO Rn. 9; [X.]/[X.], [X.], 14. Aufl., Art. 3 EuInsVO Rn. 10; [X.] in [X.], [X.], 2010, Art. 3 EuInsVO Rn. 8; Pannen, EuInsVO, 2007, Art. 3 Rn. 19 ff, 25; Mankowski, [X.], 368, 369 f). Dabei ist die Intensität beruflicher und familiärer Bindungen von besonderer Bedeutung ([X.], Beschluss vom 3. Februar 1993 - [X.], NJW 1993, 2047, 2048; [X.] NZI 2012, 379, 380; MünchKomm-[X.]/[X.], aaO; [X.]/[X.] in A/G/R, aaO; HmbKomm-[X.]/[X.], aaO; [X.]/Kolmann/[X.], aaO). Ob besondere Umstände dazu führen können, den Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen abweichend von dem gewöhnlichen Aufenthalt zu bestimmen, kann vorliegend dahinstehen. Daher kann eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union unterbleiben.

b) Der durch die Aufnahme eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses und familiäre Bindungen geprägte gewöhnliche Aufenthalt des Schuldners verweist nach der [X.] Würdigung des [X.]s auf das Inland. Dies ergibt eine Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. [X.], Beschluss vom 20. Oktober 2011 - [X.]/09, [X.], 2153 Rn. 52 "Interedil").

aa) Bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts ist einmal zu berücksichtigen, dass der Schuldner bei einer in [X.] ansässigen Gesellschaft eine Tätigkeit als Arbeitnehmer übernommen hat, die er nicht etwa überwiegend faktisch in [X.] versieht. Wie ein zwischen dem Schuldner und einer Inkassogesellschaft geführtes Interview unterstreicht, ist dem Schuldner von seiner Arbeitgeberin auch der interne Geschäftsbereich des [X.] überantwortet. Zum anderen nimmt der Schuldner den familiären Kontakt zu seinem [X.] in [X.] wahr. Dabei handelt es sich nicht um die Situation eines Grenzgänger-Arbeitnehmers, der vom ausländischen Wohnsitz seiner Familie lediglich zu seinem inländischen Arbeitsplatz anreist. In einem solchen Fall liegt der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen eines Schuldners an dem Ort, wo er und seine Familie ansässig sind (MünchKomm-[X.]/[X.], 3. Aufl., Art. 3 EuInsVO Rn. 48; [X.]/[X.], aaO Art. 3 EuInsVO Rn. 9). Vorliegend bestehen die familiären Beziehungen des Schuldners hingegen ausschließlich an seinem Arbeitsort in [X.].

(2) Die danach festzustellenden hauptsächlichen erwerbswirtschaftlichen und familiären Bindungen des Schuldners nach [X.] werden nicht dadurch in Frage gestellt, dass er in [X.] eine Wohnung gemietet und dort seinen Wohnsitz angemeldet hat (vgl. [X.], Beschluss vom 13. Juni 2006 - [X.] 8/06, [X.] 2006, Nr. 265, 616, 618; vom 22. März 2007 - [X.] 164/06, [X.], 899 Rn. 14). In Anwendung des Art. 3 Abs. 1 EuInsVO genügt es, wenn die "hauptsächlichen", nicht notwendig alle Interessen des Schuldners auf das Inland verweisen ([X.], [X.], 159, 160). Der Wohnort wurde von dem Schuldner ersichtlich in unmittelbarer Grenznähe gewählt, um tatsächlich im nahe gelegenen [X.] seinen hauptsächlichen Interessen nachgehen zu können. Eine über den Kontakt zu Nachbarn hinausgehende [X.] Integration des Schuldners an seinem Wohnort, wo er keinen engeren privaten Umgang pflegt, hat nicht stattgefunden. Zudem verfügt der Schuldner in [X.] über ein dingliches Wohnrecht an einer Immobilie, das er nicht aufgegeben hat. Die dadurch eröffnete Rückkehroption spricht gegen eine dauerhaft gewollte Änderung des Mittelpunktes der hauptsächlichen Interessen (vgl. [X.]/[X.], [X.], 19. Aufl., Art. 3 EuInsVO, Rn. 19).

Kayser      

        

Gehrlein      

        

Lohmann

        

Grupp      

        

Schoppmeyer      

        

Meta

IX ZB 70/16

02.03.2017

Bundesgerichtshof 9. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Saarbrücken, 27. Juli 2016, Az: 4 T 39/15

Art 3 Abs 1 EGV 1346/2000

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 02.03.2017, Az. IX ZB 70/16 (REWIS RS 2017, 14796)

Papier­fundstellen: WM2017,628 REWIS RS 2017, 14796

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

IX ZB 77/17

IX ZB 70/16

1 AR 139/19

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